Annie

Freitag, 25. August

Meine Geschichte über Tyler Brand beginnt an dem Tag, als ich ihn kennenlernte, in der ersten Woche meines zweiten Jahrs am Carter College. An diesen Tag kann ich mich noch lebhaft erinnern, bestimmt auch deswegen, weil ich wie elektrisiert war von dem Gefühl frischer Luft auf meinen Beinen und von der Aufregung, meine Narben zum ersten Mal seit Jahren nicht zu verstecken.

Meine Beine waren immer das Attraktivste an mir, oder hatten es zumindest sein sollen. «Ich habe gebetet, dass du die Beine deines Vaters bekommst, und das hast du», erzählte meine Mutter mir immer und immer wieder. Ich würde einmal eine gute Läuferin abgeben, sagte sie, vielleicht würde ich groß genug werden, um Basketball zu spielen oder als Supermodel zu arbeiten. Wenn ich erst in meine Beine hineingewachsen wäre, würde ich mit ihnen die Jungs verrückt machen, ganz egal, welche Schuhe ich trug.

Und dann, gerade als ich tatsächlich begann, in meine Beine hineinzuwachsen, wurden sie gegrillt. In den Sommerferien nach der achten Klasse saß ich im Garten, als der Grill umkippte und die Decke neben mir Feuer fing. Mir wurde

Nachdem Aufruhr und Schmerzen sich gelegt hatten, dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass ich von nun an mit ganz anderen Augen angeschaut werden würde. Zuerst war ich verwirrt über die Traurigkeit der anderen. Erkannten sie denn nicht, dass ich das Schlimmste überstanden hatte? Ich hatte das Feuer überlebt.

Meine Zehen, Hände und Brüste waren suboptimal, das hatte ich schon vor dem Unfall begriffen. Aber die Narben gehörten doch nicht richtig zu mir. Sie waren mehr wie ein Accessoire, wenn auch nicht besonders schmeichelhaft: So wie wenn jemand hässliche Ohrringe trägt, aber darum ja nicht selbst als hässlich bezeichnet wird. Die Narben waren nicht von meinem Körper hervorgebracht worden, sondern kamen von außen, von dem unglücklichen Umstand, dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war.

Aber als sie weder verschwanden noch verblassten, sondern im Gegenteil sogar dunkler und härter wurden, wurde ich eines Besseren belehrt. Und ich begriff, dass das hier nicht mit Ohrringen oder Impfnarben vergleichbar war. Meine Beine, die eigentlich übers Basketballfeld rennen und Jungs verrückt machen sollten, sorgten für aufgerissene Augen, Grimassen und offene Münder. Also begann ich, sie unter Jeans zu verstecken. Bei Partys, am Pool und am Strand, auf dem Schulabschlussball: Ich trug nichts anderes mehr. Sogar sonntags in der Kirche trug ich Jeans, nachdem ich meiner Mom gedroht hatte, Atheistin zu werden, falls sie weiter darauf bestand, dass ich ein Kleid anzog.

Als ich «mit Brandnarben leben» googelte, empfahl mir

Meine Heimatstadt Pineville als ‹klein› zu bezeichnen, wäre noch übertrieben. Wir haben ein Red Lobster, ein mickriges Einkaufszentrum und ein paar baufällige Kirchen, die der Staat Georgia als Baudenkmäler deklariert hat. Auf einem Schild zum Highway 280 prangt das Motto der Gemeinde: ‹Fast weg, aber nicht vergessen›. In meinem Jahrgang gab es 45 Schüler, von denen sechs den Nachnamen Cooper hatten.

Aber selbst in Kleinstädten gibt es sozialen Druck. Als Teenager erkannte ich nicht, dass meine Narben nicht nur Fluch, sondern auch Segen waren. Denn ich war so deutlich mit einem Makel behaftet, dass ich gar nicht erst Gefahr lief, mich über mein Aussehen zu definieren. Da ich aus der Kategorie ‹hübsches Mädchen› herausfiel, konnte ich mich auf andere Dinge konzentrieren. Ich entschied mich für die Musik und gewann mit meinem Fagott Wettbewerbe, zuerst in Pineville, dann im ganzen Land. Einmal flog ich sogar mit dem National Youth Orchestra nach Washington D.C., um vor dem Präsidenten zu spielen. Annie Stoddard, Fagottspielerin, Brandopfer, Jeansfanatikerin. Dass mein Körper im besten Falle unsichtbar und im schlimmsten grauenerregend war, rettete mich in gewisser Weise. Ich bekam mit, wie Freundinnen hungerten, sich den Finger in den Hals steckten oder sich ritzten. Wie sie weinten, weil sie auf Instagram zu wenig Likes erhielten. Ich nicht. Warum sich quälen, wenn einen sowieso niemand ansieht? Gesegnet sind die Unattraktiven.

