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Es fühlt sich seltsam an, wieder zurück ins Krankenhaus zu fahren, denn es ist das allererste Mal, seit ich entlassen wurde. Am Tag meiner Abreise habe ich mich so davor gefürchtet, die Klinikmauern zu verlassen und in die weite Welt hinauszuziehen – doch es kommt mir inzwischen vor, als wäre seither eine Ewigkeit vergangen, ein ganzes Leben. Dabei sind es eigentlich nur ein paar Tage.

Aber wie es aussieht, kommen wir gar nicht pünktlich zu meinem Termin um 11 Uhr bei Dr. Lysander. Möglicherweise schaffen wir es auch überhaupt nicht. Amy studiert die Karte, um nach Umgehungsstraßen zu suchen, und Mum flucht leise vor sich hin und wechselt durch die Radiosender auf der Suche nach Staumeldungen.

»Für die letzte Meile haben wir 20 Minuten gebraucht. Wir könnten genauso gut umkehren«, stöhnt Mum.

»Oder die nächste Ausfahrt nehmen?«, schlägt Amy vor. Sie wollte heute unbedingt mitkommen und hat Mum irgendwie davon überzeugt, dass sie sich die Chance, Dr. Lysander zu treffen, einfach nicht entgehen lassen könne.

Mum schaltet das Radio aus. »Keine Meldungen.« Sie runzelt die Stirn. »Das gefällt mir nicht. Irgendetwas ist da doch los. Amy, hol mein Telefon raus und ruf Dad an.«

Amy zieht das Gerät aus Mums Tasche und beginnt zu wählen. Ich beobachte sie erstaunt. Mobiltelefone sind für alle unter 21 Jahren verboten. Vielleicht ist es aber erlaubt, weil Mum neben ihr sitzt und es ihr aufgetragen hat?

»Es geht niemand dran. Soll ich eine Nachricht hinterlassen?«

»Ja, sag ihm, dass wir im Stau stecken und dass er zurückrufen soll.«

Wir schleichen eine kleine Steigung hinauf. Hubschrauber kreisen über uns. Kurz vor dem Hügelkamm kommen wir wieder zum Stehen. Sirenen werden laut und schwarze Vans schießen auf dem Standstreifen an uns vorbei.

Das Handy klingelt. Mum geht dran.

»Verstehe … alles klar … Gut. Tschüss.«

Sie legt auf. »Vor uns sind irgendwelche Verkehrskontrollen. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.«

Die Autos vor uns setzen sich langsam wieder in Bewegung. Wir erreichen den Kamm. Auf der Gegenfahrbahn der M25 steht der Verkehr. Wir quälen uns vorwärts und halten wieder. Ein Schwarm von schwarz gekleideten Männern hält auf beiden Seiten Autos an und durchsucht sie. Wir werden durchgewinkt.

»Wer sind die?«

»Lorder«, sagt Amy.

Ich schaue durch die Heckscheibe, um noch einen Blick auf sie zu werfen. Sie tragen keine grauen Anzüge wie die Lorder auf der Landwirtschaftsausstellung und in der Aula, sondern schwarze Hosen und lange schwarze Hemden mit einer Art Weste darüber. Sie sind genauso gekleidet wie die Krankenhauswachen. Bedeutet das also, dass auch sie Lorder sind?

»Was sind Lorder eigentlich?«

Mum dreht sich mit gehobenen Augenbrauen zu mir um. »Na ja, du weißt schon, das ist die Abkürzung für Law and Order Agents – sie sorgen für Recht und Ordnung und verfolgen Gangs und Terroristen. Sie suchen offenbar gerade jemanden.«

Den müssen sie aber wirklich dringend finden wollen, wenn sie jedes Auto auf der Autobahn anhalten und durchsuchen …

»Das sind die Gleichen wie die Männer mit den grauen Anzügen bei der Show und in der Schule?«, will ich wissen.

»Ja, ich habe zwar keine Ahnung warum, doch sie waren bei der Show. Normalerweise tragen sie graue Anzüge, nur ihre Einsatzkleidung ist schwarz. Heutzutage sind das in erster Linie Einsätze zur Terrorismusbekämpfung. Früher waren es die Gangs. Aber sind wirklich Lorder bei euch an der Schule gewesen?«, fragt Mum und runzelt besorgt die Stirn. »Amy, stimmt das?«

Amy nickt. »Manchmal kommen sie zu den Versammlungen. Sie sind nicht immer da, nur hin und wieder. In letzter Zeit häufiger.«

Zu unserer Linken erstrecken sich Felder, dahinter sehe ich bewaldete Hügel. Ich nehme eine Bewegung in der Ferne wahr – ein leichter Blitz, als ob sich die Sonne in Glas oder Metall gebrochen hätte.

