Montag, 18. Dezember
«Ich muss es im Januar machen, sonst fliege ich aus dem Programm. Mir bleibt keine andere Wahl», sagte Bea.
Bea und Chris saßen am Fenstertisch eines Cafés am Südlichen Campus und hatten zwei dampfende Teebecher vor sich. Sie hatte ihn um ein Treffen gebeten, ohne ihm den Grund zu nennen. Als sie ihm dann erklärte, sie werde nicht bei den Nationalausscheidungen mitmachen, war er wesentlich aufgebrachter gewesen, als sie erwartet hatte. Volle zehn Minuten lang hatte er sie mit Fragen bombardiert. Wieso? Warum konnte das nicht geändert werden? Wieso war das überhaupt so wichtig?
«Das ist absolut lächerlich», sagte er. «Nein. Du wirst sie auf keinen Fall verpassen.»
Sie hatte ihm nicht verraten, was Tyler am Abend des Unfalls zu ihr gesagt hatte. Warum, wusste sie nicht, nur kam es ihr im Vergleich zum Tod einer jungen Frau ziemlich kleinlich vor, darüber zu jammern.
Aber sie hatte nicht mit solchem Widerstand gerechnet.
«Da steckt doch noch was anderes dahinter. Das ergibt doch einfach keinen Sinn.»
«Ja, also, da ist schon was dran», gab sie schließlich zu. Und dann erzählte sie ihm, dass die Brands ihr Programm finanzierten und sich von ihrem Monolog angegriffen gefühlt hatten. «Also war das wohl eine Art Racheakt. Wer weiß, ob sie das jetzt überhaupt noch interessiert. Aber keiner macht sich die Mühe, es rückgängig zu machen. So ist die Lage.»
Er hörte ihr schweigend zu, und als sie verstummte, sagte er immer noch nichts.
«Ich schätze, die Lektion lautet: Leg dich nicht mit Reichen an», sagte sie und versuchte zu lächeln. Seit dem schrecklichen Unfall fühlte Bea sich wie betäubt und war nicht in der Lage oder willens, die Katastrophe an sich heranzulassen, die sie unter der Oberfläche spürte.
«Damit finde ich mich nicht ab», erklärte Chris. «Wir werden was dagegen unternehmen.»
«Ich wüsste nicht, was man da machen soll», erwiderte Bea. «Die sind wirklich verdammt mächtig.»
Er wirkte immer noch finster, aber seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben.
«Was ist?», fragte sie.
«Du fluchst sonst nie», erklärte er.
Sie runzelte die Stirn.
«Verdammt», sagte sie.
Und dann, am selben Abend noch, überwältigten sie die Gefühle.
Sie hatte zugestimmt, Early zu einem Hip-Hop-Kurs zu begleiten, und zog sich gerade die Sportschuhe an, die sie zum ersten Mal seit dem Unfallabend trug. Als sie etwas Gelbes unter der Sohle sah, hob sie den Schuh an. Dort klebte ein Fitzel vom Absperrband.
«Fertig?», fragte Early von der Tür aus. «Bea?»
Aber Bea hockte neben ihrem Bett, einen Schuh am Fuß, den anderen in der Hand, und weinte.
Early kam zu ihr und legte von hinten ihre Arme um sie.
So hockten sie eine Weile da. Schließlich setzte Bea sich hin und Early ebenfalls, immer noch hinter ihr. Sie rieb ihr den Rücken, bis Bea sich langsam fasste und zu weinen aufhörte.
Dr. Friedman. Tyler. Der Mann, den sie für ihren Vater hielt. In allen hatte sie sich geirrt.
«Alle sind anders, als ich dachte», sagte sie.
«Ich nicht», widersprach Early. «Ich bin genauso eitel und oberflächlich, wie du immer dachtest.»
Unwillkürlich lachte Bea auf.
Ein paar Stunden später, kurz vor Mitternacht, lagen beide in ihren Betten und beschäftigten sich mit ihren Handys, da fragte Early: «Hast du das gesehen?»
«Was?», fragte Bea zurück. Early hatte die Angewohnheit, eine Frage wie ‹Hast du das gesehen?› zu stellen, ohne zu zeigen oder zu erklären, was sie meinte.
«Diese Petition für dich.»
«Was?» Rasch stieg Bea aus ihrem Bett und ging zu Earlys. Gemeinsam lasen sie die Petition:
Magst du Improtheater? Hilfst du gern deinen Freunden?
