Es ist kalt, und der Regen, der letzte Woche vom Wetterbericht vorhergesagt wurde, hat inzwischen eingesetzt. Es gießt unablässig, zwar eher beständig als stark, doch dringen große, dicke Tropfen durch das Blätterdach über uns.
Ben und ich laufen zusammen. Wir laufen ziemlich schnell, damit uns nicht kalt wird bei der Nässe. »Scheißwetter«, keuche ich.
»Ja. Typisch für Oktober«, antwortet Ben.
Woher soll ich das wissen? Es ist der erste Oktober, an den ich mich erinnern kann.
An diesem Morgen hat Ferguson nicht wie letztes Mal die Mädchen vor den Jungen starten lassen, sondern die schnellsten Läufer mussten mit einer Minute Vorsprung loslaufen. Also sind Ben und ich vor allen anderen. Wir lassen den Wald schnell hinter uns und gelangen an den Fuß eines Hügels. Im Freien ist der Regen noch stärker und der Grund uneben und voller Schlamm und glitschiger Blätter. Der Pfad schneidet sich in den Hügel und das Wasser läuft den steilen Weg herab. Wir müssen langsamer werden, um nicht auszurutschen.
»Ist das nicht fantastisch?«, fragt Ben klitschnass und von oben bis unten mit Schlamm bespritzt.
»Großartig«, antworte ich ironisch, aber lache dann. Denn es ist fantastisch, jedes Gefühl hinter mir zu lassen, in eine Zone einzutauchen, wo ich nur noch am Leben bin. Ich spüre jeden Tropfen, der auf meinem Kopf landet. Es kommt mir vor, als ob ich mitverfolgen könnte, wie die Tropfen vom Himmel fallen, sich vor meinen Augen verlangsamen und dann auf den Boden klatschen. Jeder meiner Sinne ist geschärft. Wenn ich mich beim Laufen genug anstrenge, kann ich sogar Tori und Phoebe fast vergessen. Und dass mich Lucy heimsucht. Sie ist da, sobald ich meine Augen schließe, streckt mir die Hände entgegen und fleht um Hilfe. Es ergibt aus so vielen Gründen keinen Sinn.
»Bleib mal ’ne Sekunde stehen«, sagt Ben, als wir oben auf dem Hügel ankommen. Wir stellen uns unter eine große Eiche, und er geht in die Knie, um seinen Schnürsenkel neu zu binden. Dann lehnt er sich an den Baum.
Wir können von hier aus das ganze Tal überblicken, während der Himmel immer dunkler wird. Von den anderen ist noch nichts zu sehen.
»Wetten, die sind umgekehrt«, lacht Ben. »Weicheier!«
»Sollen wir auch umdrehen?«
»Nee, wir haben schon fast die Hälfte der Strecke geschafft.«
»Also weiter«, sage ich. Ich will schneller werden, an den Punkt kommen, wo Laufen alles ist.
»Was ist?«
Ich zucke mit den Schultern und schlinge meine Arme um mich selbst.
»Sprich mit mir, Kyla«, sagt er. Als ich in seine sanften braunen Augen blicke, merke ich, wie sehr ich ihm vertraue, wirklich vertraue. Doch ist das nicht gefährlich?
Er legt seinen Arm um mich.
»Ich will laufen«, sage ich.
»Nicht, bevor du mir nicht alles erzählt hast.«
Bens Blick nagelt mich regelrecht fest. Als mein Atem und mein Puls langsamer werden, beginne ich zu zittern, aber nicht vor Kälte. Ich vergrabe mein Gesicht an seiner Brust, sodass er mich nicht länger anschauen kann.
»Vielleicht kann ich dir helfen.«
Es gibt so viele Gründe, nichts zu sagen. Ich habe es Mac versprochen. Es könnte für Ben riskant sein, gefährliche Dinge zu wissen, und ich bin nicht sicher, ob Ben ein Geheimnis bewahren kann. Ich weiß nicht einmal, ob ich das selbst kann.
Ben dreht sich und setzt sich im strömenden Regen auf einen Stein. Dann zieht er mich auf seinen Schoß.
