Montag, 11. Dezember, 17:09 Uhr
Als ich mich gegen den Wind über den Hof zu meinem Zimmer zurückkämpfte, schämte ich mich, als hätte ich diesem Mädchen gerade etwas Peinliches offenbart. Wie konnte ich nur glauben, dass sie etwas zu gewinnen hätte, wenn sie Tyler Brand öffentlich bloßstellte? Wahrscheinlich hatte sie Angst vor ihm und seiner Familie. Schließlich hatte ich schon vor ihnen Angst, und ich war eine Studentin und keine Barista.
In meinem Zimmer zog ich meine Jacke aus, schnappte mir den Computer und fiel ins Kaninchenloch von Erika Dipatris Accounts in den sozialen Netzwerken. Bei Instagram, Google und Facebook – bei Snapchat fand ich sie nicht – gab es Dutzende Fotos von ihr, die sie in Bikini am Strand oder mit trägerlosen Tops in der Disco zeigten. Oder beim Trinken von Shots. Da ich selbst einmal wegen meines Minirocks angegriffen worden war, hätte ich eigentlich erwartet, sie würde von Trollen in Stücke gerissen werden, aber als ich mir noch mal ihren Post anschaute, sah ich nur positive Kommentare. Vielleicht löschte sie ja die negativen. Unwillkürlich war ich neidisch auf den starken Support in ihrem Feed, aber dann schämte ich mich dafür.
Obwohl schon Stunden vergangen waren, hatte sie immer noch nicht auf die Nachricht reagiert, die ich ihr geschickt hatte.
Nachdem ich Erika Dipatris Internetpräsenz durchforstet hatte, suchte ich nach ‹Stasia› und fand sie trotz der falschen Schreibweise, weil ich Nicole folgte. Stayja hatte insgesamt nur drei Fotos gepostet, und das jüngste war zwei Jahre alt und zeigte einen Sonnenuntergang.
Ich blickte mich im Zimmer um, weil ich nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte. Draußen drohte ein schweres Unwetter, vor dem wir nonstop gewarnt wurden. Matty saß gerade in seiner Statistik-Prüfung. Überhaupt alle schienen wegen des Unwetters und der Prüfungen verschwunden zu sein; der Campus wirkte völlig verwaist, und die Stille lag drückend wie eine Decke auf mir.
Ich ging zum Bett, nahm mein Kopfkissen und vergrub mein Gesicht darin. Dann brüllte ich aus voller Kehle hinein.
Ich warf das Kissen wieder aufs Bett, ging zum Minikühlschrank, holte die Bierdose heraus, die schon ewig dort lagerte, und trank einen Schluck.
Wie gerne hätte ich etwas kaputt gemacht!
Vielleicht sollte ich trainieren gehen. Ins Fitnessstudio gehen und auf den Crosstrainer oder so steigen.
«Nein!», brüllte ich und erschreckte mich selbst damit. Nein! Ich hatte es satt, vernünftig zu sein, satt, mit allem gut umzugehen, reif und anständig zu sein, kooperativ, verständnisvoll, einsichtig und so verdammt still!
Ich schleuderte die fast volle Bierdose in meinen kleinen Papierkorb aus Metall. Sie schäumte und schwappte und erfüllte das Zimmer mit durchdringendem Männergeruch. Ich schnappte mir einen Block und einen Stift.
Ich hatte alles versucht: einfach weiterzumachen, zu akzeptieren, dass ich nicht einfach weitermachen konnte, meine Gefühle zu ergründen, andere zu retten. Nun, da ich all diese Stadien hinter mir gelassen hatte, entdeckte ich, dass dahinter nur noch ein einziges dringendes Bedürfnis wartete: Ich wollte Rache.
Ich wollte ihn so schwer treffen, dass er sich nie wieder davon erholen würde. Ich wollte ihn fürs Leben zeichnen.
Auf meinem Bett legte ich eine Liste an.
Zulassungsstellen kontaktieren, um seine Bewerbungen im nächsten Jahr zu vereiteln
für immer verhindern, dass er irgendwo angestellt wird, weil ich jeder seiner Bewerbungen zuvorkomme
es noch mal auf die Brücke schreiben
Das Erste war zu harmlos, das Zweite erforderte zu viel Mühe über einen zu langen Zeitraum, und das Dritte war zu leicht wieder ungesehen zu machen. Außerdem wäre das nur eine lahme Wiederholung.
Etwas verbrennen
Ja. Feuer war für die Ewigkeit. Aber was? Er hatte mir ja sogar gesagt, dass ihm Zeug eigentlich egal war – wie hatte er es noch ausgedrückt? Nichts ist unersetzlich. Ich hatte mich innerlich leicht gekrümmt, als er sagte, dass er deswegen nie sein Zimmer abschloss, und jetzt erinnerte ich mich, wie froh ich gewesen war, dass Matty das nicht gehört hatte. Er hätte nie mehr aufgehört, sich über Tyler lustig zu machen.
Aber dann hatte mir Tyler gezeigt, was ihm wirklich am Herzen lag. Seine Tänzerinnen. Seine Aquarelle.
Nichts ist unersetzlich, hatte er gesagt, außer … seine Aquarelle.
Als ich mit Gummistiefeln, Schirm und Regenjacke die leere Rasenfläche überquerte, strudelten dicke gelbe und graue Wolken über den Himmel.
Es war sechs Uhr, Zeit zum Abendessen, also konnte ich hoffen, dass er nicht in seinem Zimmer war oder es bald verlassen würde. Dann würde ich einfach reingehen, die Mappe holen und mir einen Platz suchen, wo ich sie unauffällig verbrennen konnte. Vielleicht irgendwo bei den Fußballfeldern, wo normalerweise niemand war, oder hinter einem Müllcontainer. Ich musste nur dem Regen trotzen.
Ich ging am Eingang seines Wohnheims vorbei, bog um eine Ecke und blickte zum letzten Fenster der Reihe im Erdgeschoss. Wenn es dunkel wäre, würde ich reingehen.
Es war hell. Verdammt!
Aber irgendwann würde er sicher verschwinden.
Ich fand ein Plätzchen im Treppenhaus des angrenzenden Verbindungswohnheims. Zwar war mir leicht mulmig zumute, mich ganz allein auf Verbindungsterritorium zu begeben, aber ich wagte es trotzdem. Bis der Sturm vorbei war, würde eh keiner rausgehen. Ich hatte vor, dort so lange wie nötig auszuharren.