Freitag, 25. August – Samstag, 26. August
In Leggins mit Leoprint, lila Flauschpantoffeln und einem hellgrauen Sweatshirt, das ihr über eine Schulter rutschte, saß Beas Mitbewohnerin im Schneidersitz auf ihrem Bett, das eine Tagesdecke mit leuchtend roten Mohnblüten zierte. Ihr gelbes Haar schlängelte sich bis zur Taille. Das Mädchen weinte.
Mit der Hand am Griff ihres Trolleys stand Bea auf der Türschwelle.
«Alles in Ordnung?», fragte sie.
«Oh Gott, oh Gott. Hi. Hi. Ich bin Early. Logisch.» Ihre neue Zimmergenossin drückte ihre Finger mit den glitzernd lackierten Nägeln gegen die Augenlider. «Als du meintest, du wärst gleich da, dachte ich nicht, dass es so schnell geht. Aber ich bin nicht verrückt, ehrlich.» Sie hüpfte vom Bett, breitete die Arme aus, um Bea zu umarmen, und bemerkte, dass ihre Handflächen voller Mascara waren. «Oh Gott. Ich wasch kurz meine Hände», sagte sie und eilte an Bea vorbei in den Flur.
Durch die wenigen E-Mails, die sie sich über die Sommerferien geschrieben hatten, war bei Bea der Eindruck entstanden, dass ihre Mitbewohnerin vollkommen anders war als sie. Nach ihrem einzigen Telefongespräch im Juli waren ihr die Worte überschwänglich, geschwätzig und extrem um Freundschaft bemüht in den Sinn gekommen. Earlys letzte E-Mail, in der es um die Abstimmung der Farben in ihrem Zimmer ging, hatte Bea ignoriert. Waren alle Südstaatler so?
Bea sah sich um. Auf Earlys Seite des Raums stapelten sich auf Regalen bunte Plastikkisten und nach Farbe geordnete Bücher: Dienstags bei Morrie, Vom Winde verweht, The Brain – Die Geschichte von dir, flankiert von großen Tupperware-Behältern mit der Aufschrift Winterpullover oder Reiseutensilien. Beas Seite hingegen war leer, abgesehen von dem Bett, dem Schreibtisch und dem Stuhl, die das College zur Verfügung gestellt hatte.
Early kam zurück.
«Ist eine lange Geschichte», sagte sie, als sie sich unbeholfen umarmten, «aber kurz gesagt bin ich von allen Studentinnenverbindungen abgelehnt worden. Nicht eine einzige hat auf meinen Antrag auch nur reagiert.» Sie zog die Nase hoch.
Da Bea ein Mädcheninternat besucht hatte, war sie an Tränen ziemlich gewöhnt. Allerdings hatten die Tränen da anderen Dingen gegolten. Ihre Schulkameradinnen an der Porter’s wollten später mal Indiefilme drehen, die Großindustrie bekämpfen oder an die Spitze von Unternehmen, gemeinnützigen Organisationen und Regierungen kommen. Sie maßen Intelligenz an einem gewissen Sinn für Ironie. Ihre Familien setzten auf Anstand und Etikette, also taten sie das auch. Beas Freundinnen weinten wegen Jungs, wegen Mädchen, wegen hoher Erwartungen und der Angst vor dem Scheitern, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Schülerin der Porter’s offen wegen einer Studentenverbindung geweint hätte – obwohl: ein paar von ihnen vielleicht doch.
«Ich bin am Boden zerstört», fuhr Early fort. «Aber mein Gott, das muss super egozentrisch klingen. Also, hast du Hunger? Ich hab hier was zum Naschen.» Early zog einen durchsichtigen Behälter unter ihrem Bett hervor, dessen Beine sie verlängert hatte, um noch mehr Stauraum zu bekommen. «Oder soll ich dir eine Cola holen? Im Flur ist ein Automat. Ich brauche immer eine Cola nach einem Flug, damit mein Magen sich wieder beruhigt.»
«Nein danke, mir geht’s gut.» Bea spürte Earlys Blick, während sie ihren Trolley öffnete. «Sind irgendwelche Kisten für mich angekommen?»
