Die »Sachbearbeitung« ist kaum der Rede wert. Ich werde gescannt, fotografiert, gewogen und meine Fingerabdrücke werden genommen.
Wie sich herausstellt, ist die »Entlassung« der schwierigere Teil. Die Schwester erklärt mir auf dem Weg, dass ich meine Mutter und meinen Vater begrüßen muss, dass sie und ich ein paar Formulare unterschreiben werden, die belegen, dass wir jetzt alle eine große wundervolle Familie sind, und wir dann gemeinsam nach Hause fahren werden, um für immer glücklich miteinander zu leben. Natürlich springt mir das Problem sofort ins Auge: Was, wenn sie mich sehen und sich plötzlich weigern zu unterschreiben? Was dann?
»Steh gerade! Und lächle«, zischt die Schwester und schiebt mich durch die Tür.
Ich setze ein breites Lächeln auf, obwohl ich genau weiß, dass es aus einer ängstlichen und traurigen Kyla keine engelsgleiche und glückliche Erscheinung macht.
Kaum bin ich über die Schwelle getreten, bleibe ich wie angewurzelt stehen: Da sind sie. Ich hatte irgendwie damit gerechnet, dass sie dort stehen würden wie auf dem Foto, in den gleichen Klamotten, wie Puppen. Aber alle drei tragen unterschiedliche Kleidung, sie stehen anders und tausend Details kämpfen um meine Aufmerksamkeit. Es ist alles zu viel für mich. Der Anblick meiner neuen Familie droht mich zu überwältigen, sodass ich wieder in den roten Bereich abrutsche, obwohl immer noch der Happy Juice durch meine Adern fließt. Ich höre die gelangweilte Stimme meiner Lehrerin mit dem ewig gleichen Mantra, als stünde sie direkt neben mir: Eins nach dem anderen, Kyla.
Also konzentriere ich mich auf ihre Augen und hebe mir den Rest für später auf. Dads Augen sind grau, rätselhaft und zurückhaltend. Mums Augen haben kleine Flecken auf hellem Braun – es sind ungeduldige Augen, die mich an die von Dr. Lysander erinnern. Augen, denen nichts entgeht. Und meine Schwester ist auch da: große, dunkle, fast schwarze Augen sehen mich neugierig an, umrahmt von schimmernder Haut wie brauner Samt. Als das Foto vor ein paar Wochen geschickt wurde, wollte ich wissen, warum Amy so anders aussieht als meine Eltern und ich, aber sofort wurde ich zurechtgewiesen, dass die ethnische Herkunft ohne Bedeutung sei und unter der wunderbaren Zentralkoalition keiner Erwähnung mehr wert sei. Aber wie kann man so etwas übersehen?
Die drei sitzen an einem Tisch, zusammen mit einem fremden Mann. Alle Augen sind auf mich gerichtet, aber niemand sagt ein Wort. Mein Lächeln fühlt sich immer unnatürlicher an, wie ein Tier, das gestorben ist und jetzt mit einer Todesfratze auf meinem Gesicht klebt.
Dann springt Dad von seinem Stuhl auf. »Kyla, wir freuen uns so, dass du jetzt zu unserer Familie gehörst.« Lächelnd nimmt er meine Hand und küsst mich auf die Backe. Seine Wange mit den Bartstoppeln fühlt sich rau an, aber sein Lächeln ist warm. Und echt.
Dann kommen auch Mum und Amy zu mir und alle drei überragen mich mit meinen ein Meter fünfzig. Amy hakt sich bei mir ein und streicht über mein Haar. »So eine schöne Farbe, wie goldener Weizen. Und so weich!«
Mum lächelt nun auch, aber ihr Lächeln gleicht meinem.
Der Mann am Tisch räuspert sich und raschelt dann mit irgendwelchen Papieren. »Würden Sie bitte unterzeichnen?«
Und Mum und Dad unterschreiben dort, wo er hinzeigt. Dann reicht Dad mir den Stift.
»Deine Unterschrift, Kyla«, sagt der Mann und tippt auf eine leere Linie am Ende des langen Dokuments. »Kyla Davis« ist darunter getippt.
»Was ist das?«, will ich wissen, und die Worte kommen aus meinem Mund, ehe ich denken kann, bevor ich spreche, wie Dr. Lysander es mir immer wieder eingeschärft hat.