»Da oben ist jemand«, sage ich.

»Wo?«, fragt Mum.

»In diesem Waldstück.« Ich deute nach links. »Ich habe etwas aufblitzen sehen.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja.«

Mum holt wieder ihr Mobiltelefon hervor, aber im selben Moment erscheint ein Hubschrauber über der Stelle, auf die ich gezeigt habe, und Männer rennen über die Felder zu der Baumgruppe.

Mum schaut hoch und legt ihr Handy weg.

Rat-a-tat-tat dröhnt es bis zu uns herüber.

»Was tun sie da?« Meine Augen weiten sich. »Schießen die auf jemanden?«

»Eine blitzende Zielscheibe.« Amy schnieft. »Sie wollen Freiheit oder sterben? Dann heißt es jetzt wohl sterben.«

Der Stau löst sich bald danach auf und Mum ruft im Krankenhaus an, um Bescheid zu geben, dass wir uns verspäten.

Wir nehmen den gleichen Weg zum New London Hospital, auf dem wir schon vor fast zwei Wochen gefahren sind – alles baut sich in umgekehrter Reihenfolge vor meinen Augen auf. Die Randbezirke versinken wieder im Verkehrschaos und den Menschenmassen. Büros und Wohnungen wimmeln vor Leben. Je näher wir unserem Ziel kommen, desto mehr Wachen stehen schwarz gekleidet an den Ecken: Lorder. Die Massen scheinen sich vor ihnen zu teilen, als wären sie umgeben von einer unsichtbaren Blase, die nicht berührt werden darf.

Gerade als die Wachtürme des Krankenhauses in Sichtweite kommen, erreichen wir eine Straßensperre, an der noch mehr Lorder warten. Wir stehen in der Schlange zwischen einem LKW und einem Bus und ich muss immer an meinen Traum denken: ein Pfeifen, ein Blitz, eine Explosion. Mein Blick schießt nach links und rechts, findet aber nichts Verdächtiges. Die Männer durchsuchen sämtliche Autos. Wir arbeiten uns zentimeterweise vorwärts. Aber dann winken sie uns – genau wie auf der Autobahn – einfach weiter, ohne dass wir anhalten müssen. Diesmal merke ich, dass die Lorder zu Mum schauen, dann ihre linke Schulter mit ihrer rechten Hand berühren und uns daraufhin die Handfläche zeigen.

»Warum halten sie uns nicht auf wie alle anderen auch?«, frage ich.

»Manchmal ist es ziemlich praktisch, die Tochter meines Vaters zu sein«, sagt Mum, und ich erinnere mich an Wam the Man, der die Gangs zerschlagen hat, die das Land vor fast 30 Jahren terrorisiert haben. »Manchmal auch nicht«, fügt Mum noch hinzu, aber so leise, dass ich es kaum hören kann.

»Was meinst du damit?«

»Musst du so viele Fragen stellen?« Dann seufzt sie. »Sorry, Kyla. Wir können ein andermal darüber sprechen, okay?«

»Warum spielst du in deinen Träumen Verstecken?« Dr. Lysander lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie beobachtet mich und wartet ab.

Ich habe schon ziemlich früh kapiert, dass ich Dr. Lysander etwas geben muss, kleine Brocken der Wahrheit, um sie bei der Stange zu halten. Ich habe ihr nie vom Strand, von der Angst, vom Laufen erzählt: In verschiedenen Variationen kehrt dieser Traum immer wieder, seit ich zum ersten Mal im Krankenhaus erwacht bin. Aber würde ich ihr nur Lügen auftischen, würde sie es merken.

Es ist nicht allein die Tatsache, dass sie Gesichter lesen kann: unbewusste Gesten, Augenbewegungen, Blinzeln – all die kleinen Dinge, auf die man achten muss, wenn man jemanden beobachtet. Aber mit dem Levo an meinem Handgelenk, das meine Gefühle überwacht, liegt alles offen und wird dokumentiert. Dr. Lysander muss das Gerät lediglich scannen und kann so sehen, ob ich die Wahrheit sage oder lüge. Obwohl sie normalerweise darauf vertraut, dass sie alles herausbekommen kann, ohne auf technische Hilfsmittel zurückgreifen zu müssen.