«Oh, das ist das also im Lernbereich?» Sie winkte Bea, ihr zu folgen. Auf dem Weg den Flur hinunter plapperte sie in einer Tour. «Beim Speed-Dating der Erstsemester habe ich ein paar Flyer für dich mitgenommen. Und ich hab dir Platz im Schrank frei gehalten, aber wenn du mehr brauchst, sag es einfach. Ich hab auch noch Bügel übrig.»
Der offene Raum am Ende des Flurs, der etwa die Größe eines Elternschlafzimmers hatte, war vollgestopft mit Beas Sachen.
«Ach du liebe Zeit», flüsterte Bea. Als die Männer im Internat aufgetaucht waren, um ihre Sachen zusammenzupacken und abzutransportieren, war ihr das gar nicht so viel vorgekommen. Ganz anders hatte sie es empfunden, als damals Möbelpacker ihr Haus ausgeräumt hatten, um alles einzulagern («falls du irgendwann was davon haben möchtest», hatte Audrey gesagt). Dass ihr gesamtes Leben innerhalb weniger Stunden in ein paar Kisten verstaut werden konnte! Es ging so schnell und leicht, viel schneller und leichter, als Bea angemessen fand.
«Hast du gedacht, das Zimmer wäre größer?», fragte Early glucksend. «Keine Sorge. Ich hab auch noch einen Satz Böcke fürs Bett.» Sie umarmte eine Kleiderkiste, hob sie hoch und manövrierte sie geschickt durch den Gang. «Wird schon schiefgehen! Willkommen im College!»
In den nächsten Stunden half Early Bea, sich einzurichten. Dabei überhäufte sie sie mit einer Million Fragen: Wo hatte sich Bea noch beworben? Wo war sie angenommen worden? Wie waren die Ergebnisse ihres Eingangstests? Und ihr Notendurchschnitt?
«Ich hatte 1520 Punkte», erklärte Early, «die höchste Punktzahl an meiner Schule, aber mein Notendurchschnitt war nur der drittbeste in meiner Klasse, was scheiße war, weil ich unbedingt Lisa Gardener schlagen und die Rede bei der Abschlussfeier halten wollte. Dass Ross Hughes Jahrgangsbester werden würde, war schon immer klar, weil er wirklich nichts anderes machte als lernen. Er geht nach Yale. Bist du da angenommen worden?»
Wahrheitsgemäß antwortete Bea: 1550 Punkte, fünftbeste ihres Jahrgangs, und ja, sie war in Yale, Harvard und Princeton angenommen worden. Nein, ihre Mom lebte nicht mehr in Connecticut, ihre Mom war tot. Schon gut. Nein, zu ihrem Vater hatte sie keine Verbindung. Ja, sie hatte eine Ersatzfamilie (Audrey wäre begeistert gewesen, wenn sie das gehört hätte). Nein, sie kannte niemanden, der am Carter ein Vollstipendium bekommen hatte, aber sie hatte ein Teilstipendium vom Justice Scholar Program.
«Mein Bruder war auch in dem Programm», nickte Early. «Du bist in Princeton angenommen worden? Für Princeton würde ich das Carter sofort sausenlassen!»
«Was ist dein Hauptfach?», fragte Bea, um das Thema zu wechseln.
Zu ihrer Überraschung war Early Programmiererin. Ihr Hauptfach war Informatik, und sie überlegte, Mathe als zweites Hauptfach zu nehmen. Ihr Bruder war im letzten College-Jahr und in einer Verbindung. Early krümmte sich ein bisschen, als sie das sagte. Sie hatte immer noch schwarze Ränder unter den Augen.
«Wirst du dich bei einer Verbindung bewerben?»
Da Bea den Mund voll von einem von Earlys Müsliriegeln hatte, schüttelte sie nur den Kopf und runzelte verwirrt die Stirn. Die Bewerbungsfrist war längst abgelaufen.
«Ich meine, falls du einer Schwarzen-Verbindung beitreten willst. Da fangen die Bewerbungen erst im Januar an, glaube ich.» Early wirkte nervös, als hätte sie etwas Falsches gesagt. Aber Bea wusste schon, dass die Studentenverbindungen am Carter in Schwarz und Weiß dachten. Die Fotos auf den Flyern hatten das deutlich gezeigt.
