Dezember bis Januar
Gibt es geborene Zerstörer, die wie ein Hurrikan eine vernichtende, tödliche Schneise durch das Leben anderer ziehen?
Wir sahen nicht, wie es geschah, aber wir hörten es. Wir hörten das Kreischen der Bremsen, wir hörten den aufröhrenden Motor, und wir hörten Stayjas Schreie.
Mein Instinkt befahl mir, mich rauszuhalten. Obwohl ich nicht wusste, dass es etwas mit Tyler zu tun hatte, war ich wie gelähmt. Ich hatte wohl das Gefühl, mein Körper könne kein weiteres Trauma ertragen.
Dennoch ging ich Bea nach, als sie den Schreien folgte. Und als ich den leblosen Körper sah und erkannte, wer es war, brach ich zusammen.
Außerhalb der Arbeit hatten wir nur ein Mal etwas miteinander unternommen, aber im Buchladen war sie meine Freundin gewesen – eine Freundin, die viel kühner und interessanter war als meine Kommilitonen. Sie erinnerte mich ein bisschen an die Jugendlichen, mit denen ich zur High School gegangen war: Ständig stellte sie die Autoritäten in Frage und machte aus allem ein Spiel. Wann immer es möglich war, beurteilten wir, wie sexy ein Kunde war, und das stundenlang.
Und mit einem Schlag war ich nur noch eine Hülle, in der Gefühle tosten.
Ich rief den Notarzt. Bea sah zu, wie Stayja versuchte, sie wiederzubeleben, unermüdlich gegen ihren Brustkorb drückte, wieder und wieder, bis der Krankenwagen kam.
Ich wollte helfen, wusste aber nicht, wie. Bea sah genauso ohnmächtig verzweifelt aus, wie ich mich fühlte.
Während der Minuten, die ich hilflos dastand, hatte ich das Gefühl, einem Menschen bei dem Versuch zuzusehen, die Zeit umzukehren. Mit ihrem ganzen Körper stürzte sich Stayja auf die Hoffnung, die Uhr zurückdrehen zu können. Und als würde sich mein Innerstes nach außen kehren, veränderte sich der gesamte molekulare Aufbau meines Seins.
Damit will ich nicht sagen, die Dinge wären ‹ins rechte Licht gerückt worden› – das wäre abgedroschen und nicht ganz richtig. Ich meine damit: Wenn Tyler Brand mir dadurch, dass er mir seinen Körper aufzwang, leibhaftig gezeigt hatte, wie herzlos Menschen sein können, so brachte mir Stayja, als sie immer wieder versuchte, Nicole ihren Lebensatem einzuhauchen, wieder zu Bewusstsein, wie groß menschliche Liebe sein kann.
Als der Notarzt kam und verkündete, was wir bereits wussten, ließ sich Stayja auf die Fersen sinken, schlug die Hände vors Gesicht, wiegte sich vor und zurück und gab keuchende, würgende Geräusche von sich, wie ich sie noch nie bei einem Menschen gehört hatte. Als versuchte sie gleichzeitig, ihre Trauer zurückzuhalten und auszustoßen, als wäre die Verzweiflung zu groß und doch nicht groß genug.
Ihr Schmerz, der die dunkle Nacht erfüllte, kam mir fast heilig vor. Nackte Seelen, die wir sind.
Mittlerweile weiß ich, dass wir Trauer verstecken. Wir verdrängen sie und verbergen sie zivilisiert in einem Winkel, wo sie nicht zu sehen ist. Wenn andere nachfragen, speisen wir sie höflich lächelnd mit Halbwahrheiten ab.
«Ja, es ist nicht leicht», sagen wir. Oder: «Es überkommt einen in Wellen.»
Aber an dem Abend, als ich Stayja beobachtete, war nichts Zivilisiertes, Höfliches an meiner ersten echten Erfahrung mit menschlicher Trauer. Sie war archaisch. Guttural.
Ich weinte, so leise ich konnte: um sie und um Nicole, und weil ich am Leben war.
«Habt ihr gesehen, was sie in der Wiggins-Bibliothek gemacht haben?», fragte Matty.
Er reichte mir sein Handy über den Tisch. Es war die erste Woche nach den Winterferien, und er, Henry und ich frühstückten zusammen im Lloyd’s.
Ein Foto in der Eingangshalle der Bibliothek zeigte ein Banner, auf dem stand: «Wir lieben unsere Carter-Familie!» Als ich mich durch weitere Fotos scrollte, sah ich um das Banner herum Staffeleien mit übergroßen Porträtaufnahmen von Carter-Angestellten in ihrer Uniform – Service und Haustechnik – und darunter Angaben über ihr Lieblingshobby, Lieblingsbuch oder Lieblingsurlaubsziel.
