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»Bist du dir sicher, dass es in Ordnung ist, wenn du auf alle beide aufpassen musst?«, fragt Mum und dreht sich an der Tür noch mal um.

»Ja, hab ich doch gesagt«, meint Amy. »Geh nur.«

Ich selbst bin nicht wirklich überzeugt davon. Das Geschrei löst bei mir Kopfschmerzen aus. Wie kann jemand, der so klein ist, nur so laut sein?

Die Tür wird zugezogen, und durchs Fenster sehe ich Mum und Dad die Straße hinab zum Pub gehen, zusammen mit Dads jüngerer Schwester, unserer Tante Stacey, die vollkommen immun zu sein scheint gegen das Gekreische ihres kleinen Sohnes.

Der Schreihals zieht rasselnd den Atem ein, um seine Lungen für eine weitere Lärmattacke zu füllen.

Amy beugt sich zu ihm herunter. »Robert, möchtest du einen Keks?«

Seine Lippen zittern. Amy streckt die Hand aus und er sieht zu ihr auf. Unentschlossenheit huscht über sein tränenverschmiertes Gesicht. Amy nimmt ihn hoch und geht mit ihm in die Küche. Sekunden später kichert er und mampft auf dem Boden Kekse.

»Wie schafft er es bloß, innerhalb von einer Minute von Heulen in Lachen zu wechseln?«

»Er ist ja noch ein Baby – einfach abzulenken.«

Sebastian spaziert herein, wirft einen Blick auf Robert und springt außer Reichweite auf die Arbeitsfläche.

»Miezi?« Robert deutet mit seinem dicken Zeigefinger auf ihn. »Miezi!«

Er lässt seinen Keks fallen, zieht sich an einem Stuhlbein hoch und schaut aufgeregt zu Sebastian. Er geht ein paar Schritte, stolpert dann über seine eigenen Füße und fällt. Sein Gesicht verzieht sich.

»Alles in Ordnung, Robert!« Amy hebt ihn schnell hoch und hält ihn so, dass er mit einer Hand Sebastian berühren kann, der das Ganze stoisch über sich ergehen lässt.

»Die Miezi schön streicheln, so.« Amy zeigt Robert, wie es geht – wie mir an meinem ersten Tag.

Aber Robert versteht es trotzdem nicht, er piekt die Katze mehr, als sie zu streicheln, und fährt dann in die falsche Richtung, sodass sich das Fell aufstellt. Schließlich springt Sebastian von der Arbeitsfläche und flieht durch die Katzenklappe.

Amy setzt Robert auf ihr Knie und beginnt, ihn zu kitzeln, bevor er sich wieder aufregen kann. Es scheint zu funktionieren, denn er kichert.

Eine Stunde lang schlagen wir mit Holzlöffeln auf Töpfe und machen Schranktüren auf und zu. Dann reibt sich Robert die Augen und schläft selig in Amys Armen ein.

»Tee?«, fragt sie und ich setze Wasser auf.

Amy dreht sich in ihrem Stuhl, und ich merke, wie sie mich beobachtet. Wie Mum gesagt hat – sie passt auf uns beide auf. Als ob ich mir jede Sekunde am Herd die Hand verbrennen könnte oder Gefahr laufe, ins Schwanken zu geraten und auf den Hintern zu fallen wie Robert.

Penny meinte zu Mum, ich sei wie ein kleines Kind. Aber man muss sich zum Vergleich nur Robert ansehen – er lernt nicht so schnell wie ich. Er kann noch nicht einmal die Katze richtig streicheln. Amy hat erzählt, dass er schon vor ein paar Wochen die ersten Schritte gemacht hat, aber er fällt trotzdem noch um. Er ist schon ein Jahr alt, aber kann kaum sprechen.

Als ich geslated wurde, konnte ich nach ein paar Wochen laufen, ohne zu schwanken, und habe nur wenige Tage nach meinem ersten Wort in ganzen Sätzen gesprochen. Ich war schneller als viele andere, okay, allerdings konnten selbst die Langsamsten innerhalb von einem Monat einfache Unterhaltungen führen.

Meine Erinnerungen sind weg, aber Teile von mir besitzen immer noch eine Art Gedächtnis. Mein Körper, meine Muskeln – und meine linke Hand mit dem Bleistift. Ich wusste sofort, was ich zu tun hatte, als der Stift erst einmal dort lag. Also ist es nicht das Gleiche, wenn man wie ein Baby ganz von vorn anfangen muss, sondern man braucht nur den richtigen Auslöser, um Dinge wieder tun zu können, die man vergessen hat. Wer weiß, zu was ich noch alles fähig bin?