«Nein, so was interessiert mich nicht, trotzdem danke», sagte sie.
Gegen zehn wirkte Beas Zimmerseite langsam eingerichtet, vor allem durch die mandarinenfarbene Tagesdecke mit der blauen Bordüre, die sie schon die ganze High-School-Zeit hindurch gehabt hatte. Lorn war schockiert gewesen, dass Bea fürs College keine neue Decke wollte, aber Bea hing an ihrer alten. Sie hatte sie mit ihrer Mom zusammen in der achten Klasse ausgesucht.
Durch die Stunden mit Early und die Müdigkeit von der Reise waren ihre Hemmungen gesunken, sodass sie mit einem Mal ganz offen fragte: «Muss unser Zimmer eigentlich wie ein Verbindungszimmer aussehen, bloß weil du nirgendwo angenommen wurdest?» Als Early die Miene entgleiste, überkam sie ein schlechtes Gewissen. «Sorry, war nur ein Scherz», sagte sie hastig, «ich, äh, liebe Paisleymuster …»
«Du bist eine schlechte Lügnerin», erwiderte Early.
«Nein, ich lüge nicht. Ich scherze nur.»
«Also, ich mag Paisley.»
«Gut. Wenn’s dir gefällt, schön. Ich will bloß nicht irgendeine Verbindung als dritte Zimmergenossin, wenn du noch nicht mal in einer bist.»
«Ha! Darf ich vorstellen: Kappa», erwiderte Early. Und fügte kurz darauf hinzu: «Scheiß auf Kappa.»
«Richtig so!», bekräftigte Bea.
Als sie etwas später im Dunkeln in ihren Betten lagen, bombardierte Lorn Bea mit Nachrichten. WO BIST DU BITTE ANTW DU BAUMELST DOCH NICHT SCHON AM DACHBALKEN?
Mit Selbstmord scherzt man nicht! Nein, ich lebe … noch
Oh, gut. Wie ist Late, deine Mitbewohnerin?
Early war in ihrem Bett ebenfalls mit dem Handy zugange.
Sie ist vieles, antwortete Bea. Darauf reagierte Lorn mit einer ganzen Reihe verzweifelter Emojis.
«Darf ich dir eine Frage stellen?», fragte Early und ließ ihr Handy sinken. «Ich hoffe, ich kränke dich nicht damit.»
Bea wusste schon, was jetzt kam. Sie hatte, seit sie laufen konnte, Privatschulen und Internate in New York und Massachusetts besucht. Als sie in der neunten an der Porter’s anfing, waren nur zwei weitere nicht weiße Schülerinnen in ihrer Klasse gewesen: Adrienne aus LA und Sujita aus Nepal. Sie war immer die Dunkelhäutigste der Klasse gewesen und hatte das in vielerlei Hinsicht zu spüren bekommen: Sie wurde in der Mittelschule als Letzte beim Mathequiz gewählt, hatte beim Abschlussball in der Achten als Einzige keinen Begleiter und wurde sogar offen beschuldigt, Sloan Petersons Parka aus ihrem Zimmer gestohlen zu haben, bloß weil sie den gleichen hatte. So viel zu der Frage, die Early ihr stellen wollte.
«Meine Mutter ist schwarz und mein Vater weiß», sagte Bea.
«Eigentlich wollte ich wissen, wieso du in keine Verbindung willst.»
«Oh», sagte Bea. Wie drückte sie das taktvoll aus? Sie hatte den Eindruck, Studentenverbindungen wären etwas für Mädchen, die keinen Ehrgeiz hatten, Mädchen, die später wie die Mütter von Beas Freundinnen wurden, inklusive Audrey. Sie mochte Audrey sehr, wollte aber auf keinen Fall so werden wie sie. Diese Frauen hatten an Ivy-League-Unis studiert, sogar Jura oder Medizin, und waren dann bereitwillig Hausfrauen geworden, was in Beas Augen nichts anderes bedeutete, als das Personal zu schikanieren, Pilates zu machen und nur um die Ausbildung und Interessen der eigenen Kinder zu kreisen. Bea empfand ihnen gegenüber gleichzeitig Mitleid und Verachtung, weil sie einfach so aufgegeben hatten und ihre erstklassige Ausbildung bestenfalls als schickes Accessoire betrachteten.
