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»Das ist nicht fair«, beharrt Amy, die Hände in die Hüften gestemmt.

Ich binde meine Schuhe zu, denn Ben holt mich bald ab.

»Wahrscheinlich hast du recht und es ist nicht fair«, sagt Mum und mich beschleicht Angst. Sei still, versuche ich Amy zu signalisieren, aber sie ignoriert mich.

»Jazz und ich dürfen nicht allein spazieren gehen. Warum kann dann Kyla mit Ben losziehen?«

»Wir ziehen nicht los, wir gehen laufen und danach in die Gruppe«, betone ich. »Und er ist nur ein Freund.« Ist er das?, frage ich mich innerlich.

»Nun, Amy hat schon nicht unrecht«, sagt Mum, wendet sich dann von ihr ab und zwinkert mir verschmitzt zu, ehe sie sich wieder zu Amy dreht. »Weißt du, was? Warum gehst du nicht mit ihnen laufen?«

Amy schaut sie ungläubig an »Laufen? Ist das dein Ernst?« Sie stürmt die Treppe hoch.

»Ihr seid doch vorsichtig, oder?«, fragt Mum und zieht den Reißverschluss meiner Jacke weiter zu.

»Natürlich.«

»In deinem Gesicht steht eine Frage.«

»Ach, echt?«

»Du solltest bald mal vor dem Spiegel ein Pokerface üben, Kyla.«

»Was ist denn ein Pokerface?« Ich stelle eine Frage, um von einer anderen abzulenken.

»Poker ist ein Kartenspiel. Man versucht dabei, ein neutrales Gesicht aufzusetzen, damit die anderen Spieler nicht einschätzen können, ob man ein gutes Blatt hat.«

Ich ziehe den Vorhang beiseite, um aus dem Fenster zu sehen. Komm schon, Ben, sei einmal pünktlich.

»Und um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Du bist anders als Amy. Es ist seltsam, aber ich vertraue dir, dass du mit Ben nur laufen gehst. Doch ich kann mich nicht auf Amys Urteilsfähigkeit, was Jazz betrifft, verlassen. Kapiert?« Das Telefon klingelt und sie nimmt ab.

Mum sieht manchmal mehr, als ich vermute, und mehr, als Amy versteht. Es stimmt, dass sich Amy und Jazz ständig berühren, sich unterhaken und küssen, und dass Ben und ich das nicht machen. Aber sie tun es ja nicht vor Mums Augen – woher weiß sie dann davon?

Doch Mrs Ali sieht Bens und meine Freundschaft anders als Mum. Seit sie mir verboten hat, mittags mit Ben laufen zu gehen, habe ich ihn kaum gesprochen. Und jeder Tag, an dem wir nicht ein wenig Zeit miteinander verbringen können, fühlt sich verkehrt an. Natürlich hat Mrs Ali meine Zeichnung von Ben gesehen. Mum nicht, und das wird sie auch nicht, weil ich sie mit den anderen unter dem Teppich versteckt habe.

Ich linse durch die Vorhänge und endlich kommt Ben die Straße heraufgerannt.

»Tschüss, Mum!«, rufe ich und öffne die Tür.

Wie immer legen wir zu Beginn richtig los. Wir sagen uns nur kurz Hallo. Exzessives Training – nennt man das so? Ich liebe das Poch-poch meiner Schritte auf dem Asphalt, die Flucht an einen anderen Ort, wo nur Schnelligkeit zählt. Bens längere Beine laufen einen langsameren Rhythmus, um sich meiner Geschwindigkeit anzupassen, und so verschmelzen mein Poch-poch und sein Poch-poch zu einer vertrauten, jagenden Musik, die nach der Aufregung in den letzten Tagen beruhigend auf mich wirkt.

Es ist seltsam in der Schule, jetzt wo Gianelli weg ist. Ich habe noch nicht mal Geflüster gehört wie an dem Tag, als Phoebe verschwunden ist und alle darüber getuschelt haben. Diesmal herrschte Schweigen. Vielleicht weil jeder gesehen hat, was mit ihm passiert ist, also muss man keine Gerüchte über sein Verschwinden verbreiten. Gianelli ist nicht ersetzt worden und der Kunstunterricht ist bis auf Weiteres gestrichen. Die Stunden sind für mich durch die Unit ausgetauscht worden, in der ich Hausaufgaben erledigen muss.

