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Das Erste, was ich am nächsten Morgen neben mir höre, ist ein tiefes, gleichmäßiges Schnurren: Sebastian. Er scheint mein Kopfkissen zu seinem Schlafplatz auserkoren zu haben und hat es sich darauf bequem gemacht. Ich jedenfalls lasse ihn schlafen, wo er möchte.

Er wirkt unbeeindruckt von seinen Erlebnissen: erst ein Kampf mit einem Fuchs oder anderen Kreaturen, dann wurde er gerettet und zu Phoebe gebracht und daraufhin vom Tierarzt genäht. Von Mum hat er, als wir gestern nach Hause kamen, zur Feier des Tages sein Lieblings-Leckerli zum Abendessen bekommen. Pappsatt hat er es sich dann auf meinem Bett bequem gemacht und ist eingeschlafen.

Ich denke über Phoebe nach. Ich verstehe sie einfach nicht. Sie ist so ätzend, aber das Rotkehlchen hat ihr vertraut. Sebastian lag schnurrend in ihren Armen, und sie hat ihn mir zurückgegeben, obwohl sie mich nicht mag. Ich sehe noch genau ihren Gesichtsausdruck vor mir, als sie ihn mir gereicht hat: Sie wollte ihn nicht hergeben, hat es aber trotzdem getan. Sie muss Tiere viel lieber mögen als Menschen.

Aber mir bedeutet Sebastian auch mehr als die meisten Menschen, also kann ich mir wohl kaum ein Urteil erlauben.

Heute müssen Amy und ich den Bus nehmen, weil Jazz auf Klassenfahrt ist.

Als ich an Phoebes Platz vorbeilaufe, überlege ich einen Augenblick, ob ich anhalten und ihr sagen soll, dass es Sebastian gut geht. Aber sie blickt mich finster an und schüttelt leicht den Kopf. Also lautet die Antwort nein.

Ich setze mich hinten zu Ben.

»Hey«, sagt er. »Alles klar bei dir?«

»Sebastian ist wieder da.« Ich senke meine Stimme und erzähle ihm, was gestern Abend passiert ist und was Phoebe getan hat.

»Ist wohl ’ne Lehre für dich«, sagt er.

»Was meinst du?«

»Dass Menschen nicht immer so sind, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sie hat dir geholfen – wer hätte das gedacht? « Er lächelt.

Aber ich bin mir sicher, dass sie es für Sebastian getan hat, nicht für mich. Das ändert gar nichts, hat sie gestern gesagt.

Mrs Ali wartet vor meiner ersten Stunde auf mich.

»Können wir uns kurz unterhalten?«, fragt sie und zieht mich in ein leeres Büro auf der anderen Seite des Flurs, ohne meine Antwort abzuwarten. Sie schließt die Tür hinter uns.

»Stimmt etwas nicht?«, frage ich.

»Sieh mich nicht so besorgt an, Kyla. Du hast nichts verbrochen. Aber du weißt, dass ich hier bin, um dir zu helfen.«

»Äh, ja klar.«

»Hör mal. Wenn dich irgendjemand in der Schule belästigt oder dich ärgert, musst du es mir sagen. Ich möchte nicht über Dritte von solchen Dingen erfahren. Es sieht sonst so aus, als würde ich meinen Job nicht richtig machen.«

Ich starre sie verwirrt an. Die Einzige, auf die diese Beschreibung zutrifft, ist Phoebe, doch niemand außerhalb der Schule weiß, dass sie mich nicht mag. Und wir waren allein im Wald, als sie mich beschimpft hat. »Das verstehe ich nicht. Was haben Sie denn gehört?«

Mrs Ali lächelt und schüttelt leicht den Kopf. »Arme Kyla. Diese Welt muss verwirrend für dich sein. Deshalb bin ich für dich da: um dir zu helfen, wenn es Probleme gibt. Aber das kann ich nicht, wenn du mir nicht auch hilfst. Also, gibt es etwas, das du mir sagen willst, Kleine?«

»Nein. Ich weiß nicht, was Sie meinen«, antworte ich, aber ich bin mir sicher, dass sie von Phoebes Anschuldigungen weiß und nun will, dass ich ihr alles darüber erzähle.