«Ich glaube, ich will einfach nur mehr Zeit zum Lernen haben», erklärte Bea.
«Aber es ist echt schwer, hier außerhalb einer Verbindung was zu erleben. Mein Bruder sagt, Partys finden eigentlich nur in Verbindungshäusern statt. Dazu werden dann die anderen Verbindungen eingeladen. Wenn man also in keiner ist … Ich weiß nicht, vielleicht kann man auch einfach so zu einer Party gehen, aber was, wenn nicht?», sagte Early.
«Ach, das wird schon», erwiderte Bea.
«Und was willst du außer den Seminaren fürs Programm machen?», erkundigte Early sich gähnend.
«Physik», antwortete Bea und fragte sich, ob das jetzt jeden Abend so laufen würde – endloses Geplapper, obwohl das Licht schon längst aus war.
Zwei der vier Herbstseminare musste Bea im Rahmen des Justice Scholars Program belegen: JSP, kurz als ‹Justice› bezeichnet, war das Seminar am Freitagvormittag, für das Dr. Friedman jede Woche extra aus New York kam, und den Schreibkurs, den alle Erstsemester am Carter belegen mussten, der für die Mitglieder des Programms aber spezifiziert war und den Titel ‹Der Begriff der Gerechtigkeit weltweit› trug. Die beiden anderen Seminare waren Wahlfächer. Sie hatte sich für ‹Verhaltenspsychologie› entschieden, weil es interessant klang – und weil sie schon an der High School die dafür erforderliche ‹Einführung in die Psychologie› absolviert hatte. Auf ihr viertes Seminar war sie beim Durchforsten des Vorlesungsverzeichnisses gestoßen: ‹Krimis schreiben›. Sie fand, das klang unfassbar cool.
Aber ein paar Tage, bevor sie nach North Carolina flog, war sie nervös geworden. Was, wenn sie doch noch Medizin studieren wollte? Um Mitternacht hatte sie die Krimis kurzerhand gegen Physik getauscht. An der High School war sie ziemlich gut in Physik gewesen. Es hatte ihr Spaß gemacht, über Drehmomente und Geschwindigkeit zu reden.
«Mein Bruder war im ersten Jahrgang des Justice Programs», sagte Early.
«Echt?», murmelte Bea.
«Vor drei Jahren. Aber jetzt hat niemand aus seinem Jahrgang mehr was mit Jura zu tun. Sie haben mittlerweile alle Wirtschaft als Hauptfach und wurden schon für Beraterjobs angeheuert.»
«Mmh.»
«Er meint, man würde ziemlich schnell desillusioniert oder so. Ich weiß nicht mehr genau, wie er das ausgedrückt hat. Im Wesentlichen meinte er, man hätte ziemlich schnell gemerkt, dass Strafrechtsreformen nur Zeitverschwendung sind. Also hab ich ihm erklärt, das Seminar hätte ihm dann immerhin die hunderttausend Dollar fürs Jurastudium erspart, verstehst du?»
Bea war froh, dass es dunkel war, so konnte sie ungehindert die Augen verdrehen. Es war, als würde man sich unheimlich auf eine Reise freuen und jemand würde einem alle Gründe aufzählen, wieso das Reiseziel scheiße war.
«Cool», sagte sie nur und gähnte laut.
Sekunden später schnarchte Early schon, und nur noch das Licht von Beas Handy drang noch durch die Dunkelheit. Sie scrollte durch Instagram, meldete sich bei Facebook an und gab einen Namen ein: Lester Bertrand. Ihr Geheimnis.
Bea wachte früh auf und zog ihre Laufsachen an. Es war bewölkt, als sie sich auf den Weg zu der sechs Meilen langen Joggingstrecke machte, die um den Campus herumführte, wie sie auf der Collegewebsite gelesen hatte. Sie rief ihre Sportplaylist auf. Wie immer, wenn sie zu Beginn ihrer Runde die Musik einschaltete, dachte sie an den Jungen, der sie zum Laufen gebracht hatte. Noah war auf die Avon Old Farms gegangen, die Partnerschule der Porter’s. Beim gemeinsamen Abschlussball hatten sie hinter dem Musikgebäude geknutscht und sich danach ein paarmal getroffen. Er war Langstreckenläufer, hielt aber nichts davon, mit Musik zu laufen. Er meinte, das würde ihn ablenken.
