Bea

Montag, 11. Dezember, 17:54 Uhr

Zug. Zug. Zug.

Nachdem Bea Veronique in Dr. Friedmans Zimmer zurückgelassen und Early alles erzählt hatte, hatte sie sich umgezogen und war weiter zum Fitnessstudio gelaufen. Sie musste schwitzen, und zwar weit mehr als beim Joggen.

Während sie an der Rudermaschine ackerte, dachte sie über Dr. Friedman nach. Er war widerwärtig. Und enttäuschend. Und vielleicht hatte er immer, wenn er ihre Intelligenz lobte, nur daran gedacht, mit ihr ins Bett zu gehen.

Schäumend vor Wut, riss sie am Seilzug des Geräts. Sie hasste ihn!

Aber nachdem sie eine halbe Stunde lang so heftig gerudert hatte, dass ihr dunkelrotes Top schweißnass war, fiel ihr auf, dass sie ihn als Mensch zwar verachtete, als Professor aber immer noch schätzte. Trotz ihrer Wut musste sie fast lachen. Da war er wieder: der Konflikt zweier Wertvorstellungen.

Auf keinen Fall würde sie die Nationalausscheidungen sausen lassen. Wenn sie dadurch Physik vermasselte und aus dem Programm geworfen wurde, dann war das eben so. Vielleicht konnte ihr das egal sein.

Sie kletterte vom Rudergerät, wischte es mit Desinfektionsmittel von einem Spender an der Wand ab, trat hinaus ins kalte Sonnenlicht und zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie die widersinnige Bedingung umgehen konnte, Physik vor dem Frühjahrssemester wiederholen zu müssen. Dr. Friedman würde sie jetzt natürlich nicht mehr fragen.

Und dann – kam sie an den Wasserspeiern vorbei.

 

Die Chancen standen schlecht. Tyler würde sich bereit erklären müssen, seine Eltern anzurufen, vor denen er Angst hatte. Er müsste sie um einen Gefallen bitten, für jemanden, den sie nicht kannten und den er selbst kaum kannte. Seit dem Abschluss seines Falls hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen, aber sie wusste, dass er ihre Arbeit hilfreich gefunden hatte. Dr. Friedman hatte ihr gesagt, dass er das seinen Eltern gegenüber erwähnt hatte.

Außerdem hatte sie nicht zwölf Jahre an Eliteschulen verbracht, ohne mitzubekommen, dass man mit Geld Probleme lösen konnte. Zum Beispiel, als Mitschülerinnen bei Prüfungen mehr Zeit bekamen. Als die Tochter eines Senators, die niemals zum Unterricht erschien, für herausragende akademische Leistungen in der Cum Laude Society aufgenommen wurde oder als Lorns Vorstrafe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aus ihrer Akte verschwand. Bea vermutete, wenn irgendjemand die Strippen ziehen konnte, um eine Ausnahme zu erwirken – eine sehr kleine Ausnahme für eine ansonsten überdurchschnittliche Studentin –, dann war es die Familie Brand.

 

Es war dunkler geworden, und tief hängende Wolken zogen bedrohlich über den Himmel, als sie mit noch feuchten Trainingsklamotten unter dem Mantel vom Fitnessstudio zu seinem Wohnheim eilte. Nachdem sie durch den langen Flur gegangen und vor seiner Tür gelandet war, sah sie, dass diese einen Spalt offen stand. Sie klopfte und schob die Tür ein Stück weiter auf.

Tyler saß am Schreibtisch, mit dem Laptop auf dem Schoß und einem größeren Monitor vor sich. Seine Augen waren gerötet und von geplatzten Äderchen durchzogen.

«Nun sieh mal, wer da kommt», sagte er mit giftiger Stimme.

«Hi», erwiderte sie und unterdrückte ihre Beunruhigung wegen seines Tons. «Tut mir leid, dass ich einfach so auftauche. Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.»

Er schnaubte gehässig.

Trotzdem versuchte sie es. Sie stand in ihren Trainingssachen mitten im Zimmer und brachte ihr Anliegen vor. «Kurz gesagt bin ich in Physik durchgefallen. Was mir egal ist. Nicht egal ist mir allerdings, dass ich dadurch mein Stipendium und meinen Platz im Justice Program verlieren werde. Außer, ich wiederhole Physik. Der Studienberater behauptet, ich müsste es im Januar machen, aber dann kann ich nicht bei den Nationalausscheidungen der Impromeisterschaften teilnehmen, die Ende Januar in Portland stattfinden …»

Er hörte schon gar nicht mehr zu, sondern beugte sich vor, um in einer Schreibtischschublade etwas zu suchen.

Als sie eben noch darüber nachgedacht hatte, war es ihr so einleuchtend vorgekommen, aber jetzt, da sie es laut aussprach, klang es irgendwie idiotisch.

«Ist ja unglaublich», murmelte er, stand auf und ging zu seinem Minikühlschrank. Er öffnete ihn und schloss ihn wieder.

«Würdest du mir diesen einen Gefallen tun?», fragte Bea seufzend. «Ich hab dir bei deinem Fall geholfen und wäre dir echt dankbar, wenn du mir jetzt helfen würdest.»

«Wieso sollten meine Eltern irgendwas für dich tun, nachdem du sie in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht hast? Und dann hat auch noch deine Freundin darüber geschrieben!»

Sie konnte ihm nicht folgen.