Aber ganz egal, was Phoebe gesagt hat, ich bin kein Spitzel. Und wie könnte ich sie verraten, wo sie mir doch Sebastian zurückgegeben hat? Ohne sie wüssten wir nicht mal, ob er noch lebt.

Mrs Ali fixiert mich, und ich kann in ihren Augen erkennen, dass sie weiß, dass ich ihr etwas verschweige. Schließlich schüttelt sie wieder den Kopf. »Tut mir leid, Kyla. Du weißt vielleicht nicht, dass du meine Hilfe brauchst, aber es ist so. Ich bin alles, was zwischen dir und … sehr unangenehmen Konsequenzen steht. Pass auf dich auf. Und jetzt geh in den Unterricht.«

Sie dreht sich um, öffnet die Tür und verschwindet.

Meine Knie werden weich. Das war offensichtlich eine Drohung. Was für unangenehme Konsequenzen meint sie?

Ich bleibe noch einen Augenblick im Büro, ziehe die Tür zu und versuche, mich wieder zu beruhigen. Ich stelle mir meinen Happy Place vor und schwebe auf Wolken. Aber ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass etwas nicht stimmt und ich mich falsch verhalten habe. Und dass ich dafür zahlen werde.

Zumindest werde ich jetzt einen Anpfiff kriegen, weil ich zu spät zum Unterricht erscheine. Okay, Kyla, reiß dich zusammen. Ich atme tief ein und greife nach der Klinke, als auf dem Gang energische Schritte laut werden.

Ich zögere und lasse meine Hand sinken. Das Licht im Büro ist aus, doch der Flur ist beleuchtet und die Tür hat ein kleines Fenster. Ich trete in den Schatten und luge vorsichtig nach draußen. Die Schritte nähern sich: Zwei Männer in grauen Anzügen erscheinen. Lorder.

Sie öffnen die Tür zu dem Raum, in dem gerade mein Englischunterricht stattfindet und in dem ich jetzt sitzen sollte.

Ist das eine unangenehme Konsequenz? Sind die Männer gekommen, um mich abzuholen?

Sie verschwinden in dem Raum und tauchen Augenblicke später wieder auf. Zwischen ihnen die bleiche Phoebe.

Als ich am Ende des Schultags in den Bus steige, sehe ich überall geschockte Gesichter, und es wird geflüstert. Augen durchbohren meinen Rücken, während ich den schmalen Gang entlanglaufe und mich neben Ben setze. Doch als ich mich umdrehe, weichen alle meinem Blick aus. Sicher denken sie, dass ich verantwortlich für Phoebes Bestrafung bin. Sie wissen, dass sie gemein zu mir war, und können die Verbindung zu den Lordern ziehen.

Phoebes Platz bleibt leer, als der Bus abfährt. Doch sie ist nicht zu spät. Ich bin mir sicher, dass sie nicht einfach nur mit ihr gesprochen und sie dann haben gehen lassen – oder?

Mir läuft ein kalter Schauder über den Rücken.

Ben nimmt meine Hand. »Alles klar bei dir?«, fragt er und sieht, dass mein Blick von Gesicht zu Gesicht durch den Bus schweift. Er merkt, wie mir alle ausweichen. »Was ist los?«

Ich schüttle den Kopf. Was kann ich bei so vielen lauschenden Schülern, die mir feindlich gesinnt sind, schon erzählen?

Ich möchte heute Abend laufen gehen. Nein, ich möchte jetzt laufen, aber ich sitze hier eingezwängt im Bus zwischen lauter Menschen. Ich konzentriere mich auf Bens warme Hand, schließe die Augen und wünsche mich woandershin.

»Sag mir, was los ist«, drängt Ben. »Vielleicht kann ich dir helfen.«

Ich öffne kurz die Augen. »Nicht jetzt. Trainierst du heute Abend vor der Gruppe?« Er nickt.

»Kann ich mitkommen?«

»Ja klar«, meint er grinsend.

»Lass uns dann reden.«

Ben drückt meine Hand. Er weiß, dass es etwas Ernstes ist, wenn ich laufen muss, um darüber sprechen zu können.