Abgesehen von Noah hatte Bea nur noch mit einem Jungen namens Demetri so etwas wie romantische Erfahrungen gemacht. Nach dem zweiten High-School-Jahr hatte sie ihn in den Sommerferien in East Hampton kennengelernt, und zwar in einer Eisdiele, in der die High-School-Schüler sich nachmittags trafen. Er kam aus Massachusetts und war dort im Abschlussjahr einer Schule, von der sie noch nie gehört hatte. Er kannte Lorn von den Sommerferien in den Hamptons und hatte Bea gleich nach ihrer Nummer gefragt. Sie hatten zwei Abende zusammen verbracht, davon einen zu zweit und einen mit den anderen am Strand. Danach hatte er nicht mehr auf ihre Nachrichten reagiert.
Eines Nachts, als Lorn und ihre andere Freundin Isabel Bea im Bett wähnten, war sie in die Küche gegangen, um sich ein Glas Wasser zu holen, und hatte mitbekommen, wie ihre Freundinnen auf der Terrasse über sie redeten.
«Er meint, sie sei zu verklemmt», sagte Lorn gerade. «Er hatte das Gefühl, mit einer Puppe auszugehen, sie war total passiv. Ich hab ihm gesagt, dass sie wirklich witzig ist, wenn man sie besser kennt.»
Am liebsten hätte Bea sie angeschrien: Meine Mutter ist gerade gestorben! Ich gebe mein Bestes!
Das hatte Demetri nicht gewusst. Aber als Bea in dieser Nacht im Bett lag, dachte sie, selbst wenn, dann hätte er wahrscheinlich sofort vor Angst das Weite gesucht. Die meisten benahmen sich, als wäre Trauer ansteckend.
Ich bin total witzig, wenn man mich näher kennenlernt, ermahnte sie sich im Rhythmus ihrer Laufmusik. In der achten Klasse gab es bei jeder Übernachtungsparty Flaschendrehen. Meredith Welcher zwang die Mädchen ständig dazu, sich im Schrank zu küssen, und behauptete, man könnte dabei Lesben an der Temperatur der Lippen erkennen. Sie war sehr erpicht darauf, Lesben zu outen. Da alle Angst vor Meredith hatten, gehorchten sie, bis Bea eines Abends mit ihr im Schrank landete und eine kalte Jalapeño von ihrer Pizza auf Merediths Lippen drückte. Meredith kreischte, und danach musste niemand mehr in den Schrank.
Außerdem hatte Bea, obwohl sie sich eigentlich immer an alle Regeln hielt, ein paarmal nachsitzen müssen, weil sie der Gelegenheit, die Klasse zum Lachen zu bringen, einfach nicht widerstehen konnte: Einmal, in Mrs. Woods Lateinstunde, entdeckte sie die frisch fertig gestellten, noch klebrig feuchten Pappmaché-Hoden von Pegasus. Das Pferd wurde von den Lateinschülerinnen für die Kunstmesse der Schule gebastelt, sollte natürlich aber keine Hoden haben. Mrs. Wood hatte sie vor der Stunde entfernt und auf ihren Tisch gelegt, in Beas Reichweite. Als Mrs. Wood sich nun ein bisschen zur Seite drehte, um einer Schülerin auf der anderen Seite des Raums eine längere Standpauke zu halten, berührten ihre langen blonden Haare den Schreibtisch. Da hatte Bea den Pferdeeiern einfach einen kleinen Schubs gegeben, sodass sie sich in den Haaren ihrer Lehrerin verfingen. «Was zum …», hatte Mrs. Wood gesagt, als sie ihr Gewicht an den Haaren spürte. Sie stand auf, zog an ihnen, was alles noch schlimmer machte, und schrie: «Sofort die Pferdegenitalien aus meinen Haaren!»
Es war einfach zu verlockend gewesen.
Wie eine Puppe. Also bitte! Sie war eben ein bisschen abwesend gewesen. Als würde sie sich durch Treibsand bewegen. Aber jetzt war sie im Justice Scholars Program!