«Wirf doch mal einen Blick da drauf.» Er zeigte zum Couchtisch, wo ein Exemplar des Carter Chronicle lag. Bea las die Zeitung nicht mehr, nachdem sie sich über eine Reihe Gastartikel zu Tylers Fall aufgeregt hatte. Jetzt war das Blatt bei der Kolumne über ihre Improtruppe aufgeschlagen. Sie griff nach ihr und las sie, während er sie vom Schreibtischstuhl aus beobachtete. Die Kolumne war witzig, genau wie ihr Monolog witzig gewesen war. Sie lachte.

«Ach, bitte. Wir haben uns nicht über deine Familie lustig gemacht, und Lesley macht das hier auch nicht. Wir machen uns nur übers College lustig.»

Seine Miene war jetzt völlig ausdruckslos, als hätte er vergessen, worüber sie redeten. Er stand auf, taumelte zu seiner

«Du willst doch jetzt nicht Auto fahren, oder?»

«Doch, Ma’am.»

«Aber du bist betrunken.»

«Und ich hab keinen Nachschub mehr.»

«Gib mir den Schlüssel. Ich fahr dich.»

Sie stellte sich ihm in den Weg und blockierte die Tür. Er sah sie amüsiert und leicht schwankend an. Dann hielt er den Schlüssel vor ihr Gesicht und ließ ihn fallen. Sie beugte sich abrupt vor, um ihn aufzufangen. Er rührte sich nicht.

«Du bist ja so dämlich», sagte er. «Du hast keine Ahnung.»

Eine ganze Weile starrten sie sich nur an.

Dann sagte er: «Hältst du es etwa für einen Zufall, dass du nicht mehr zu den Nationalausscheidungen kannst, nachdem du mich und meine Familie gedemütigt hast?»

«Was?», fragte Bea. Was redete er da?

«Es ist aber keiner», verkündete er grinsend und genoss sichtlich ihre Verwirrung.

Doch das ergab keinen Sinn. Sie hatte die Bedingungen für das Stipendium gesehen und gegen sie verstoßen. Schließlich waren die Regeln nicht über Nacht geändert worden, nur um sie zu bestrafen.

«Meine Physiknote ist zu schlecht. Das ist meine Schuld», erwiderte sie.

«Aber bisher hat das keinen gekümmert, oder? Und weißt du, wieso das jetzt anders ist?» Er neigte sich so nah zu ihr, dass sie seine Fahne in ihrem Gesicht spürte. «Weil ich meine Mom bereits angerufen habe. Und die wiederum hat diesen … Typen angerufen. Den vom Justice Program.»

«Dr. Friedman?»

«Wen auch immer. Jedenfalls hat sie ihm gesagt, er soll dir

«Wieso sollte Dr. Friedman auf deine Mutter hören?», fragte Bea und umklammerte den Schlüssel.

Tyler lachte dreckig. «Was glaubst du denn, wer dein Programm finanziert?» Jetzt beugte er sich vor und brüllte sie an: «Du nicht! Du finanzierst dein Programm nicht, oder? Du hast dich mit den Falschen angelegt! Leute wie du sind nur hier, weil Leute wie wir es erlauben

«Leute wie ich?», fragte sie herausfordernd. «Was soll das heißen?»

«Du weißt genau, was das heißt», sagte er. «Wie. Du.» Er schwankte nach vorn, fing sich aber wieder, richtete sich auf und rieb sich wie ein Baby oder eine Zeichentrickfigur die Augen. Danach hatte er noch mehr geplatzte Äderchen im Weiß seiner Augen. «Meine Familie zieht keine Strippen. Wir sind die Strippen.»

Erstarrt stand Bea da, während Tyler sie musterte.

«Du bist traurig, weil du keine Familie hast», bemerkte er, plötzlich sanfter. «Ich bin auch traurig. Weil ich für meine nie gut genug sein werde.» Seine Augen waren glasig, und er blickte ins Leere. Fast zärtlich sagte er: «Du bist nicht witziger als ich. Du bist nicht besser als ich. Wir sind gleich.»

Bea ließ den Schlüssel auf den Couchtisch fallen. Als er auf die Platte knallte, zuckte Tyler zusammen.

In einer Wolke aus Zorn marschierte Bea aus dem Zimmer.

 

Als sie ins Freie trat, schüttete es in Strömen. Sie zog die Kapuze ihres leichten Wollmantels über den Kopf und stürzte sich in den Regen, ohne sich darum zu kümmern, dass sie

«Hi.»

Als sie sich umwandte, sah sie Annie Stoddard auf der Treppe sitzen.

«Hi», erwiderte Bea. Sie schüttelte das Wasser von ihren Ärmeln und nahm neben Annie Platz.

«Scheißwetter», bemerkte Annie.

«Allerdings», bestätigte Bea.

«Ich bin Annie», sagte Annie.

«Ich weiß», nickte Bea. «Ich bin Bea.»

«Kennst du mich, weil ich das allseits bekannte Vergewaltigungsopfer bin?», fragte Annie.

Als Bea sie anschaute, sah sie, dass sie ein bisschen lächelte.

«Ha», entgegnete sie. «Nein, weil wir dieses Semester zusammen in Psychopathologie waren.»

«Ach so», sagte Annie und blickte geradeaus in den Regen.

Nach einer Weile fügte Bea hinzu: «Eigentlich stimmt das nicht. Ich war Tylers studentischer Beistand.»

«Oh», erwiderte Annie leise.

«Ich hab ihm geraten, diese Sachen über dich zu sagen. Über deine Beine. Deine Klamotten. Und dass du Geld von ihm willst.»

Annie starrte auf ihre Gummistiefel und zupfte an einem Faden, der sich an der Schaftkante gelöst hatte.

«Das tut mir echt leid», erklärte Bea.

Annie wandte sich ihr zu.

Aber bevor sie etwas sagen konnte, hörten sie die kreischenden Bremsen eines Wagens.