 

Vom Carter College hatte ich seit dem National Youth Orchestra geträumt, weil mir die erste Flöte, Klassensprecherin der Abschlussklasse einer Privatschule in Michigan, erklärte, sie wollte dorthin gehen, genau wie ihre ältere Schwester, deren Collegefreunde so gebildet waren, dass ihre Eltern keine Ahnung hatten, wovon sie sprachen, wenn sie in den Ferien nach Hause kamen und sich am Abendbrottisch unterhielten. Obwohl sich das Carter in North Carolina befand, nur zwei Staaten von uns entfernt, hatte es laut meiner Studienberaterin Ms. Flo noch niemand aus meiner High School besucht. Als ich ihr sagte, ich würde mich um einen Platz bewerben, zog sie eine Augenbraue in die Höhe.

«Willst du nicht lieber auf die Universität von Georgia? Wahrscheinlich kämst du dort aufs Honors College», nuschelte sie (wir waren ziemlich sicher, dass sie Alkoholikerin war) und nuckelte an dem mit Lippenstift beschmierten Strohhalm in ihrem riesigen To-go-Becher, den sie immer dabeihatte.

Aber Ms. Flo unterschätzte, was es bedeutete, in einer Welt aus Cellistinnen und Violinistinnen Fagottspielerin zu sein. Ich wurde nicht nur am Carter angenommen, sondern bekam sogar drei Viertel des Studiengelds vom College erlassen. Meine Eltern weinten beide vor Erleichterung, weil die Rücklagen für mein Studium im Jahr zuvor für eine Notoperation an der Gallenblase meines Bruders draufgegangen waren.

«Aber woher sollen wir den Rest nehmen? Und das Geld für Unterkunft und Verpflegung?», fragte ich und drehte das Schreiben um, als könnte sich auf der Rückseite ein Scheck verstecken.

An meiner High School verbreitete sich die Nachricht schnell. Selbst jüngere Schüler, die ich nur flüchtig kannte, blieben auf den Gängen stehen, um mir zu gratulieren.

«Das ist Annie Stoddard. Sie geht aufs Carter», erklärte mein Mathelehrer dem neuen Bioreferendar in der großen Pause auf dem Gang.

«Meine Güte, dann bist du bestimmt extrasmart», erwiderte der und zwinkerte mir zu. Den Rest des Tages sagte ich das immer wieder leise vor mich hin, weil mir der Begriff ‹extrasmart› gefiel. Zwar hatte ich in der High School nur Bestnoten erzielt, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich außerhalb der Pineville High als besonders intelligent gelten könnte.

In der Woche vor meinem Abschluss überreichte mir mein Englischlehrer Mr. Royles leicht verlegen einen Artikel, den er aus dem Internet ausgedruckt hatte und der den Titel trug: VIERZIG KLASSIKER, DIE MAN GELESEN HABEN MUSS.

«Das hätten wir dir eigentlich hier in der High School beibringen sollen», sagte er.

Also ackerte ich in den Sommerferien vier davon durch: Der große Gatsby, Was vom Tage übrig blieb, Mrs. Dalloway und Moby Dick, für den ich den gesamten August brauchte. Als ich das Buch tatsächlich zu Ende gelesen hatte, war ich so stolz wie nie zuvor.

Ich lernte unzählige Stunden im Leseraum des Wohnheims und sah durchs Fenster, wie andere Studenten Fußball spielten oder in der Sonne lagen und sich unterhielten. Ich wollte wie sie sein, wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte. Ich wusste nur, wie man sich hinter Büchern verbarrikadierte, wie man unauffällig und zu Hause blieb. Ich bekam Bestnoten und war einsam. Auf dem College war ich genau wie in der Pineville High nur das schlaue Mädchen mit den Brandnarben.

Eines Nachmittags Ende Februar erzählte mir mein Orchesterleiter, dass eine Frau aus dem Ort jemanden suchte, der ihrem Sohn das Fagottspielen beibrachte, und zwar für

Ich wusste ganz genau, was ich damit machen wollte.

Ein Dermatologe in Atlanta empfahl mir eine Farbstofflaserbehandlung, die man so über den Sommer verteilt legen konnte, dass meine Beine im Herbst wesentlich besser aussehen würden. Da ich einen Ferienjob als Babysitterin hatte, würde ich ohnehin die meiste Zeit mit dem Baby auf dem Sofa verbringen.