Ich beginne, langsamer zu werden. Normalerweise reduziert immer Ben das Tempo, wenn wir sprechen wollen. Aber heute habe ich ein paar Dinge auf dem Herzen.

Ben bleibt stumm, er wird nur ebenfalls langsamer. Eigentlich hat er die ganze Woche über kaum mit mir gesprochen. Während ich überlege, wie ich beginnen soll, blicke ich zu ihm, und all meine anderen Gedanken sind wie verflogen.

»Bist du sauer auf mich?«

»Was?«

»Du hast mich schon richtig verstanden. Du warst die ganze Woche über so komisch. Eigentlich schon seit Sonntag.«

»Sei nicht albern. Natürlich bin ich nicht sauer«, sagt er, aber er sieht wütend aus.

Ich halte an. »Was ist los? Hab ich etwas falsch gemacht?«

Ben fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Kyla, es dreht sich nicht immer alles nur um dich, okay?«

Ich erschrecke und mache einen Schritt rückwärts. Das war wie eine Ohrfeige. »Was ist dann los?«

»Schhhh«, zischt er, und ich merke, dass ich laut geworden bin. Er nimmt meine Hand und verschränkt seine Finger in meinen. Ein Auto fährt vorbei. Ben schaut in beide Richtungen, doch es ist niemand zu sehen. »Komm, weiter«, sagt er und zieht mich in den Schatten eines Baumes am Straßenrand.

Im Dunkeln liegt ein Weg, der nur schwer zu erkennen ist und zu einer Mauer mit einem Metalltor führt, das leicht im Mondlicht schimmert. Auf der anderen Seite sind Felder. Die Straße ist nur ein paar Minuten entfernt, man hört leise Geräusche und sieht ab und zu Lichter, wenn ein Auto vorbeifährt.

Ben hält an und lehnt sich an die Steine, sein Gesicht liegt im Schatten. »Sprich leise in der Nacht«, flüstert er. Er legt seine Hände um meine Hüfte und hebt mich hoch, sodass ich oben auf die Mauer sitze und wir auf Augenhöhe sind. Einen Arm hat er um mich gelegt. Meine Augen gewöhnen sich allmählich an die Dunkelheit, und ich kann erkennen, dass er wieder diesen Blick hat. Wie vor ein paar Tagen, als wir im Regen standen und ich dachte, er würde mich küssen. Den Blick, den ich in Gianellis letzter Kunststunde gezeichnet und dann versteckt habe.

Er beugt sich schnell vor – so schnell, dass ich nicht reagieren kann – und küsst mich sanft auf die Wange.

»Ich bin nicht böse auf dich, Kyla«, flüstert er mir ins Ohr und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Mein Magen schlägt Purzelbäume, und meine Hand geht wie von selbst zu seinem Gesicht, um seine Lippen zu berühren …

Er schüttelt bedauernd den Kopf und tritt einen Schritt zurück. »Wir müssen reden. Wir haben nicht viel Zeit.«

Meine Hand sinkt wieder nach unten.

Er lehnt sich im Schatten an die Mauer, doch er spricht nicht. Die Blätter rascheln im Wind, der Stein unter mir fühlt sich eiskalt an, und jetzt, da wir nicht mehr laufen, bildet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen, und ich schaudere.

Er kommt näher und nimmt meine Hand.

»Mir hat das Laufen mit dir gefehlt«, beginnt er. Ich konnte ihm eine Nachricht zukommen lassen, dass ich nicht mehr auf die Laufbahn der Schule darf.

»Mir auch.«

»Du hast mich vermisst?«

»Das Laufen«, sage ich und er hebt eine Augenbraue. »Und dich«, gebe ich zu. Ben grinst: Er wusste es die ganze Zeit. Er wollte nur, dass ich es sage.

