»Wo seid ihr gewesen?« Mum wartet mit verschränkten Armen in der Tür.
»Ich hab dir doch gesagt, dass wir einen Spaziergang machen«, antwortet Amy, als wir durch die Tür treten und unsere Schuhe abstreifen.
»Eure Schuhe sind voller Matsch. Ihr seid doch nicht etwa allein den Wanderweg hochgegangen? Ich hab dich gewarnt, dass er nicht sicher ist.«
»Wir waren ja auch nicht allein unterwegs.« Amy steht mit dem Rücken zu Mum und verdreht die Augen.
»Kyla? Ist das wahr?« Mum wendet sich mit einem 1-A-Drachenblick an mich.
»Ja«, antworte ich. Und es stimmt: Jazz war ja dabei. Er ist zwar nicht mit uns zurückgegangen, aber das hat sie mich auch nicht gefragt.
»Hört mal, ihr beiden. Ihr wisst, dass es für euch zwei allein dort viel zu gefährlich ist. Ihr könnt nicht aufeinander aufpassen. «
Amy nickt und ich muss an die Unterrichtsstunden über Persönliche Sicherheit im Krankenhaus denken. Das ist eine Folge des Slatings: Man kann sich nicht mehr selbst verteidigen, genauso wenig wie man jemanden von sich aus angreifen kann. Also muss man doppelt vorsichtig sein.
Aber was gibt es denn auf dem Wanderweg, außer Bäumen und noch mal Bäumen?
»Ihr wart eine Ewigkeit unterwegs. Ich habe mir Sorgen gemacht. Und ihr hättet beinah Dad verpasst«, sagt Mum, und ich bemerke, dass neben ihr im Flur ein Koffer steht.
Ihre Arme sind immer noch verschränkt, und jetzt sehe ich, dass ihre Haut eine seltsame Färbung hat – ein schwaches Drachengrün. Ich kann mir Schuppen in den leicht gezackten Linien auf ihrer Stirn, um die Augen herum vorstellen. Und kommt da sogar ein wenig Rauch aus ihren Nasenlöchern?
»Was ist so lustig, Madame?«, fragt sie mich.
Ich wische das Lächeln aus meinem Gesicht. »Nichts. Tut mir leid.«
»Lass doch das arme Mädchen in Ruhe«, sagt eine Stimme aus dem Wohnzimmer – es ist Dad.
Amy geht zu ihm hin und küsst ihn auf die Wange. Ich stehe unsicher in der Tür.
»Komm rein, Kyla. Setz dich. Erzähl mir von deinem Tag und ich erzähl dir von meinem.«
Also tauschen wir unsere Erlebnisse aus. Und Dad scheint sich tatsächlich genauso sehr dafür zu interessieren, dass ich mir in die Hand geschnitten habe, dass uns Penny besucht hat und wir einen Spaziergang gemacht haben, wie ich mich für ihn interessiere.
Dad arbeitet mit Computern. Er reist viel, installiert und testet neue Systeme und muss auch gleich heute Abend wieder abreisen. Er kommt erst Samstag wieder und wird ganze fünf Tage unterwegs sein. Dann erzählt er mir von seiner Familie. Er hat zwei Schwestern – eine kommt mit ihrem Sohn am Samstag vorbei, also werde ich sie kennenlernen. Die andere lebt weiter weg in Schottland und wir besuchen sie vielleicht nächsten Sommer. Außerdem berichtet er mir, dass Mum ein Einzelkind ist – ihre Eltern sind vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Damals war sie erst 15.
»Amy, das ist …«, sage ich und halte das Blatt hoch, »Dr. Lysander. Warum warst du so überrascht, dass ich sie kenne?«
Amy nimmt mir die Zeichnung aus der Hand.
»Sie sieht Furcht einflößend aus!«
Ich zucke mit den Schultern. »Das kann sie auch sein. Aber manchmal ist sie okay.«
»Ich würde wahnsinnig gern für sie arbeiten, wenn ich einmal Krankenschwester bin. Sie ist einfach unglaublich.«
»Warum?«
»Weißt du das nicht? Sie hat Slating ins Leben gerufen. Sie hat es quasi erfunden. Das haben wir in Bio in der Schule gelernt.«
Ich schaue auf das Bild in meinen Händen, auf ihren verschleierten Blick, der mich fixiert. Das wusste ich nicht. Oder doch? In der Klinik ging jeder Dr. Lysander aus dem Weg. Alle Slater hatten im Krankenhaus einen Arzt, der für sie zuständig war, und ich war eben ihr zugeteilt. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, war nie jemand anders mit mir im Wartezimmer. Niemand, den ich kannte, hatte mit ihr zu tun. Wenn sie so wichtig ist, warum hat sie sich dann ausgerechnet um mich gekümmert?
