Ich drehe mein Gesicht zum Himmel. Winzige Tröpfchen fallen herab, die so klein sind, dass man sie nicht einzeln wahrnimmt. Aber die Tropfen finden sich und ein paar kleine Rinnsale laufen kalt mein Gesicht hinab. Sie fühlen sich nicht an wie Tränen.
»Du solltest deine Kapuze aufsetzen, anstatt sie auszubreiten wie einen Regenfänger«, schimpft Ben, greift mit den Händen an meinem Gesicht vorbei und zieht meine Kapuze hoch. Dann steckt er mir an den Seiten meine Haare rein. Seine Hände sind warm.
Unsere Blicke treffen sich und er hält inne, seine Hände liegen immer noch an meinen Wangen. Der Regen und der Wald verblassen. Seine goldgefleckten Augen sind viel tiefer, als man denkt, und halten meinen Blick.
Aber dann lässt er seine Hände fallen und schaut sich um. Es ist niemand zu sehen, aber nicht weit hinter uns sind Stimmen zu hören.
»Los, komm«, sagt er und läuft in die andere Richtung. Dann kommt er zu mir zurück. Soll ich folgen? Er hält seine rechte Hand hoch, den kleinen Finger ausgestreckt, die anderen sind geschlossen.
Ich schaue ihn an und er blickt kurz auf meine linke Hand, dann wieder in meine Augen. Ich hebe meine Hand und er hakt meinen kleinen Finger in seinen ein. Er dreht sich um, geht tiefer ins Dickicht und zieht mich mit. Seinen Arm hält er dabei die ganze Zeit hoch. Es ist so dämlich, dass ich anfange zu kichern.
Zuerst fällt mir gar nicht auf, dass Ben mich immer weiter von den anderen wegführt. Was hat er vor? Trotz der Kälte spüre ich, wie meine Wangen brennen. Unser Bio-Kurs ist im Wald unterwegs. Wir sollen Wasserproben aus einem Bach entnehmen und Blätter von Büschen und Bäumen suchen, um sie später zu bestimmen. Die Gespräche der anderen scheinen weit entfernt zu sein und die Stimmen werden immer leiser.
Ben hält an und dreht sich zu mir um. Ich bin plötzlich nervös und mache einen Schritt zurück. »Sollten wir nicht ein paar Blätter sammeln? Wie wäre es mit denen …«
»Ich muss mit dir reden.« Bens Lächeln verblasst. Heute Morgen im Bus hat er ziemlich abwesend gewirkt. Ich habe ihn fragend angesehen und er hat später geantwortet.
Jetzt ist offenbar später. Er wollte also nur mit mir allein sein, um offen sprechen zu können. Ein Teil von mir ist durcheinander. Erleichtert, dann ärgerlich. Und verwirrt.
»Über was?«
»Tori.«
Ich drehe mein Gesicht weg, damit er nicht merkt, wie eifersüchtig ich bin, als er ihren Namen ausspricht. Ich hätte es wissen müssen.
»Nach unserem Gespräch habe ich mir Sorgen gemacht, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte, also bin ich gestern nach der Gruppe zu ihr gegangen.« Er zögert. Der Regen wird stärker und Ben lehnt sich an einen Baum. Aus den Nebeltröpfchen ist ein schweres Platschen geworden, das Platschen der größeren Regentropfen, die sich ihren Weg durch die Blätter bahnen.
Ben nimmt meine Hand und zieht mich näher zu sich unter einen dicken Ast.
»Sie ist nicht mehr da.« Er flüstert beinahe, als wären die Bäume um uns Spione.
»Was meinst du damit?«
»Ich habe mit ihrer Mutter gesprochen. Es war wirklich seltsam. Zuerst hat sie gesagt, dass Tori nicht mehr bei ihr wohnt. Ich habe nach dem Grund gefragt und ob sie stattdessen bei ihrem Vater in London sei. Da wurde sie irgendwie merkwürdig. Sie meinte, dass es nicht geklappt habe und dass Tori zurückgegeben worden sei. Sie hatte dabei so einen merkwürdigen Ausdruck in den Augen, schüttelte ihn dann aber ab und meinte, dass ich gar nicht dort sein sollte und keine weiteren Fragen stellen dürfe. Sie hat mich mehr oder weniger rausgeworfen.«
»Zurückgegeben?« Ich reiße ungläubig die Augen auf, als ich versuche, das zu verstehen. »So was können die machen?«
Er nickt. » Dieses Wort hat sie benutzt. Als würde sie über ein Paar Stiefel sprechen, die zu klein sind und die man umtauschen muss.«
»Aber zurückgegeben – wohin?«, frage ich, doch im selben Augenblick trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Tori ist 17 – und man kann nur bis 16 geslated werden. Also konnten sie es nicht einfach noch einmal mit ihr machen. Haben sie Tori in eine andere Familie gesteckt? Und wenn nicht, was haben sie dann mit ihr gemacht?