Nach drei Meilen musste sie pinkeln. Sie rannte schneller, bis sie das Studentenzentrum erreicht hatte, und tupfte sich mit ihrem Sweatshirt den Schweiß vom Gesicht, bevor sie eintrat. Während sie auf der Suche nach einer Toilette durch den langen Flur ging, fiel ihr ein, dass sie bei ihrem ersten Besuch auf dem Campus ein Café am hinteren Ende des Gebäudes bemerkt hatte. Da würde es sicher auch eine Toilette geben. Sie lief an den Briefkästen und einer langen Reihe dunkler Büros vorbei, bis sie beim Café landete. Dort sah sie endlich eine Tür mit zwei aufgeklebten Figuren. Besetzt.
Ihr Handy vibrierte.
Soll ich mit dem Frühstück auf dich warten? Da wird’s bald ziemlich voll, schrieb Early.
Bea wollte gerade antworten, sie solle ruhig ohne sie gehen, da fiel ihr ein Flyer an der Pinnwand auf: C.U.N.T. stand da in Großbuchstaben und darunter: Carter University Nimblest Turtles, die berühmteste Improtruppe im Südwesten! Die zweite Hälfte des Flyers wurde von der Zeichnung einer Schildkröte mit extrem langen Beinen in Yoga-Pose eingenommen. Die nächste Vorstellung der Truppe fand am selben Abend statt.
Hast du Lust, heute Abend zum Improtheater zu gehen?, schrieb sie Early.
OK!!! antwortete Early, da ging die Tür zur Toilette auf, und eine Frau mit blondierten Haaren und grüner Schürze kam heraus.
«Es gibt kein Klopapier, also würde ich mir an deiner Stelle Servietten besorgen», sagte sie zu ihr.
Wäre das nicht dein Job?, dachte Bea und folgte ihr ins Café, um sich welche zu holen.
Die Tür öffnete sich, und ein Student im Carter-Sweatshirt erschien, der den Schlange stehenden Zuschauern zubrüllte: «Kommt rein und setzt euch. Los, los, rückt auf, alle Plätze besetzen!»
Als sich über hundert Menschen in einen Raum schoben, der viel zu klein für sie schien, kam Bea sich vor, als würde sie ein Flugzeug betreten.
«Wenn alle Stühle besetzt sind, setzt euch davor auf den Boden», rief der Student mit dem Sweatshirt.
Early und Bea fanden Plätze ganz vorne auf dem Boden, und als Bea ihre Knie anzog, staunte sie, wie groß das Publikum war.
Um kurz nach sieben senkten sich Dunkelheit und Stille über den Saal. Dann brandete Jubel auf, als die bekannten Eingangstakte von Drake ertönten:
You used to call me on my cell phone
Late night when you need my love
Zu ohrenbetäubendem Applaus wurde es wieder hell, und die Mitglieder der Improtruppe – acht Jungen und ein Mädchen – kamen auf die Bühne gerannt.
Ein pummliger Typ mit glänzend roten Haaren trat vor.
«Willkommen zur ersten C.U.N.T.-Vorstellung des Jahres!» Er wartete, bis Applaus und Jubel abklangen. «Wer zum ersten Mal da ist, hebe mal die Hand!» Schüchtern gehorchten Bea und Early. «Wir freuen uns, heute Abend so viele Erstsemester bei uns zu haben. Wer uns noch nicht kennt, sollte wissen, dass unser Name – C.U.N.T. – nur ein Akronym ist und nicht ein Synonym für Pussy. Wir sind zwar vulgär, aber doch nicht so.»
Gelächter.
«Mal ganz kurz zur Entstehung des Namens: Am Anfang, als wir noch nicht mal eine offizielle Gruppe waren, trafen wir uns dienstags zum Improtheater, just for fun. Eines Nachmittags meinte einer, der angeblich Stephen hieß, aber das weiß ich nicht mit Sicherheit, weil das lange vor meiner Zeit war, also, der meinte: ‹See you next Tuesday›, und merkte gar nicht, dass er damit einen Euphemismus benutzte, und zwar für …» Er hielt inne und flüsterte dann laut: «Cunt. Von da an war C.U.N.T. unser Name. Zur Elternbesuchszeit sind wir natürlich immer die Carter University’s Nimblest Turtles. Das verwirrt die Eltern zwar, aber sie sind wenigstens nicht so geschockt, dass sie ihre Kinder vom College holen, zumindest nicht, dass wir wüssten.»