Ich stelle die Teetassen auf den Tisch und setze mich.

»Mein Arm schläft schon ein. Kannst du vielleicht kurz seinen Kopf halten?« Amy dreht sich zu mir, und ich schiebe meine Hand unter Robert, während sie sich anders hinsetzt. Er wacht nicht auf.

»Danke. Ist er nicht wundervoll?«, fragt sie.

Ich zucke ohne viel Überzeugung mit den Schultern. »Er ist mir zu laut, wenn er wach ist. So gefällt er mir besser.«

»Stimmt. Wie er seiner Mutter hinterhergeheult hat …«

»Sie schien kein großes Problem damit zu haben, ihren Sohn alleinzulassen. Sie und Mum sind regelrecht aus dem Haus geflohen.«

»Ja. Mum findet es anstrengend, wenn Robert hier ist.«

Das ist mir auch aufgefallen, aber nicht wegen der offensichtlichen Dinge, wie etwa seinem Geschrei und dass man die Windeln wechseln muss. Mum schien so viel Raum wie möglich zwischen ihn und sich bringen zu wollen – und zwar am liebsten so schnell wie möglich. Sie war es auch gewesen, die vorgeschlagen hatte, in das Pub zu gehen und Robert bei Amy und mir zu lassen.

»Warum hat sie ein Problem mit Robert?«

»Ich weiß nicht, ob ich das erzählen sollte.«

»Was denn? Sag schon.«

Amy schaut mich lange an und nickt irgendwann. »Okay, aber das ist ein Familiengeheimnis. Du darfst es niemandem weitererzählen.«

»Alles klar.«

»Tante Stacey hat es mir letzten Frühling anvertraut, als ich bei ihr zum Babysitten war. Mum hat keine Ahnung, dass ich das alles weiß. Aber bevor Mum und Dad sich kennengelernt haben, war Mum mit jemand anderem zusammen, und sie hatten einen Sohn, der Robert hieß. Sie trennte sich von Roberts Vater, als ihr Sohn noch klein war. Stacey war damals mit Mum befreundet, so hat sie auch Dad kennengelernt. Kurz nachdem sie Dad geheiratet hat, ist Robert gestorben. Stacey nannte später ihr eigenes Baby Robert, nach dem Sohn von Mum. Sie hat es nett gemeint, aber ich glaube, immer wenn Mum Robert sieht, muss sie an ihr verstorbenes Kind denken.«

»Wie schrecklich!« Meine Kehle zieht sich zusammen. Erst ihre Eltern, als sie 15 war. Und Jahre später stirbt dann auch noch ihr Sohn. Kein Wunder, dass sie so ein Drachen ist.

Amy scheint dasselbe zu denken wie ich. »Ich weiß, dass Mum sehr schwierig sein kann, aber es gibt Gründe dafür.«

»Sie spricht nie über ihren Robert, oder?«

»Nie. Zumindest nicht mit mir.«

Ich schaue zu Amy und bin ziemlich verwirrt. Alles an Mum ist ein einziger Widerspruch. Man sieht ihr ihre Gefühle immer an, trotzdem versteckt sie all ihren Schmerz in sich.

»Ich verstehe sie nicht«, sage ich schließlich.

»Glaub mir: Du wirst besser mit ihr klarkommen, wenn du einfach sagst, was du denkst, genau wie sie es macht. So tickt sie eben.«

Bald hören wir von draußen Stimmen und Schritte.

Amy hält sich einen Finger an die Lippen und ich nicke.

Die Haustür wird geöffnet und einen Augenblick später treten Mum und Tante Stacey in die Küche.

»Da ist ja mein Kleiner.« Tante Stacey sieht aus, als hätte sie Robert wirklich vermisst. Sie nimmt ihn aus Amys Armen und wünscht allen eine gute Nacht.

»Wo ist Dad?«, fragt Amy.

Mum verdreht die Augen. »Er wurde angerufen – irgendein Notfall bei der Arbeit. Er musste während des Essens aufbrechen.«

Mum beginnt, Roberts Kekskrümel zusammenzukehren. Jetzt, da die Luft wieder rein ist, schlüpft Sebastian durch die Katzenklappe in die Küche und streicht um Mums Knöchel. »Abendessen für dich?«, fragt sie ihn und greift nach einer Dose im Regal. In diesem Moment entdeckt sie unser schmutziges Teegeschirr neben der Spüle.

»Es hätte euch sicherlich nicht umgebracht abzuspülen, oder?«, geht uns Mum an.

