Dezember und Januar
«Die Zeitspanne des Schocks, die wir durchleben, ist eine Gnade», hatte Stayja gelesen, als sie ein einziges Mal googelte: Wie man den Tod eines Menschen verarbeitet.
Aber ihr war keine solche Gnade vergönnt. Sie wusste sofort, was geschehen war. Sie war dabei gewesen. Sie konnte es nicht rückgängig machen, nicht in Ordnung bringen. Und es war viel, viel schlimmer als jedes Gefühl, jede Erfahrung, jede Tragödie, die sie sich jemals vorgestellt hatte.
Sie hatte eine Liste von möglichen Unglücken gehabt. Dass ihre Mutter sterben könnte. Ihre Tante. Dass Nicole etwas Dummes machen und im Gefängnis landen könnte.
Aber nie hätte sie erwartet, Nicole in ihren Armen sterben zu sehen. Und nie hätte sie gedacht, dass diese Erfahrung ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen, sie aus ihrer Welt reißen und in eine ganz andere katapultieren würde. In der neuen Welt existierte Nicole nicht, aber Stayja existierte auch nicht. Sie konnte genauso gut eine Jane sein, eine Claudia oder, Scheiße noch mal, eine Stasia, wie die Leute sie immer haben wollten.
Ihre Trauerphasen waren ganz anders, als sie in ihrem Psychologiekurs gelernt hatte. Statt Leugnen, Wut und Verhandeln war ihre Trauer körperlich, von Impulsen getrieben, gegen jede Vernunft. Sie bekam einen Ausschlag, von dem sich die Haut an Armen und Beinen abschälte. Sie verlor Gewicht, aber ihr Gesicht quoll so auf, dass Donna meinte, es sei eine allergische Reaktion. Es überfiel sie der unbezwingbare Drang, ihre Haare pink zu färben, worauf sie eines Nachts im Internet drei Stunden lang nach dem besten Haarfärbemittel suchte.
Der einzige Vorteil, ein ganz anderer Mensch zu sein, lag darin, dass nichts, was ihr vorher wichtig gewesen war, sie noch interessierte.
Vielleicht war das die ihr zugedachte Gnade.
Die Beerdigung war grotesk. Der Geistliche hatte Nicole nicht gekannt, tat aber so und beschrieb sie mit Worten, die nicht mal annähernd zu ihr passten. Kein Mensch, der Nicole gekannt hatte, hätte sie als ‹schöne Seele› bezeichnet.
Chet kam, am Boden zerstört. Er konnte einfach nicht aufhören, Stayja zu beteuern, wie sehr er ihre Cousine geliebt hatte; dass sie die Frau seines Lebens gewesen sei.
«Ich weiß nicht, wie ich ohne sie weitermachen soll», sagte er so verzweifelt, dass Stayja nicht mal in Versuchung kam, seine Frau zu erwähnen.
Adrienne lud danach in ihr Haus ein, wo Chet auch hinkam und die ganze Zeit jammerte. LA dankte Chet, dass er ihnen den Zugang zu seinem HBO GO gewährt hatte, was Chet lange genug aus seiner Trauer riss, um nervös zu werden. Dann diskutierten er und LA, wie Nicoles Familie die Brands verklagen konnte.
«Müsst ihr das unbedingt jetzt besprechen?», fragte Stayja, nachdem sie von ihnen Begriffe wie ‹widerrechtliche Tötung› und ‹Entschädigung› aufgeschnappt hatte. Da fing Chet wieder an, unter Tränen zu versichern, wie sehr er sie geliebt hatte, LA erzählte ihr, er hätte bei Home Depot einen Job als Filialleiter bekommen.
Tyler war wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden, worauf seine Eltern einen Zivilrechtsspezialisten aus D.C. angeheuert hatten. Offenbar war der gut gewesen, denn laut Lokalzeitung war Tyler auf Kaution freigekommen, durfte weiterstudieren und seinen Abschluss machen. Er würde auf das gottverdammte Podium steigen und seine Ehrung entgegennehmen.
Und Nicole war tot.
Eine Woche verstrich, dann eine weitere. Stayja war nicht wieder zur Arbeit gegangen, und Donna sagte nichts dazu. Zwar hatte Frank sie nicht explizit gefeuert, aber es wäre ihr auch egal gewesen.