In der Krankenhausschule haben sie uns die Hintergründe des Slatings erklärt. Wir waren alle Kriminelle, die dazu verurteilt worden waren, geslated zu werden – das heißt, dass unser Gedächtnis und unsere Persönlichkeit gelöscht wurden –, damit wir noch mal von vorn beginnen konnten. Das Levo stellt sicher, dass unsere Wiedereingliederung kontrolliert verläuft, bis es in dem Jahr, in dem wir 21 werden, entfernt wird, und zwar am Jahrestag unseres Slatings. Das Ganze ist also eine zweite Chance, für die wir dankbar sein dürfen – wir mussten dafür nicht ins Gefängnis oder auf den elektrischen Stuhl.
Aber im Gefängnis wüsste man zumindest, wer man ist. Bei dem elektrischen Stuhl wiederum nicht mehr sehr lange, zumindest nicht, wenn man etwas getan hätte, das schlimm genug ist, um die Todesstrafe zu rechtfertigen.
Ich beiße mir auf die Lippe. »Willst du es denn nie wissen?«
»Was?«
»Warum du geslated wurdest.«
»Nein. Wenn die Vergangenheit unerträglich ist, warum sollte man sie dann ertragen wollen?«
Ich zucke die Schultern. Weil sie mir gehört.
»Jedenfalls löst das das Rätsel, was mit deinen Zeichnungen geschehen ist.«
»Ach ja?«
»Die Sicherheitsleute müssen sie an sich genommen haben, bevor du die Klinik verlassen hast. Sie wollen nicht, dass irgendjemand weiß, wie Dr. Lysander oder andere Angestellte aussehen oder wie das Krankenhaus aufgeteilt ist. Das ist zu gefährlich.«
Mitgehörtes Geflüster vermischte sich in meinem Kopf, Gerüchte, Gesprächsfetzen und ferner Lärm in der Nacht. Wächter und Türme. Ausgebrannte Gebäude.
»Wegen der Terroristen?«
»Genau.«
Amy knipst das Licht aus. Bald verrät mir ihr ruhiger Atem, dass sie schläft. Sebastian kuschelt sich an meine Seite.
Aha. Dr. Lysander ist also wichtig, und sie haben meine Zeichnungen gestohlen, um ihr Gesicht vor der Welt zu verbergen. Und jetzt habe ich sie noch einmal gemalt. Vielleicht sollte ich das Bild besser verstecken? Das Porträt von ihr ist das beste, das ich jemals gemalt habe.
Obwohl ich die falsche Hand benutzt habe.
Im Schneidersitz hocke ich auf dem Boden. Ich bin hungrig und alles ist kalt und feucht. Meine Beine werden steif, und es ist nicht genug Platz, um sie auszustrecken, aber das ist mir egal. Das Papier liegt ausgebreitet auf einem Stück Holz auf meinen Knien. Der Bleistift fliegt über die Seite, ein magischer Tanz, den nur ich kontrolliere. Ich schaffe einen imaginären Ort, der weit von hier ist, räumlich wie zeitlich – ein Ort, an den ich mich zurücksehne.
Ich bin so ins Zeichnen vertieft, dass ich zunächst die Schritte nicht höre, die die Treppe über meinem Kopf herunterkommen. Ich knipse die Taschenlampe aus und halte den Atem an.
Die Schritte stoppen – Stille. Dann setzen sie wieder ein und kommen meinem Versteck immer näher. Ich sollte etwas tun, mein Bild verstecken, irgendetwas, aber ich bin wie gelähmt.
Ein Licht geht an und blendet mich.
»Hier bist du.«
Ich sage nichts. Er kann alles sehen – die Zeichnung, den Bleistift. Die Hand, die ihn hält.
»Steh auf!«, schreit er mich an.
Ich krieche aus meinem Versteck, das Licht brennt immer noch in meinen Augen.
»Du kennst die Gründe. Du weißt, wie wichtig das hier ist. Und trotzdem gehorchst du nicht.«
»Tut mir leid. Ich werde es nicht wieder tun. Sicher nicht. Versprochen! «
»Ich habe genug von deinen Versprechungen. Man kann dir nicht trauen.«
Seine Stimme ist voller Bedauern. Traurigkeit sogar.
»Gib mir deine linke Hand«, befiehlt er mir, und als ich nicht gehorche, greift er danach.
»Du musst lernen. Es tut mir leid.«
Und ich glaube schon fast, dass er das wirklich so meint, bis er meine Finger zertrümmert, einen nach dem anderen, mit einem Ziegelstein.