Der Mann am Tisch hebt eine Augenbraue, während sich auf seinem Gesicht erst Überraschung und dann Verärgerung spiegelt. »Das Standardformular für die Entlassung aus der stationären Behandlung in den externen Vollzug. Unterzeichne.«
»Kann ich es erst lesen?«, frage ich, denn eine merkwürdige Sturheit in mir treibt mich an, obwohl ein anderer Teil von mir schlechte Idee flüstert.
Die Augen des Mannes werden schmaler, dann seufzt er. »Ja, das kannst du. Dann warten jetzt bitte alle, bis Miss Davis ihrem Rechtsanspruch nachgekommen ist.«
Ich blättere das Dokument durch, aber es hat über zehn Seiten, die so eng bedruckt sind, dass alles vor meinen Augen verschwimmt und mein Herz wieder rast.
Dad legt mir eine Hand auf die Schulter und ich drehe mich um. »Das ist schon in Ordnung, Kyla. Nur zu«, sagt er ruhig.
Auf ihn und Mum muss ich ab jetzt hören. Ich erinnere mich, dass das eine der Regeln ist, die mir eine Schwester letzte Woche geduldig zu erklären versucht hat. Und es ist Teil dessen, was im Vertrag steht.
Ich werde rot und unterzeichne: Kyla Davis. Nicht mehr nur Kyla – der Name, den eine Beamtin für mich ausgesucht hat, als ich hier vor neun Monaten zum ersten Mal die Augen aufschlug. Und jetzt habe ich außerdem einen richtigen Nachnamen, der zu mir gehört und mich zum Teil einer Familie macht. Das steht auch irgendwo im Vertrag.
»Lass mich das tragen«, sagt Dad und nimmt meine Tasche. Amy hakt sich wieder bei mir ein und wir gehen durch die letzte Tür.
Und einfach so lassen wir alles hinter uns, was ich kenne.
Sie fragen sich wahrscheinlich, wie sie zu zwei Töchtern gekommen sind, die so überhaupt nicht zusammenpassen. Und das hat noch nicht mal mit der Hautfarbe zu tun, die man ja sowieso nicht bemerken darf.
Amy sitzt auf der Rückbank neben mir: groß, attraktiv und drei Jahre älter als ich. Ich bin klein und dünn und habe feine blonde Haare – ihre sind dunkel, dick und schwer. Sie ist eine Granate, wie einer der Pfleger immer eine Schwester genannt hat, auf die er stand. Und ich bin …
Mein Gehirn sucht nach einem Wort für das Gegenteil von Amy, aber es kommt nichts. Vielleicht ist das aber auch schon die Antwort: Ich bin ein leeres, langweiliges Blatt Papier.
Amy trägt ein fließendes, rot gemustertes Kleid mit langen Ärmeln, aber sie hat einen davon hochgeschoben, sodass ich das Levo an ihrem Handgelenk sehen kann. Meine Augen weiten sich vor Überraschung: Sie wurde auch geslated. Ihr Levo ist ein älteres Modell, groß und dick im Vergleich zu meinem, das nur aus einer schmalen Goldkette mit einem kleinen Display besteht und aussehen soll wie eine Armbanduhr oder ein Armkettchen. Aber darauf fällt natürlich niemand rein.
»Ich freu mich so, dass ich jetzt eine Schwester habe«, sagt Amy, und es muss stimmen, denn auf ihrer Digitalanzeige steht 6,3.
Wir kommen zur Pforte – hier halten mehrere uniformierte Männer Wache. Einer tritt ans Auto, die anderen sehen hinter der Glasscheibe zu. Dad drückt auf ein paar Knöpfe und alle Autofenster und der Kofferraum gehen auf.
Mum, Dad und Amy ziehen ihre Ärmel hoch und halten ihre Hände aus den Fenstern, also tue ich das Gleiche. Der Wächter schaut auf Mums und Dads leere Handgelenke und nickt, geht dann zu Amy und hält ein Ding an ihr Levo, bis es piept. Dann macht er dasselbe mit meinem Levo. Er wirft einen Blick in den Kofferraum und schließt ihn wieder.
Eine Schranke geht auf und wir dürfen passieren.
»Kyla, was möchtest du heute machen?«, fragt Mum.
Mum ist rund und spitz, nein, das ist kein Scherz. Ihr Körper ist rund und weich, aber ihr Blick und ihre Worte sind spitz.