Und ihr Selbstvertrauen ist durchaus berechtigt.

Trotzdem ist eine Täuschung nicht unmöglich, nur eben schwierig. Ich mache es wie ein Zauberer, der ihre Aufmerksamkeit von dem ablenkt, was sie untersuchen und herausfinden will. Allerdings muss ich dabei die ganze Zeit aufpassen, es nicht zu auffällig zu tun.

»Darf ich Sie etwas fragen?«

Dr. Lysander lehnt sich zurück. Sie beantwortet häufig Fragen, wenn man sich traut, welche zu stellen. Aber man tastet sich besser vorsichtig heran, denn oft ist sie nicht in der richtigen Stimmung.

Sie neigt den Kopf nach vorn. Genehmigt.

»Warum sind Sie so fasziniert von dem Versteckspiel? Es ist ein glücklicher Traum – ich spiele einfach nur. Daran ist doch nichts verkehrt.«

»Wofür könnte es deiner Meinung nach stehen?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Du versteckst dich vor anderen – du spielst ein Spiel, verstehst du? Warum versteckst du dich? Was versteckst du?«

Oh. Ich denke kurz darüber nach. Verstecke ich etwas? Nicht dass ich wüsste.

Das Krankenhaus zu verlassen ist ganz ähnlich wie beim letzten Mal, als ich meine Familie kennengelernt habe. Wir fahren aus dem unterirdischen Parkhaus zum Tor hoch. Amys und mein Levo werden gescannt, die Wachen werfen einen kurzen Blick in den Wagen und öffnen schließlich die Schranke. Erleichterung spüre ich erst, als wir die Zäune und Wachmänner hinter uns lassen. Der ganze Krankenhauskomplex hat mir heute ein Gefühl gegeben, als würde er mir die Luft aus den Lungen saugen. Wie konnte ich dort nur so lange leben?

Und die Wachen – auch sie sind Lorder. Als ich hier gewohnt habe, habe ich einfach die Türme mit ihren Scharfschützen akzeptiert, ebenso wie die vergitterten Fenster, die Wachmänner, die draußen mit ihren Hunden patrouillieren, und die hohen Zäune.

Ist das alles nötig, um die Leute in der Klinik festzuhalten oder die Leute von außen abzuschrecken?

Ich starre aus dem Fenster, den ganzen Weg vom Krankenhaus zurück. Mum ist mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und Amy schmollt, weil ihre Heldin Dr. Lysander sich keine Zeit genommen hat, mit ihr zu sprechen, sondern sie einfach ignoriert hat.

Wir fahren nach Hause. Ist es mein Zuhause? Es wird mir allmählich vertraut und ich fühle mich dort wohl – meistens zumindest. Ich wache nicht mehr morgens auf, ohne zu wissen, wo ich bin, und ich finde im Dunkeln den Weg ins Bad. Heute ins Krankenhaus zu gehen, vorbei an den Sicherheitsleuten, Gitterfenstern und Wachtürmen, fühlte sich nicht gerade beruhigend an, sondern klaustrophobisch: Ich wollte aus dem Auto springen und den ganzen Weg aufs Land zurücklaufen. Weg von den Straßen mit den Wachmännern und den allgegenwärtigen Menschenmassen. Weg von den Autobahnen und Straßensperren mit den schwarzen Vans und den Lordern.

Zumindest war Dr. Lysander mit Penny einer Meinung und hat Mum vorgeschlagen, mich mehr eigenständig unternehmen zu lassen. Sie meinte, ich könnte auf Erkundungstour gehen und Spaziergänge unternehmen, wenn ich wollte.

Aber Mum war überhaupt nicht begeistert, als Dr. Lysander ihr sagte, dass sie mich von jetzt an jede Woche anstatt zweimal im Monat sehen wolle.

Ab sofort müssen wir also jeden Samstag diese Tour machen.

Wir sind fast schon zu Hause, als mir ein Gedanke kommt. Warum hat Mum Dad angerufen, um zu fragen, was auf der Straße los war? Es wurde ja noch nicht einmal im Verkehrsfunk erwähnt.

Woher sollte er es dann wissen?