»Da hast du ja gestern ein ganz schönes Abenteuer erlebt«, sagt Dad, während er mit einem Auge auf die Straße achtet und mit dem anderen auf mich.
»Ja, scheint so.«
»Hattest du Angst?«
»Ja.«
»Gut.«
Ich sehe ihn überrascht an. »Du müsstest vollkommen verrückt sein, wenn du dich in dieser Situation nicht gefürchtet hättest«, meint er. »Konntest du trotzdem gut schlafen?«
»Ja.«
»Keine Albträume?«
»Nein.« Ich hatte zwar Angst, meine Augen zu schließen, aber falls ich geträumt habe, kann ich mich an nichts mehr erinnern.
»Interessant. Da passiert tatsächlich mal etwas, vor dem man Angst haben könnte, und du schläfst wie ein Baby.« Er sieht fasziniert aus, als wäre ich ein Rätsel, das er zu lösen versucht. Ich habe das Gefühl, es gefällt ihm gar nicht, wenn er Menschen und Situationen nicht versteht.
»Vielleicht hat die Spritze aus dem Krankenhaus noch gewirkt«, schlage ich vor.
»Vielleicht«, sagt er, aber ich habe das Gefühl, dass er weiß, dass die Wirkung des Happy Juice nicht so lang anhält. »Was empfindest du im Hinblick auf die Terroristen?«
Kann er irgendwoher wissen, dass ich zwei von ihnen gesehen habe, dass sie mir direkt gegenüberstanden? Nein. Wie auch? Dad konzentriert sich jetzt voll auf die kurvenreiche, enge Straße.
»Nun?«
Was fühle ich gegenüber den Terroristen … Ich konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Sie haben vor sechs Jahren einen Bus voller Schüler in die Luft gesprengt und gestern eine Krankenschwester getötet … »Sie sind böse«, sage ich.
»Manche denken, dass sie nicht ganz unrecht haben. Dass die Lorder zu weit gehen, dass sie die eigentlich Bösen sind. Dass das, was in diesem und anderen Krankenhäusern geschieht, falsch ist.«
Meine Augen werden groß vor Schreck darüber, dass er es wagt, so etwas auszusprechen, auch wenn er nur von manchen – unpersönlich und gesichtslos – spricht. »Aber die RT töten Menschen, unschuldige Menschen, die mit all dem nichts zu tun haben. Es ist doch egal warum, es ist immer noch falsch.«
Er neigt den Kopf von links nach rechts, als würde er meine Antwort abwägen. »Also sind es ihre Methoden, an denen du Anstoß nimmst, weniger an ihrer Haltung? Interessant.«
Er biegt zur Schule ab. Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob er noch kurz warten kann, weil ich mir nicht sicher bin, ob Ferguson von Mrs Ali die Anweisung bekommen hat, mich auch vom Sonntagstraining auszuschließen. Aber plötzlich will ich nur noch raus aus dem Auto, weg von Dad und seinen Fragen. Die Art, wie er interessant sagt, verrät, dass viel mehr hinter jedem einzelnen seiner Worte steckt.
Heute ist Ferguson schon vor den meisten Schülern da. Er begrüßt mich mit einem Nicken, als ich aus dem Auto steige, und scheint nicht überrascht zu sein, dass ich hier bin. Dad winkt kurz und fährt wieder.
Mum hat darauf bestanden, dass ich heute zu Hause bleibe, aber Dad meinte, dass sie mich ohnehin nicht die ganze Zeit im Auge behalten kann und dass ich genauso gut zum Training gehen könnte. Heute Morgen war sie wieder ganz sie selbst, auch gestern Abend schon. Nachdem Tante Stacey gegangen war und wir zu Abend gegessen hatten, war Mum wieder völlig gefasst gewesen. Als Dad nach Hause kam, hätte man nicht mehr ahnen können, wie aufgelöst sie Stunden zuvor noch gewesen war.
»Was? Ich meine, woher kannst du das wissen?« Ben lehnt sich an einen Baum und atmet schwer. Ich bin gerannt, als wären die Lorder hinter mir her, vom ersten Schritt bis auf den Hügel hinauf, und Ben konnte kaum mithalten. Ich bin gelaufen, bis ich vor Erschöpfung anhalten musste. Aber ich wusste, dass unser Levo-Wert nun hoch genug sein würde, um über Phoebe und die Ereignisse in der Klinik sprechen zu können.