Er erklärte, die Gruppe würde auf ein Stichwort aus dem Publikum spontan eine Szene spielen. Die gesamte Vorstellung von Anfang bis Ende sei improvisiert; nichts sei im Voraus geplant, geübt oder entschieden worden. Zuerst würde eines der Mitglieder eine wahre Geschichte erzählen, damit die Gruppe Ideen bekomme, mit denen sie spielen könne.
«Könnte ich bitte mal ein paar Charaktereigenschaften hören?», fragte er.
Sofort ertönten laute Vorschläge. Direkt hinter sich hörte Bea: «Narzissmus!» Irgendwo ertönte: «Irrsinn» und «Altruismus»! Als Early schüchtern «Freundlichkeit» rief, musste Bea kichern. Der Rothaarige hatte zuerst «Altruismus» gehört.
«Okay: Altruismus!», entschied er. Die Menge johlte, als er sich ein Stück zurückzog.
Jetzt trat ein großer Junge mit buschigem, braunem Bart vor.
«Als ich auf der Oberschule war – oder High School, wie ihr das nennt …» Er hatte einen britischen Akzent, und Bea ertappte sich dabei, dass sie sich unwillkürlich vorbeugte, um ihn besser sehen zu können, «… hatte ich Angst vor Mädchen. Schreckliche Angst! Ich weiß, was ihr denkt: Alle Jungs haben Angst vor Mädchen. Äh, ja – aber nicht so. Obwohl ich aus einer ganz und gar nicht religiösen Familie stamme und mich auch selbst nicht für Religion interessierte, wurde ich mit meinem Kumpel Fritz Mitglied in einer christlichen Jugendgruppe, nur um mich mit Mädchen treffen zu können, die so fromm waren, dass sie keinen Sex von mir wollten.»
Leises Gelächter.
«Nicht, dass ich keinen Sex wollte. Mir gefiel nur die Vorstellung nicht, ich müsste sofort und auf Kommando geil sein, wenn einem Mädchen nach Sex war. Und da ich wusste, dass Jungs normalerweise anders sind, schämte ich mich ein bisschen. Also, es funktionierte. Ich kam mit einer zusammen, die sich für die Ehe aufsparte, was ich großartig fand, weil ich mich auch aufsparen konnte, ohne dass meine Männlichkeit in Frage gestellt wurde.
Doch dann nahmen die Dinge eine unerwartete Wendung. Als ich an meinem siebzehnten Geburtstag zu ihr ging, stellte ich fest, dass ihre Eltern nicht zu Hause waren, und sie stand vollkommen nackt vor mir. ‹Das ist dein Geburtstagsgeschenk›, verkündete sie. Mein Geburtstagsgeschenk!
Mir blieb nichts anderes übrig, als mit der Wahrheit rauszurücken. Ich sagte: ‹Hör mal, Sally, ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin›, worauf sie natürlich etwas gekränkt war, obwohl ich ihr versicherte, dass es nicht an ihr lag. Sie zog sich wieder an, und wir sahen uns Hautnah im Fernsehen an – eine britische Serie, die ihr bestimmt nicht kennt, aber darin geht es um Teenagerdramen. Und während ich mich so auf dem Sofa fläzte, war ich wirklich sehr erleichtert, versteht ihr? Schließlich war ich ehrlich gewesen und hatte das Gefühl, auf Verständnis und Akzeptanz gestoßen zu sein. Aber dann dachte ich: Vielleicht bin ich doch dazu bereit. Da ich keinen Druck mehr hatte, konnte ich meine echten Gefühle spüren.
Und gerade, als mir das bewusst wurde, sagte sie: ‹Russell, ich bin echt froh, dass es heute nicht passiert ist.› Und ich so: ‹Ja, ich auch.› Und dann fragte sie, ganz ernst und behutsam, als ginge es um etwas Heikles: ‹Wann hast du gemerkt, dass du schwul bist?›»
Tosendes Gelächter.