»Wir gehen nirgendwohin, bis du mir nicht erzählt hast, was los ist.«
Ich seufze, schließe die Augen und lehne mich an ihn. Hier zu bleiben, fände ich in diesem Augenblick gar nicht so schlecht. Seine Arme halten mich, und er legt eine Hand unter mein Kinn, um mein Gesicht anzuheben. Ich öffne die Augen, als er sich näher zu mir beugt. Mein Herz schlägt wieder schneller, obwohl ich nicht mehr laufe. Bens Augen fixieren mich wie neulich, als ich dachte, er würde mich küssen, aber dann nur über Tori sprechen wollte.
Tori, Phoebe und Lucy – so viele Geister stehen zwischen uns. Aber mit der Wahrheit kann ich zumindest einen von ihnen vertreiben. Ich rücke ein wenig von Ben ab und entscheide mich für Worte.
»Fragst du dich jemals, warum du geslated wurdest?«
»Fangen wir jetzt wieder damit an?« Er zuckt mit den Schultern. »Manchmal. Man kann ja kaum anders. Aber wir dürfen nicht wissen, wer wir waren, und …«
»Aber ich weiß es.«
Stille, in der ich nur noch den Regen höre und Zweifel in Bens Augen sehe.
»Wie meinst du das?«, fragt er schließlich vorsichtig.
Ich schlucke. Es hat keinen Sinn, sie zu ignorieren, oder? Lucy verschwindet nicht einfach von selbst.
»Mein Name war Lucy Connor. Ich wurde als vermisst gemeldet, als ich zehn Jahre alt war. Ich hatte ein graues Kätzchen und jemand hat meine Finger gebrochen. Und jemand vermisst mich.« Und bei jedem geflüsterten Satz zittere ich. Irgendetwas in mir windet sich und will zerbrechen. Ich fange an zu weinen und vergrabe mich in Bens Armen. Er hält mich fest und streicht mir übers Haar, während die ganze Zeit der Regen auf uns niederprasselt. Es windet stark, und es kommt mir vor, als tobte sowohl um mich herum als auch in meinem Innern ein Sturm.
»Wie kannst du das wissen?«, fragt Ben nach einer Weile.
Als die Tränen nachgelassen haben, erzähle ich ihm von dem illegalen Computer, der Webseite mit den Vermissten und von Lucy. Und langsam kann ich erkennen, dass er anfängt, mir zu glauben.
»Das verstehe ich nicht«, sagt er. »Was für Vermisste?«
»Viele Menschen verschwinden. Sie werden nicht verhaftet und verurteilt, sie verschwinden einfach so. Vielleicht sind wir nicht mal Kriminelle.«
Ben schüttelt den Kopf. »Das können sie nicht machen, das ist illegal. Wie kann die Regierung ihre eigenen Gesetze brechen?«
»Vielleicht haben wir nichts falsch gemacht, sondern die Regierung hat einfach nur beschlossen, dass ihnen irgendetwas, was wir gesagt oder getan haben, nicht gefällt. Willst du nicht wissen, ob du auch als vermisst gemeldet worden bist?«
Auf Bens Gesicht zeichnet sich Verwirrung ab. Er setzt zum Sprechen an, aber ich hebe eine Hand. »Warte«, sage ich und drehe den Kopf. Wegen des Windes und des Regens kann man kaum etwas hören, aber ich nehme plötzlich Schritte und keuchendes Atmen wahr. Kommt da jemand den Hügel hoch?
Eine Gestalt erscheint auf dem Plateau. Ich möchte aufspringen, aber Ben hält mich zurück. Es ist einer der Jungs aus dem Training – er grinst uns zu und rennt vorbei.
Ben lässt mich los und ich fahre auf. »Warum hast du mich festgehalten?«
»Er hätte uns sowieso gesehen. Besser, er denkt, dass wir kuscheln, als dass wir ein gefährliches Gespräch führen.«
Kuscheln. Haben wir das wirklich getan oder war es einfach nur eine Ausrede? Mein Gesicht brennt trotz der Kälte. Ich drehe mich um, weil ich wieder etwas höre – überholt uns noch jemand?
»Lass uns laufen«, sagt Ben, und ohne eine Antwort abzuwarten, rennt er mit vollem Tempo voraus.
Ich folge ihm und versuche, ihn einzuholen. Aber ich schaffe es nicht – er muss sich vorhin zurückgehalten haben. Seine Schritte werden länger und bald ist er außer Sichtweite. Es wirkt fast so, als ob ihn etwas jagt – etwas, dem er sich nicht stellen will.
Doch das bin nur ich.