Die Geschichte von Nicoles Tod – betrunkener Carterstudent überfährt rücksichtslos Angestellte – hatte den zentralen Dauerproblemen Alkoholmissbrauch und Spannungen zwischen Studierenden und Personal ein Gesicht gegeben. Das College hatte darauf mit dieser peinlichen Ausstellung reagiert, um zu zeigen, dass es sein Personal zu schätzen wusste. Seht ihr? Wir feiern euch! Wir wollen nicht, dass ihr bei der Arbeit umgebracht werdet!
«Du meine Güte», sagte ich, gab ihm sein Handy zurück und dachte wieder einmal an Nicole. Seit meiner Rückkehr ans College hatte ich erst eine Schicht im Buchladen gehabt, und ohne sie hatte es sich seltsam angefühlt. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Arbeit nur wegen ihr mit Spaß assoziierte. Jetzt gab es da niemanden mehr, mit dem ich lachen konnte.
«Wusstest du, dass Annie es mit ihrem Projekt bis in die Lokalnachrichten geschafft hat?», fragte Henry Matty, der sich gerade Cheese Grits in den Mund schaufelte.
Ich hatte beschlossen, am Carter ein Projekt namens Each Other’s Backs ins Leben zu rufen, eine Selbsthilfegruppe für Opfer sexueller Übergriffe. Es sollte der gegenseitigen Unterstützung in der Phase dienen, die Loretta als die ‹sekundäre und tertiäre Traumatisierung› bezeichnete: Wenn alle Welt erwartete, man sollte nach einer Vergewaltigung wieder zur Normalität zurückkehren und weiterleben, als wäre gar nichts passiert.
«Ja, wusste ich, weil ich die Story untergebracht habe», erwiderte Matty und griff zu seinem Orangensaft.
«Du bist die Oprah in Sachen Vergewaltigung», verkündete Henry fröhlich und strahlte mich an. Wir waren jetzt offiziell zusammen. Silvester hatten wir gemeinsam bei meinen Eltern verbracht (sie fanden ihn großartig), und wir planten, die Sommerferien in derselben Stadt zu verbringen.
Matty verschluckte sich und hustete. «Bitte sag nie wieder so was, während ich trinke.»
«Ich bin stolz auf dich», sagte Henry zu mir.
«Das wissen wir», bemerkte Matty. «Gott, das hast du schon eine Million Mal gesagt. Wenn ihr beide noch hinreißender werdet, kann ich nicht mehr mit euch befreundet sein. Es ist geradezu abstoßend. Und das sage ich nicht, weil ich neidisch bin. Nein, es ist einfach asozial kitschiges Benehmen.»
«Du bist bloß traurig, weil du uns verlassen musst», erwiderte ich.»
Matty war nur zurückgekommen, um sein Zimmer auszuräumen. Er hatte fürs Frühjahr ein Praktikum bei der Financial Times in Hongkong, und ab Herbst würde er mit einem prestigeträchtigen Stipendium in Paris Journalismus studieren.
«Lässt du mir bitte auch noch was übrig?», sagte Matty und gab mir einen Klaps auf die Hand, weil ich bereits die Hälfte seines Blaubeerpancakes gegessen hatte.
«Ich bin ganz bestimmt nicht die Oprah in Sachen Vergewaltigung», erklärte ich. «Ich habe nur ein Projekt auf den Weg gebracht.»
Manchmal war es so, als hätten Henry und Matty es vergessen. Sie hatten Nicole auch nicht gekannt. Dennoch war es komisch für mich, die Einzige von uns dreien zu sein, die sie gekannt hatte und deshalb noch an sie dachte.
«Hab ich euch erzählt, dass Nicole vor ihrem Tod für ihre Cousine eine Bewerbung zum Medizinstudium eingereicht hat?»
«Was?», fragte Matty und bedeutete der Kellnerin, frischen Kaffee zu bringen. «Man kann sich einfach so für jemand anderen um ein Medizinstudium bewerben? Gibt’s da keine Eingangstests?»
«Nein, es ist ein College, das zum Medizinstudium hinführt. Ich hab den Bewerbungsessay gegengelesen, sodass sie ihn einschicken konnte.»
«Wieso hat sich die Cousine nicht selbst beworben?», fragte Henry und spießte mit der Gabel ein Stück Ananas auf.
«Ich glaube, sie hat kalte Füße bekommen. Aber ich weiß es nicht. Ich fand es nur süß von Nicole.»
«Ist sie angenommen worden?», fragte Matty.
«Keine Ahnung», erwiderte ich und sah wieder Stayja vor mir, wie sie sich über Nicole beugte und sie zu beatmen versuchte.