Der Wagen fährt auf die Straße und ich drehe mich um. Ich kenne das Krankenhaus gut, aber nur von innen. Das Gebäude ist riesig – ich sehe endlose Reihen von vergitterten Fenstern. Hohe Zäune und Türme mit Wachen, die auf und ab patrouillieren, markieren die Grenzen des Klinikgeländes. Und …
»Kyla, ich habe dich etwas gefragt!«
Ich schrecke hoch. »Ich weiß es nicht«, sage ich vorsichtig.
Dad lacht auf. »Natürlich nicht, Kyla, keine Sorge.« Dann wendet er sich an Mum: »Kyla weiß nicht, was sie unternehmen möchte, denn sie hat ja nicht einmal eine Vorstellung davon, was man unternehmen kann.«
»Also komm, Mum, das weißt du doch«, sagt Amy und schüttelt den Kopf. »Lasst uns direkt nach Hause fahren. Sie soll sich erst ein bisschen an alles gewöhnen, hat die Ärztin gesagt.«
»Ja, Ärzte wissen immer alles«, seufzt Mum, und ich kapiere, dass dieses Thema wohl schon häufiger zur Diskussion stand.
Dad schaut in den Spiegel. »Kyla, weißt du, dass 50 Prozent aller Ärzte die schlechtesten Schüler ihres Jahrgangs waren?«
Amy lacht.
»Also ehrlich, David«, protestiert Mum, aber sie lächelt auch.
»Kennt ihr den Witz von dem Arzt, der links nicht von rechts unterscheiden konnte?«, beginnt Dad und zählt eine lange Liste von Operationsfehlern auf, von denen ich hoffe, dass sie nie in meinem Krankenhaus passiert sind.
Aber bald vergesse ich alles um mich herum und starre nur noch aus dem Fenster.
London.
Ein neues Bild entsteht in meinem Kopf. Das New London Hospital verliert seinen zentralen Platz in meinen Gedanken und versinkt in einem weiten Meer. Straßen, die immer weiter und weiter führen, Autos, Gebäude – alles ist voller Leben. Zum Trocknen aufgehängte Wäsche auf Balkonen und Vorhänge, die aus Fenstern herauswehen. Überall: Menschen – in Autos und auf der Straße. Menschenmassen und Läden und Büros und immer noch mehr Menschenmassen, die in alle Richtungen strömen und die Wachleute ignorieren, die an den Straßenecken stehen, wenn auch immer seltener, je weiter wir uns vom Krankenhaus entfernen.
Dr. Lysander hat mich oft gefragt, warum ich den Drang habe, alles zu beobachten und alles wissen zu wollen, um es mir einzuprägen und jeden Bezugspunkt und jede Position zu merken.
Doch die Antwort ist, dass ich es nicht weiß. Vielleicht will ich mich nicht leer fühlen. Es fehlen so viele Details, die ergänzt werden müssen.
Schon nach wenigen Tagen in der Klinik – sobald ich wieder wusste, wie man einen Fuß vor den anderen setzt, ohne hinzufallen – bin ich jedes frei zugängliche Stockwerk abgegangen, habe Flure und Türen gezählt und als Bilder in meinem Gehirn gespeichert. Ich hätte danach jedes Schwesternzimmer, jedes Labor und jeden anderen Raum blind wiedergefunden. Und auch jetzt noch schließe ich meine Augen und sehe alles vor mir.
Aber London ist anders. Eine ganze Stadt. Ich müsste jede einzelne Straße entlanggehen, um das Bild zu vervollständigen. Doch wir scheinen den direkten Weg nach Hause zu nehmen, in ein Dorf, eine Stunde westlich von London.
Natürlich habe ich in der Krankenhausschule Landkarten und Fotos gesehen. Stundenlang haben sie uns jeden Tag mit so viel Allgemeinwissen gefüttert, wie unsere leeren Gehirne aufnehmen konnten, um uns auf unsere Entlassung vorzubereiten.
Wie anders das doch war. Ich habe mich auf jede Information gestürzt und sie mir eingeprägt und gezeichnet, mir alles in meinem Notizbuch aufgeschrieben, damit ich nichts vergessen würde. Doch die meisten anderen waren weniger aufnahmebereit. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, alles und jeden breit und dämlich anzugrinsen. Denn als wir geslated wurden, haben sie die Ausschüttung unserer Glückshormone manipuliert und erhöht.
Wenn sie also auch mein Hormonlevel verändert haben, muss ich vorher bei null gewesen sein.