Ich höre ein Geräusch und bemerke eine kleine Vibration.
»Lass mal sehen«, sage ich und greife nach seiner Hand. Ich schiebe den Ärmel hoch und schaue auf sein Levo: 4,3. »Was kann ich tun?«
Er zuckt ein wenig hilflos mit den Schultern. »Ich sollte laufen gehen«, sagt er, bewegt sich aber nicht. Seine andere Hand fasst meine Schulter fester und sein Levo vibriert wieder: 4,1.
Ich lege meine Arme um ihn und er drückt sich an mich. Der Regen wird immer stärker, doch Ben ist viel größer als ich und beugt sich vor, sodass ich geschützt bin. Selbst durch seine Schuluniform und die dicke Jacke kann ich das Pochen seines Herzens hören. Mein eigener Puls rast, und Wärme steigt in mir auf, als ich mein Gesicht in seiner feuchten Jacke vergrabe. Doch er ist allein wegen Tori so aufgebracht und durcheinander. Ich bin nicht diejenige, die er im Arm halten will.
Ein Pfiff ertönt und wir beide schießen auseinander.
»Das ist Miss Fern, die alle zusammenruft. Wahrscheinlich regnet es zu stark«, sagt Ben.
»Wollen wir laufen?«, frage ich.
Also rennen wir los, gleiten über nasses Laub den Pfad entlang, bis wir nach ein paar Minuten die Gruppe erreichen, gerade als Miss Fern anfängt durchzuzählen.
Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Was ist mit Tori geschehen? In meinem Bauch breitet sich ein schlimmes Gefühl aus, das deutlich sagt Nichts Gutes. Ich kannte Tori nicht lang, doch sie hat sich getraut, Dinge laut auszusprechen, die ich nur zu denken wage. Mum hat sie bei der Ausstellung zurechtgewiesen, sie solle besser aufpassen, was sie sagt. Vielleicht hat Mum es, entgegen allem Anschein, nur gut gemeint. Vielleicht hat sie versucht, Tori zu warnen.
Bens Levo legt einen derartigen Zickzackkurs hin, dass Miss Fern ihn schließlich vom Unterricht befreit und mit dem Betreuungslehrer losschickt, damit er seine Runden laufen kann.
Als es endlich läutet, kommt Miss Fern zu mir, blickt mir über die Schulter und sieht, wie wenig ich gearbeitet habe. »Ist das der Dank?«, murmelt sie vor sich hin. Aber dann lächelt sie, und ich weiß, dass sie es nicht so meint.
»Der Dank wofür?«
Sie setzt sich auf Bens leeren Stuhl. »Ich habe mit Mr Gianelli, dem Kunstlehrer, gesprochen und ihm deine Eulen-Zeichnung gezeigt. Und ich habe auch nicht unerwähnt gelassen, dass du Künstlerin werden willst.« Sie zwinkert.
»Und?«
»Er legt sich ins Zeug, damit er dich in seinen Unterricht holen kann. Wir werden sehen, was passiert, aber ich gehe davon aus, dass er sich durchsetzt. Er ist viel zu nervig, als dass man ihm lange etwas abschlagen könnte.«
Er sitzt mit den anderen Schülern seiner Betreuungsklasse ein paar Reihen weiter vorn. Seine Haare kleben an seinem Kopf – vom Regen oder vom Schweiß? – und sein Gesicht hat wieder eine gesündere Farbe angenommen. Als wir reinkommen, dreht er sich um und entdeckt mich.
Okay?, forme ich mit den Lippen. Er nickt und lächelt schwach.