«Die Narben werden nicht hundertprozentig verschwinden», sagte der Dermatologe, «aber mindestens zu siebzig Prozent.» Behandlungen dieses Umfangs kosteten normalerweise über zehntausend Dollar, doch der Arzt erließ mir einen Großteil davon, weil der Laser ein neues Modell war und ich an einer Vorher-nachher-Studie teilnehmen konnte. Das machte mir zwar ein wenig Angst, aber er versprach, dass ich absolut anonym bleiben würde.

Ich lag auf einer mit Papier bedeckten Liege, während die Laser sich ihren Weg über meine transplantierte Haut bahnten und dabei klangen wie schnalzende Gummibänder. Immer wieder blies eine Praktikantin über einen Schlauch kalte Luft auf die behandelten Stellen. Man hätte meinen können, der Geruch von verbranntem Fleisch würde Erinnerungen an den Unfall wachrufen, aber so war es nicht. Dieses Mal fühlte ich mich auf meiner Arztliege wie eine Superheldin, der gerade ihr Kostüm geschneidert wurde.

Der gesamte Prozess erforderte drei Behandlungen im Abstand von jeweils drei Wochen. Mit der

Meine Eltern unterstützten mich so sehr, dass es fast beschämend war. Am Tag, bevor ich aufs College zurückkehrte, gingen meine Mom und ich Klamotten für den Herbst einkaufen. Meine Beine waren jetzt heller: pfirsichfarben und hauchzart an Stellen, die vorher rot und wulstig gewesen waren; wo sich früher fast lilarote Flecken deutlich abzeichneten, sah man jetzt nur noch rosa Haut mit hellroter Naht. Damit konnte ich leben.

An den Ausverkaufständern griff ich nach Klamotten, die ich normalerweise gemieden hätte: einem kurzen Kleid, Shorts und, nur aus Spaß, einem Minirock aus türkisfarbenem Leder. Zwar war ich kein Mädchen, das Minilederröcke trug, aber ich ahnte, dass ich eines Tages vielleicht eines sein konnte.

Als meine Mutter (eine erfahrene Schnäppchenjägerin) meine Kleiderwahl sah, nahm sie mich lächelnd in die Arme.

«Ich hab sie noch nicht anprobiert», rief ich ihr nach, als sie die Sachen zur Kasse trug, aber sie ignorierte mich und reichte der Kassiererin die Kreditkarte, noch bevor diese überhaupt die Preisschilder gescannt hatte. «Das kannst du zu Hause machen», erklärte sie.

Am Ende dieses Sommers war meine Mutter voller Hoffnung. Genau wie ich.

 

Am ersten Freitag des neuen Studienjahrs stand ich vor dem Schrank meines altmodischen Zimmers mit der hohen Decke, das nun mir allein gehörte. Meine Zimmergenossin Samantha war im August nach Stanford gewechselt und hatte

Jackpot.

«Hast du ein Glück!», rief mein Freund Matty und warf sich auf mein Bett. «Ich meine, natürlich wird Samantha uns fehlen, blablabla, aber ganz ehrlich: ein Einzelzimmer? Umsonst?»

«Umsonst ist was anderes», erklärte ich von meinem Schrank aus.

«Ohne Einzelzimmerzuschlag, meine ich.»

Im Schrank lagen hauptsächlich Jeans und Tanktops, aber darunter, direkt neben meinem Fagott, war das Bord, auf dem ich meine neuen Sachen aufbewahrte: das Sommerkleid, den Minirock und die Shorts.

Ich zog meine schwarze Jogginghose aus und eine der Shorts an. Dann wickelte ich ein Handtuch um meinen Oberkörper und kam hinter der Schranktür hervor.

Matty, der an die Wand gelehnt auf meinem Bett saß, blickte von seinem Laptop auf.

«Was denkst du?», fragte ich. In Modedingen hatte ich ihn noch nie um Rat gefragt – so lief das nicht zwischen uns. Manchmal fragte er mich um Rat, vor allem wenn er mich überreden wollte, mit ihm in Schwulenclubs zu gehen. Ich hingegen trug meine College-Uniform, seit wir uns kannten, also gab’s von meiner Seite aus nichts zu besprechen.

Darauf ging ich nicht ein. Ich drehte mich von ihm weg zum großen Spiegel. Da waren meine Beine.

«Wenn du die Shorts meinst», sagte Matty schließlich – und seine Stimme verriet, dass er genau wusste, was ich gemeint hatte – «dann wird es wirklich höchste Zeit, dass du dich dem Wetter entsprechend anziehst. Es ist heiß in North Carolina. Und du hast ein ganzes Jahr gebraucht, um das zu kapieren.»

Ich rührte mich nicht. Er sah mich im Spiegel an.

«Du schaffst das», sagte er.

So fing es an.