»Na ja. Das mit dem Laufen kann ich verstehen. Nur wenn ich Gas gebe, kann ich mich auf Dinge konzentrieren und nachdenken. « Er runzelt die Stirn. »Aber die ganzen Sachen, die du mir am Samstag erzählt hast – das bekomme ich nicht mal beim Joggen aus dem Kopf.«

In meinen Ohren hallen Mrs Alis Worte wider. Exzessives Training trickst die Überwachungsmöglichkeiten deines Levos aus. Und ich merke, dass ich Ben nur so sehen kann, wie er wirklich ist, wenn er läuft – und nicht als den lächelnden Slater wie bei unserem ersten Treffen. Als würde es ihn befreien.

Er lässt meine Hände los und macht einen Schritt zurück. »Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, was mit Tori passiert ist.«

Ich schlinge meine Arme um meinen Körper, um den Schmerz zu verstecken. Tori ist der Geist, der immer zwischen uns steht. Dann schüttle ich den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Nein, kein Geist! Das kann sie nicht sein. Oder doch?

»… und mit Phoebe, deinem Kunstlehrer und all den anderen, die verschwunden sind. Was ist mit all den Vermissten auf der Webseite geschehen, von der du mir erzählt hast? Nach allem, was ich herausgefunden habe, wird es immer schlimmer. Immer mehr Menschen verschwinden.«

»Komm mit mir mit. Montag nach der Schule, dann siehst du es selbst. Lass uns nachschauen, ob du auf der Webseite stehst.« Ich habe das Versprechen gebrochen, niemandem davon zu erzählen. Doch es ist nicht irgendjemand, es ist Ben und ich vertraue ihm. Trotzdem liegt mir die Schuld schwer im Magen.

»Aber die Sache ist die, Kyla: Ich will nicht. Ich will es nicht wissen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du bist vermisst gemeldet. Jemand sorgt sich um dich, sie wollen dich zurückhaben. Was, wenn mich niemand will und ich deshalb hier bin? Wie bei Tori – ihre neue Mutter hat einfach beschlossen, dass sie sie nicht mehr haben will. Was, wenn mich meine echten Eltern loswerden wollten?«

»Aber so läuft es nicht. Du musst wegen irgendetwas verhaftet und verurteilt worden sein, du musst etwas angestellt haben, um geslated zu werden.« Doch ich höre, wie die Worte aus meinem Mund kommen und falsch klingen. Langsam verstehe ich die Tragweite der Verschwörung um diese vermissten Kinder. Es sollte so sein, dass sie eines Verbrechens schuldig sind, aber so ist es nicht immer – nicht wenn diese Webseiten echt sind. Man kann sich ja nicht darüber beschweren, dass man geslated wurde. Wenn es passiert ist, erinnert man sich an gar nichts mehr. Und Leute, die zu Recht verurteilt wurden, werden nicht vermisst. Die Eltern verurteilter Straftäter würden wissen, was mit ihren Kindern geschehen ist.

»Jetzt kapierst du’s, oder?«, fragt Ben.

Ich nicke. »So weit habe ich nicht gedacht.«

»Also, warum sollte ich es herausfinden wollen? Was soll das bringen? Ich erinnere mich sowieso an nichts aus meinem früheren Leben. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch und meine jetzige Familie ist in Ordnung, sogar mehr als das.«

Da fällt mir auf, dass ich fast gar nichts über Bens Familie weiß. »Erzähl mir von ihnen«, bitte ich ihn. Wir laufen wieder Richtung Straße und zur Gruppe. Ben erzählt mir von seinem Vater, einem Grundschullehrer, der gern Klavier spielt, und seiner Mutter, die das Milchgeschäft führt, Metallskulpturen herstellt und keinen Ton halten kann. Seine Eltern konnten keine eigenen Kinder bekommen und nach drei Jahren bei ihnen sind sie ihm ans Herz gewachsen – warum also alles durcheinanderbringen?

Ich höre ihm zu, aber ein Teil von mir denkt an das, was er vorhin gesagt hat: Was, wenn mich niemand will?

Und ich denke: Ich will dich.

Aber das sage ich nicht laut.