Dann rette unsere geliebte C.U.N.T.-Gruppe vor einem veralteten und repressiven Regelwerk, das Publikumsliebling Bea Powers von der Teilnahme an den Nationalausscheidungen abhält!
Danach folgte eine Liste mit einhundert – einhundert! – Eigenschaften von Bea.
Hasst du Physik? Bea auch!
Liebst du Eis? Bea auch!
Allein die Länge der Liste war überwältigend. Sie ging über mehrere Seiten. Chris musste den gesamten Nachmittag damit verbracht haben, sie anzulegen.
«Sie hat schon 47 Unterschriften», bemerkte Early.
Da summte Beas Handy: eine Nachricht von Chris.
Wir sind dran, schrieb er.
Seh ich grade, antwortete sie und zögerte, weil sie nicht wusste, was sie schreiben sollte. Sie war gerührt. Das hat bestimmt eine Ewigkeit gedauert, fügte sie schließlich hinzu.
Das habe ich nicht allein gemacht. Wir haben alle dazu beigetragen. Jeder hat 10 Dinge über dich geschrieben. Außer Bart. Der hat nix geschrieben, weil er ein ARSCH ist. Also hat Russell 20 geschrieben.
Bea grinste.
Dann schrieb Chris: Wieso setzt mein Handy ARSCH in Großbuchstaben? Andere mögen reich sein, aber wir haben etwas, das sie nicht haben.
Und was?, schrieb sie zurück. Humor?
Leute wie uns, antwortete Chris.
«Das schicke ich über GroupMe in all meine Seminare», sagte Early. «Ich wünschte, ich könnte zweimal unterschreiben! Vielleicht geht das ja irgendwie.»
Als sie das Licht löschten, hatte die Petition schon 300 Unterschriften. Bea blieb noch bis spät in die Nacht auf, starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und fühlte sich trotz allem beschenkt.
Am nächsten Morgen war ihr Abschlussessay für das Justice Program fällig. Sie waren angewiesen worden, ihn Dr. Friedman persönlich zu übergeben. Seit seiner Voicemail über das Praktikum hatte Bea ihn weder gesehen noch gesprochen.
Während der Drucker die Seiten ausspuckte, las sie noch einmal die letzten Zeilen auf dem Monitor.
Letzten Endes will niemand Macht abgeben. Zwar hat jeder hehre Prinzipien zur Gerechtigkeit, aber wenn diese Prinzipien den eigenen Lebensstil oder Status bedrohen, sind die meisten nicht bereit, diese zu opfern, damit ein anderer eine Chance bekommt. Radikale Gerechtigkeit, das habe ich in diesem Semester gelernt, ist gar nicht so radikal. Denn auch wenn sich die universelle Moralkurve in Richtung Gerechtigkeit krümmt, krümmt sich selbst radikale Gerechtigkeit zurück zum Geld.
Sie hatte in letzter Minute ihr Thema geändert und den Essay in einem fiebrigen Rausch geschrieben.
Als sie die Seiten zusammenlegte, fühlte sie sich wegen der Aussicht, Dr. Friedman persönlich zu treffen, gleichzeitig bang und beschwingt. Wahrscheinlich würde es enttäuschend banal werden, weil er irgendwas sagen würde, um sie wieder für sich zu gewinnen, und sie höflich darauf reagieren würde. Aber sie hatte das Gefühl, ihr Essay sagte alles, was es zu sagen gab.
Sie zog sich gerade ihren Mantel an, als eine neue E-Mail auf ihrem Bildschirm erschien und ihre Aufmerksamkeit weckte. Als sie den Absender sah, holte sie erschrocken Luft. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken. Nein, das bildete sie sich nicht ein.
Sie zögerte. Wollte sie wirklich lesen, was auch immer er ihr zu sagen hatte? War sie dazu bereit?
Ja, das war sie.
Liebe Bea,
verzeih, dass ich so lange gebraucht habe, um dir zu antworten.
Ich brauchte Zeit, mir zu überlegen, was ich sagen sollte. Was deine Mutter gewollt hätte.
Als du geboren wurdest, hatten wir beide geplant, an deinem Leben teilzunehmen. Wir wollten nicht heiraten (jedenfalls nicht einander), hatten aber beide den dringenden Wunsch, deine Eltern zu sein.