Ich zucke zusammen und muss mich zurückhalten, um nicht sofort aufzuspringen und mich an den Abwasch zu machen. Denn Mum würde die ganze Zeit danebenstehen und zusehen und mir ständig sagen, was ich falsch mache. Aber dann meldet sich eine Stimme in mir: Sag ihr, was du denkst.

»Wir hatten alle Hände voll damit zu tun, auf Robert aufzupassen«, sage ich.

Mum dreht sich mit erstauntem Blick zu mir und mustert mich. Dann nickt sie.

»Wohl wahr, das ist kein Kinderspiel. Ein Glück, dass du nicht in Windeln zu uns gekommen bist«, meint sie lachend. Und ich lache mit ihr. Amy zwinkert mir zu, als Mum gerade nicht hinsieht. Zum ersten Mal bin ich in ihrer Gegenwart fast entspannt.

Als Amy und ich uns schon von Mum verabschiedet haben und auf dem Weg in unsere Zimmer sind, dreht sich Amy noch einmal auf der Treppe um.

»Jetzt hätte ich es beinahe vergessen. Mum, dürfen wir morgen zur Thame Show gehen?«

Die Landwirtschaftsschau – hatte nicht Ben vorgeschlagen, sich dort zu treffen? Dass ich mit ihm und Tori hingehen soll? Ich drehe mich um und schaue zu Mum.

Sie legt ihr Buch weg. »Mit wem wollt ihr denn hingehen?«

»Alle besuchen die Schau, Mum. Du weißt schon, Debs, Chloe, Jazz – einfach alle.«

Ihr Blick verengt sich. »Na ja, wenn alle hingehen … spricht wohl nichts dagegen. Aber ich bringe euch hin.«

»Danke«, sagt Amy laut, aber ihr Gesicht sagt etwas anderes.

Sie schließt die Tür, als wir oben in meinem Zimmer sind, und verdreht die Augen. »Ich kann nicht glauben, dass sie immer noch darauf besteht, uns hinzubringen. Als wären wir zwölf

»Sie wirkte misstrauisch.«

»Weshalb wohl?«, fragt Amy und lacht. »Wenn du mich und Jazz meinst, vergisst du wohl die Hälfte.«

»Was meinst du damit?«

Sie wirft mir ein Kissen an den Kopf. »Ben natürlich!«

»Was!?«

»Er hat mich gestern in der Schule angesprochen. Ob du morgen mit zur Show kommen darfst. Ich glaub, du hast ganz schön Eindruck auf ihn gemacht.«

»Oh.«

»Nur ›oh‹? Er ist doch ziemlich süß, oder nicht?«

»Wahrscheinlich schon.« Natürlich ist Ben süß – nicht einfach nur süß, sondern eine ganz andere Liga. Und da ist noch etwas anderes, irgendein Gefühl, das ich nicht benennen kann. Aber es hat keinen Sinn, mir Hoffnungen zu machen, solange es Tori gibt.

»Sogar ein paar Mädels aus meiner Stufe stehen auf ihn. Aber soweit ich weiß, hat ihn bisher keine gekriegt.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich glaube, er hat alle Hände voll mit Tori zu tun.«

»Das bezweifle ich. Sie ist nicht sein Typ.«

»Warum nicht? Sie sieht umwerfend aus.« Und das tut sie wirklich, vor allem, wenn sie lächelt. Sie hat einen perfekten Körper und langes, fließendes schwarzes Haar. Sie könnte als Model arbeiten, wenn das nicht zu den Dingen gehören würde, die uns Slatern nicht erlaubt sind.

»Das weiß ich einfach. Sie ist verbittert und verkorkst. Ben hingegen ist nett. Es ist offensichtlich, dass die beiden nicht zusammenpassen.«

»Na ja, wenn das so ist, dann ist ihr das nicht klar.«

Amy lacht. »Dann ist sie bescheuert. Aber sie wird es schon auch noch irgendwann kapieren.«

Amy löscht das Licht und ist bald eingeschlafen. Später höre ich es an der Tür kratzen und öffne sie, um Sebastian reinzulassen. Er miaut und springt auf mein Bett. Abgesehen von ihm ist alles im Haus dunkel und still.

Doch der Schlaf will nicht kommen. Es gibt zu viel zu verarbeiten. Alles ist so kompliziert – nichts ist, wie es von außen scheint. Amy kann Mum auf eine Art verstehen, wie es mir nicht möglich ist, und trotzdem bin ich mir sicher, dass sie sich täuscht, was Ben und Tori angeht. So sehr ich mir auch wünsche, dass sie richtig liegt.