Ohne Nicole war es quälend still.
Anfang Januar bekam Stayja ein Schreiben vom Gibson College, das ihr mitteilte, sie hätte die erste Bewerbungsrunde erfolgreich durchlaufen, und sie zu einem Vorstellungsgespräch für das medizinische Vorstudium einlud. Sie sollte ihre Referenzen einreichen.
Danke, dass Sie sich bei uns beworben haben. Wir gratulieren zum Bestehen der Vorrunde. Ungefähr 80 % der Bewerber, die zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden, bekommen danach einen Studienplatz angeboten.
Selbst nach allem, was passiert war, dachte sie zuerst, Tyler hätte sich für sie beworben. Erst nachdem sie beim College anrief und eine Kopie ihrer Bewerbung verlangte, erkannte sie an der Unterschrift auf dem PDF, das ihr per E-Mail zugeschickt wurde, dass es Nicole gewesen war.
Nicoles letzter Akt der Liebe für Stayja. Und Stayja war nicht mal auf den Gedanken gekommen, dass sie so etwas tun könnte.
An jenem Abend trug Stayja bei Sonnenuntergang einen Küchenstuhl in den Garten und nahm mit Jacke, Schal und Wolldecke zwischen den beiden Häusern Platz, wo Nicole und sie die Marihuanapflanzen ausgerupft hatten. Sie blickte hinauf zum Himmel und sah zu, wie sich eine helle, durchscheinende Wolke von Weiß zu Gelb, von Silber über Orange zu Pink färbte und plötzlich grau und trüb wurde. Tot. Zwar war die Sonne noch nicht ganz untergegangen, aber sie beschien die Wolke nicht mehr, und ohne das Licht wirkte das luftige Gebilde wie eine ganz normale Regenwolke. Nur wegen der Strahlen der Sonne hatte sie vorher so geleuchtet.
Das ist es, dachte sie. Ich bin diese Wolke. Und Nicole war die Sonne.
Liebe Nicole,
weißt du noch, als ich 10 war und du 8 und wir auf den gefrorenen See bei Grandma gegangen sind? Eigentlich war es eher ein Teich. Wir waren ganz allein, und du hast dich immer weiter rausgewagt. Ich rannte zurück und rief dir immer wieder zu, du solltest zurückkommen. Aber du hast dich nur nach mir umgeguckt und gelacht. Gelacht und gelacht. Du fandest es lustig, dass ich Angst hatte. Du hattest einen Mordsspaß, und ich hatte Angst, du würdest einbrechen und ertrinken.
Manchmal habe ich das Gefühl, unser ganzes Leben war wie dieser Tag.
Aber ich habe dir nie verraten – und mir auch nie wirklich eingestanden –, dass ich einfach nicht wusste, wie man so sein kann. Ich begriff nicht, wie du das gemacht hast. Wie du so frei sein konntest, wo uns doch so viel im Weg stand.
Weißt du noch, was du sagtest, als deine Abfindung vom Staat einkassiert wurde? Wegen dem dämlichen Patzer mit dem Konto deiner Mutter? Du hast einen Witz gerissen. Hast gesagt: «Ich finde bestimmt jemand anderen, der mich erst betatscht und dann feuert.»
Es ging um zwanzigtausend Dollar, Nicole.
Ich glaube, ich hab dich angeschrien. Zumindest werde ich die Augen verdreht haben. Außerdem habe ich sicher ganz deutlich meine Missbilligung über deine Sorglosigkeit gezeigt. Damit dir klar war, dass ich am Ende die Suppe für dich auslöffeln würde.
Aber weißt du, was ich jetzt erkannt habe? Du hast mich nicht ein einziges Mal um Hilfe gebeten. Du hast sie angenommen. Aber nie darum gebeten – das ging ganz allein von mir aus.
Als du mir verraten hast, dass du meine Steuerschulden bezahlst, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Das passte nicht in unser System.
Rückblickend erkenne ich, dass ich mich irgendwie bedroht gefühlt hab. Wenn du angefangen hattest, dich zu kümmern, und zwar nicht nur um deinen eigenen Scheiß, sondern auch noch um meinen, und du außerdem noch ein freier Geist warst, was blieb mir dann noch?