Jeder Jahrgang muss einmal pro Woche in der Aula zusammenkommen: Jahrgang 11 ist freitagnachmittags dran, also ist das heute meine erste Versammlung. Mein Platz ist am Rand unserer Reihe, und Phoebe ist weit genug weg von mir, dass ich sie ignorieren kann. Neben meiner Sitznachbarin Julie saß ich schon gestern in Englisch. Sie war zwar nicht wahnsinnig freundlich, aber eigentlich okay. Jedenfalls hat sie mir gezeigt, wo wir bei Romeo und Julia stehen geblieben waren, und mir ein paar Sachen erklärt.
Alle gehen langsam an ihre Plätze, und ein dröhnendes Stimmengewirr erfüllt den Raum, verstummt aber abrupt, als die Vordertür aufgeht.
»Das ist der Direktor: Mr Rickson«, zischt mir Julie ins Ohr.
Er trägt einen blauen Anzug, der am Bauch nicht ganz zugeht, und steht sehr gerade, um es zu kompensieren. Sein Blick wandert kalt durch den Raum und bleibt immer wieder an einzelnen Schülern hängen, als wollte er sagen: Ich behalte euch alle im Auge. Trotzdem bin ich mir nicht ganz sicher, ob alle seinetwegen so still und stocksteif dasitzen oder wegen der beiden Männer und der Frau, die hinter ihm den Raum betreten.
Ihre Gesichter geben nichts preis und sie tragen alle graue Jacken und Hosen.
»Lorder«, sagt Julie im leisesten Flüsterton, so zaghaft, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich das Wort höre oder es mir einbilde.
Es sind dieselben Wachleute, die wir bei der Landwirtschaftsausstellung gesehen haben und die allein durch ihre Anwesenheit die Menge zum Schweigen gebracht haben – genau wie jetzt. Und genau wie an diesem Tag verkrampft sich mein Magen zu einem kalten Knoten der Furcht.
Wer oder was sind Lorder? Irgendwie weiß ich es, aber gleichzeitig auch nicht. Und dann fällt mir mein Traum wieder ein. Der explodierende Schulbus, überall tote Schüler und das Schild an dem Gebäude neben dem Bus: London Lorder Office. Aber wenn es nur ein Traum war, etwas, das mein Unterbewusstsein erfunden hat, nachdem ich das Mahnmal gesehen habe – was haben dann die Lorder dort zu suchen, wenn ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, dass sie existieren? Vielleicht war es also doch nicht nur ein Traum. Vielleicht waren Lorder das wahre Ziel der Bombe, die den Schulbus zerstört und die Schüler getötet hat. Aber wenn es kein Traum war … Warum war ich dann dort? Vor sechs Jahren war ich erst zehn. Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn.
Die Lorder stellen sich an die Seite der Bühne und haben keine eigentliche Funktion: Aber sie hören und sehen alles.
Rickson spricht zur Versammlung, und ich zwinge mich, meinen Blick von den drei Gestalten abzuwenden, um mich auf ihn zu konzentrieren. Ich gebe mir alle Mühe, ihm zumindest mit einem Teil meines Hirns zuzuhören, während der Rest immer noch vom Schock wie gelähmt ist. Mr Rickson spricht über die akademischen und sportlichen Leistungen der Schüler. Er erwähnt, dass das Geländelauftraining am Sonntag weitergeht, und er hofft, dass viele von uns teilnehmen werden. Dann nennt er die Namen der Schüler, die sich im letzten Jahr für das Landesfinale qualifiziert haben. Probetrainings für die Teams werden nächsten Monat abgehalten. Zum Abschluss lässt er uns mit besorgter Stimme wissen, dass manche Schüler noch immer nicht ihr Potenzial ausschöpfen und dass wir uns alle mehr anstrengen sollen.
Julie stupst mich an, damit ich mich mit allen anderen erhebe. Wir gehen langsam an den Lordern vorbei und verlassen die Aula. Ich kann kaum atmen, schaffe es aber irgendwie, einen Fuß vor den anderen zu setzen und meinen Blick gerade nach vorn zu richten. Die ganze Zeit über rechne ich damit, dass sich eine kalte Hand ausstreckt und mich an der Schulter berührt.
Am Ausgang halten die Lorder ein paar Schüler auf und nehmen sie beiseite. Den Jugendlichen weicht jegliche Farbe aus dem Gesicht, aber alle anderen meiden augenblicklich ihren Blick.
Vielleicht haben sie ihr Potenzial nicht ausgeschöpft.
Vielleicht hat Tori das auch nicht getan.