Dann wurde mir ein Job in Michigan angeboten. Das veränderte alles.
Wenn ich ihn annähme, würden wir dann wirklich zwischen Boston und Ann Arbor pendeln? Zuerst hatten wir das vor.
Aber wie du weißt, war deine Mutter ein Scheidungskind und hatte das Gefühl, es würde zutiefst schmerzlich für dich sein, sich jede Woche, jeden Monat oder auch nur einmal im Jahr von einem Elternteil verabschieden zu müssen. Einen von uns würdest du immer vermissen.
Sie glaubte, deine Kindheit würde so oder so von Verlust und Sehnsucht geprägt sein. Auch wenn du mit Liebe überschüttest würdest. Und das, so glaubte sie – und sie überzeugte mich davon –, würde wahrscheinlich noch traumatischer sein als ein abwesender, unbekannter Vater. Traumatischer, als mich nie kennenzulernen.
Damit will ich nicht behaupten, es wäre ihre Entscheidung gewesen. Es war eine gemeinsame. Wir waren uns einig.
War es die richtige Entscheidung?
Können wir diese Frage je beantworten, wenn es darum geht, sich von der Liebe abzuwenden?
Deine Mutter hat sich vor ihrem Tod bei mir gemeldet. Seltsam, ich weiß, da sie so unerwartet starb. Ich habe mich oft gefragt, wieso sie sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt bei mir meldete. Sie schrieb mir, sollte ihr je etwas zustoßen, hätte ich ihren Segen, Kontakt mit dir aufzunehmen.
Aber ich meldete mich nicht bei dir, weil ich nicht sicher war, ob du das überhaupt wolltest. Es ist schon schwer genug, eine Mutter zu verlieren. Ich wollte dich nicht noch zusätzlich damit belasten, dass dein unbekannter Vater plötzlich auftaucht und verkündet, dass er die ganze Zeit von dir gewusst hat. (Damit will ich nicht sagen, und ich hoffe, das verstehst du, dass ich dich die ganze Zeit im Auge behalten und dein Leben verfolgt habe. Dies war meine eigene, selbstsüchtige Entscheidung. Wenn ich schon nicht an deinem Leben teilnehmen konnte, sollte es ein sauberer Schnitt sein. Ich wollte mir diesen Schmerz nicht antun.)
Ich gestehe, als ich vor ein paar Monaten deine Nachricht bekam, geriet ich ein bisschen in Panik. Meine Frau wusste zwar von dir und Phaedra, aber nur ganz allgemein. Wir hatten über neun Jahre nicht mehr von dir oder deiner Mutter gesprochen, das letzte Mal vor unserer Heirat. Selbst als deine Mutter vor drei Jahren starb, sagte ich ihr nichts davon. Ich sah keinen Grund, sie damit zu belasten.
Also schob ich es immer weiter auf, ihr von deiner Nachricht zu erzählen. Weil ich Angst hatte. Davor, wie es sich auf unsere Familie, auf unsere Ehe auswirken würde. Ich hatte Angst, sie würde nicht wollen, dass ich dir antworte. Ich hatte Angst, sie würde mich zwingen, zwischen ihnen und dir zu wählen.
Glücklicherweise war diese Angst unbegründet. Eine solche Frau habe ich nicht geheiratet. Neulich nachmittags, als unser Sohn Roland (der neun Jahre ist) bei einem Event Roboter baute, hatten wir ziemlich viel Zeit totzuschlagen, während die Kinder an ihren Projekten werkelten. Da konnte ich es nicht länger aufschieben. In der Ecke eines Hotelsaals voller Kinder und Eltern erzählte ich ihr von deiner Nachricht.
Meine Frau heißt Zuzia, wird aber Z genannt. Und sie will dich unbedingt kennenlernen, genau wie ich.
Dieser Brief ist der sehr umständliche Versuch, «Hallo» zu sagen, «schön, dich kennenzulernen». Es tut mir leid, dass ich so lange nicht geantwortet habe, und ich hoffe, das kannst du mir eines Tages verzeihen.
Dieses Jahr werden wir Weihnachten hier zu Hause in Ann Arbor feiern, nur wir drei. Hast du schon Pläne? Und wenn nicht, möchtest du zu uns kommen?
Herzlichst,
Les Bertrand
Ann Arbor, dachte Bea, lag auf dem Weg nach Portland.