Ich hab mich benommen, als würde ich mich für dich schämen. Das tut mir leid. Ich wollte mehr sein als nur arm und hatte Angst, das nicht zu sein.
Du wusstest längst, dass du mehr bist als nur arm.
An einem Samstag Mitte Januar saßen Stayja und Donna gegen Mittag vor dem Fernseher und sahen sich Frasier an, da klopfte es an der Tür. War das schon wieder der Gasableser? Entnervt schlurfte Stayja in der Jogginghose und dem T-Shirt, die sie schon seit drei Tagen trug, zur Haustür. Ihre Socken – von Nicole geerbt – waren schmutzig und viel zu groß, hielten aber ihre Füße warm. Um Geld zu sparen, schalteten sie nachts die Heizung ab.
Die Frau an der Wohnungstür war reich. Mehr registrierte Stayja nicht, als sie öffnete und sie dort stehen sah: Jemand wie sie wohnte nicht in der Gegend.
«Stayja?», fragte die Frau und sprach ihren Namen richtig aus. «Darf ich reinkommen?»
«Wer sind Sie?», gab Stayja zurück.
«Kitty Brand», antwortete sie. Tylers Mutter. «Ich hatte gehofft, mit Ihnen und Ihrer Mutter sprechen zu können.»
Eigentlich hätte Stayja gedacht, sie würde wütend werden, doch seit Nicoles Beerdigung hatte sie im Grunde gar nichts mehr gefühlt und stellte fest, dass sich das auch jetzt nicht änderte.
«Kommen Sie rein», sagte sie.
Mrs. Brand folgte ihr.
«Mom, das ist Tylers Mutter», erklärte Stayja. «Sie will mit uns reden.» Ihr huschte durch den Kopf, dass ihr altes Ich sich wegen des fleckigen Teppichs und der Holzverkleidung geschämt hätte, wegen der niedrigen Decken und der kitschigen Deko, mit der Donna jede Oberfläche schmückte: Keramikengel, Glaszwerge und staubige, unbenutzte Kerzen. Aber jetzt war ihr auch das egal.
Langsam griff Donna nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Stayja setzte sich wieder aufs Sofa. Mrs. Brand blieb stehen.
«Ihre Schwester möchte nicht mit mir sprechen. Sie hat mich hierhergeschickt, damit ich mit Ihnen rede. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir uns wegen dieser Tragödie schrecklich fühlen und Ihnen nach Kräften die Lage erleichtern wollen.»
Donna grunzte.
«Ich weiß, es gibt keinerlei Entschädigung für den Tod Ihrer Nichte, aber wir würden uns freuen, wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, Ihnen ein bisschen von der Last zu nehmen. Wir finden es unnötig, das vor Gericht zu regeln, denn wir werden nicht mit Ihnen streiten. Wir sind anständige Menschen. Und wir haben die Mittel, Ihnen zu helfen. Warum sollten wir es also nicht tun?»
Es wirkte, als erwartete sie tatsächlich von ihnen eine Antwort. Aber sie schwiegen.
Mrs. Tyler richtete ihren Blick auf Stayja. «Tyler hat mir zum Beispiel erzählt, dass Sie eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Vielleicht könnten wir einen Teil der Kosten übernehmen.»
Ein leises Klopfen zog Stayjas Aufmerksamkeit auf sich. Auf der Fensterbank saß ein Eichhörnchen und beschäftigte sich mit einer Eichel. Sie beobachtete es.
Stayja hatte Fragen. Wenn diese Frau sich berufen fühlte, Tylers Scherben aufzusammeln, wieso hatte sie nicht schon früher etwas unternommen? Jetzt war sie hier und wollte was wiedergutmachen, aber Nicole war schon tot.
«Sie sind Dichterin?», fragte sie.
Mrs. Brand wirkte überrascht.
«Ich weiß eine Menge über Ihre Familie», sagte Stayja.
«Verstehe. Nun, dann sollten Sie auch wissen, dass Tyler nicht immer ganz ehrlich ist. Tatsächlich baut er vor allem auf seinen Charme. Ich staune immer wieder, wie er sich aus allem Möglichen rausreden kann. Er hat das Talent, die Fakten so zu verdrehen, dass er bekommt, was er will.»