«Meine nächste Freundin fand die Geschichte witzig», schloss er und machte Platz für das einzige Mädchen in der Gruppe. Als das Lachen verstummte, verschränkte sie die Hände hinter dem Rücken und hob ihr Kinn wie ein Kind beim Buchstabierwettbewerb.
«Altruismus! A! L! T!»
Zwei ihrer Kollegen flitzten herbei und hockten sich vor sie.
«Mr. Nettles, ich weiß, Sie sind dieses Jahr der Leiter des Wettbewerbs, also will ich jetzt nicht herumkritteln, aber finden Sie nicht, dass Sie etwas unfair sind?», sagte der eine zum anderen.
«Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mr. Watts. Unterstellen Sie mir etwa, ich würde Delilah bevorzugen, bloß weil sie meine Nichte ist?»
An diesem Punkt reihten sich drei weitere Improspieler hinter dem Mädchen auf und taten, als wären sie Mitstreiter im Wettbewerb.
«Scarlett!», rief Mr. Watts einen von ihnen auf. «Kannst du uns noch mal die Wörter nennen, die du heute schon buchstabiert hast?»
«Aber gewiss doch!», nickte der Angesprochene. «Exzentrisch. Schifffahrt, Divergenz, Anemone und Supercalifragilisticexpialigetisch.»
«Und du, Marcus?»
«Ich habe Ponton, Rhythmus, Petit-Four, Pyrrhussieg und Klamauk buchstabiert.»
«Danke», sagte Mr. Watts. «Und nun du Delilah, was hast du bis jetzt buchstabiert?»
«Hund! Haus! Eimer! Loch und Land! Und jetzt wollte ich Altruismus buchstabieren!»
Mr. Nettles zuckte die Achseln. «Kommt mir ziemlich fair vor.»
«Aber ich möchte noch etwas zur Begriffsklärung fragen», sagte Delilah. «Ist Altruismus ein Synonym für Nepotismus? Oder hab ich das falsch verstanden, Mr. Watts?»
Sie brach in Gelächter aus, und das Publikum schloss sich ihr an, als Mr. Nettles aufsprang und zum Rand der Bühne rannte, um das Ende der Szene anzuzeigen.
Bea konnte ihren Blick nicht von dem Mädchen lösen. In einer Szene spielte sie einen Radfahrer, der nur rückwärts fahren konnte. Wohin sie auch ging, sie ging immer rückwärts, mit einer Hand auf dem ‹Lenker› und mit der anderen an ihrem ‹Sattel›. Für Letzteren hatte sie einen Hocker besorgt, und zwar vom hinteren Ende des Zuschauerraums. Während das gesamte Publikum wartete, war sie mit dem Hocker über dem Kopf durch die Menschenmasse gepflügt und über einzelne Zuschauer hinweggestiegen. So mutig!
Nach der Hälfte der Vorstellung gab es eine zehnminütige Pause. Beas Po war ganz taub vom Sitzen auf dem kalten Boden, und vom Lachen taten ihr die Kiefermuskeln weh.
«Guck mal, Bea! Da solltest du hingehen.» Early gab Bea einen petrolfarbenen Bogen Kartonpapier, auf dem stand: VORSPRECHEN: Mi, 30.8., 18–22 Uhr. WIR ERMUTIGEN AUSDRÜCKLICH FRAUEN, TRANSGENDER UND SCHWARZE, DENN … AUSSER LESLEY UND RADJ: SEHT UNS NUR AN!
Bea grinste. «Wieso sprichst du denn nicht vor?», fragte sie.
Early schüttelte energisch den Kopf. «Ich bin zwar witzig, aber nicht mutig genug.»
«Und ich bin nicht witzig genug», erwiderte Bea. «Obwohl ich glaube, das eigentlich Witzige ist die Spontaneität. Man muss nicht witzig sein, sondern eher schlagfertig …»
«Ganz genau! Man muss auf Zack sein. Ich könnte dein Groupie werden. Dann komm ich zu allen Vorstellungen, und du bringst mich mit dem rothaarigen Nerd zusammen.» Da wurde das Licht gedimmt, und die Zuschauer strebten auf ihre Plätze zurück.
«Versuch’s doch einfach», sagte Early, als es wieder still im Saal wurde. «Was hast du schon zu verlieren?»