«Ach was», gab Stayja sarkastisch zurück.
«Das soll keine Entschuldigung sein, aber so ist er schon seit dem Tod seines Hundes. Max starb, als Tyler 11 war. Leberkrebs. Wir hatten keine andere Wahl, als ihn einschläfern zu lassen. Aber Tyler war wütend, weil wir es nicht mit Chemo versuchten. Danach änderte sich alles. Die Wahrheit wurde zur Auslegungssache.»
Wollte sie damit sagen, dass Tyler ein Vergewaltiger war, weil er seinen Hund verloren hatte? Dass er deshalb betrunken Auto fuhr? Und Nicole umgebracht hatte?
Donna räusperte sich, um Stayja zu verstehen zu geben, dass sie auf das Angebot zurückkommen sollte: Nimm das Geld.
«Also sind Sie keine Dichterin», bemerkte Stayja.
«Oh doch, das bin ich. Das war nicht gelogen.»
«Ich hab nach Gedichten von Ihnen gesucht», sagte Stayja. «Aber keine gefunden.»
«Ich schreibe unter meinem Mädchennamen. Und den Initialen meiner Vornamen: P.K. Fox.» Stayjas verblüffte Miene missdeutend, erklärte sie: «Kitty ist die Kurzform von Kathryn, meinem zweiten Vornamen.»
Stayja starrte sie mit kribbelnden Händen an. Was für ein unfassbarer Zufall, was für ein kosmischer Witz. Sie versuchte zu schlucken. Vergeblich.
Sie betrachtete die Frau. Ihre weißblonden Haare waren wild gelockt wie die ihres Sohnes, aber durch Pflegeprodukte gezähmt. Ihr Gesicht war für eine Frau ihres Alters zu glatt und zeigte noch weitere Spuren kosmetischer Eingriffe: Ihre Haut spannte leicht an den Mund- und Augenwinkeln, alles war irgendwie nach oben gezogen. Sie trug ein perfekt sitzendes, fuchsiafarbenes Kleid mit einem dünnen, goldenen Gürtel. So hatte sich Stayja P.K. Fox nicht vorgestellt.
Und ganz gewiss hatte sie P.K. Fox nicht mit Tyler in Verbindung gebracht.
Die Brands hatten ihr Leben ruiniert und sie gleichzeitig verändert. Die Brands waren schrecklich, aber auch der Grund, warum sie Ärztin werden konnte. Der Grund, in das hellste Licht auf Erden zu starren und den Blick nicht abzuwenden.
«Hören Sie: Ich möchte absolut nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es eine Entschuldigung für das Verhalten meines Sohnes. Aber er hat eine sehr schwere Zeit hinter sich. Vielleicht wissen Sie das nicht, aber er wurde fälschlicherweise wegen sexueller Übergriffe angezeigt, und das hätte ihn fast zugrunde gerichtet … Er ist gerade nicht ganz er selbst. Es ist einfach nur furchtbar, dass seine Entscheidungsschwäche zu solch einem Unglück geführt hat.»
Fälschlicherweise angezeigt. Während Mrs. Brand sprach, dachte Stayja: Wenn sie sich schon so krampfhaft bemüht hatte, den wahren Tyler mit ihrem Wunschbild in Einklang zu bringen, wie musste es dann erst seiner Mom ergehen?
Fast hatte sie Mitleid mit ihr.
«Also, dürfen wir für Ihre Ausbildung aufkommen?», fragte Mrs. Brand, griff in ihre Handtasche und holte ein Scheckbuch heraus. «Ich kann Ihnen einen Scheck ausstellen.»
Was würde Nicole tun?
«Ich werde keine Krankenschwester», sagte Stayja. Ihr Blick fiel auf Mrs. Brands Schuhe. Sie waren milchkaffeebraun und sahen von ihrer Struktur her aus, als wären sie aus Krokodilleder.
«Das solltest du nicht jetzt entscheiden, Schatz», mischte sich Donna mit besorgter, drängender Stimme ein.
Stayja ignorierte sie und blickte Mrs. Brand direkt in die Augen.
«Sie können mir das Medizinstudium bezahlen.»