»Ich habe sie gesehen.«
»Wo?«
»Im Krankenhaus. Sie ist geslated worden.«
Schnell erzähle ich Ben, was gestern passiert ist. Die schlimmsten Details lasse ich allerdings aus – nicht, weil ich sie ihm nicht erzählen will, sondern weil ich sie mir nicht so genau ins Gedächtnis rufen will, um sie beschreiben zu können. Es ist, als wären sie hinter einer kleinen Tür verborgen und in meinem Kopf weggeschlossen. Vielleicht ist das der eigentliche Grund dafür, dass ich keine Albträume hatte?
»Es sind tatsächlich Terroristen ins Krankenhaus eingedrungen? Das will mir überhaupt nicht in den Kopf«, sagt Ben und sieht aus, als würde er weiterrennen und fliehen wollen. Ich greife nach seiner Hand, um ihn festzuhalten, und er hält sie in seiner.
»Und vergiss Phoebe nicht«, sage ich.
»Bist du dir ganz sicher, dass sie es war?«
»Ja.« Sie war es. Denn abgesehen von dem freudigen Grinsen, das ich auf ihrem Gesicht noch nie zuvor gesehen habe, habe ich keinerlei Zweifel.
»Also ist sie geslated worden. Aber sie ist von den Lordern erst vor – wann, einer Woche und ein paar Tagen? – geholt worden. Es kann keinen Prozess für eine rechtsgültige Verurteilung gegeben haben.«
»Nein.«
Wir laufen weiter. Eigentlich sollten wir genug Vorsprung haben, damit uns so bald niemand einholt, denn wir waren heute richtig schnell – kein Regen hat uns behindert und der Schlamm von letzter Woche ist ziemlich gut getrocknet. Als wir an dem Stein ankommen, auf dem wir letztes Mal saßen, hält Ben an, lässt sich daraufsinken und zieht mich auf seinen Schoß. Er schlingt seine Arme um mich und flüstert in meine Haare: »Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Ich weiß nicht, was ich tun sollte, wenn du auch noch verschwinden würdest.«
Auch noch verschwinden … wie Tori. Obwohl es nicht ganz das Gleiche ist, ob man von Terroristen in die Luft gesprengt wird oder von den Lordern abgeholt wird. Aber zumindest ist eindeutig, was passiert, wenn man in die Luft fliegt. Nicht, wenn niemand von deinem Schicksal erfährt.
Wir bleiben einfach so sitzen und bewegen uns nicht. Es ist ein kalter Oktobermorgen, aber die Sonne wärmt meinen Rücken. Alles andere wärmt Ben durch seine Nähe. Mein Gesicht liegt an seiner Brust, ich atme feuchte Luft und Schweiß ein und noch etwas, das einfach nur Ben ist. Ich spüre seinen Atem auf meinem Haar, sein Herz schlägt im Einklang mit meinem, und in diesem Augenblick wünsche ich mir nichts mehr, als für immer hierbleiben zu können.
Schließlich rückt Ben mit ernstem Gesicht ein Stück von mir ab.
»Phoebe war 15 – ich habe eine ihrer Freundinnen gefragt. Nachdem sie abgeholt wurde, hat man sie geslated. Aber was ist mit Tori? Sie war 17. Und Gianelli – er war Jahrzehnte älter. Was ist mit ihnen geschehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir müssen etwas dagegen unternehmen«, sagt Ben. Angst steigt in meinem Magen auf. »Und was?«
»Wir müssen es weitererzählen – zumindest was mit Phoebe passiert ist. Was man mit ihr gemacht hat, ist nicht legal. Andere ahnen vielleicht, dass so etwas geschieht, aber sie wissen es nicht, oder?«
Ich schüttle den Kopf. »Du kannst das nicht weitererzählen! Sonst bist du der Nächste, der verschwindet.«
»Aber wie soll sich etwas ändern, wenn niemand Bescheid weiß?«
»Nein«, sage ich.
»Aber …«
»Nein!« Ich springe auf und laufe zurück zum Pfad.
Ben folgt mir. »Kyla, ich …«
»Nein. Versprich mir, dass du das nicht tust.«
Wir diskutieren hin und her, doch ich kann Ben letztlich nur das Versprechen abringen, dass er nichts weitererzählen wird, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen. Dann laufen wir wieder los, ehe uns jemand einholen kann. Ich renne, bis die Bewegung das Einzige ist, was zählt, und ich über alles oder nichts nachdenken kann – beides ist okay. Als das Ziel mit unserem Bus und Ferguson davor in Sichtweite ist, nehme ich Bens Hand.
»Hör mal. Komm morgen nach der Schule mit mir mit. Schau dir die Webseiten an, von denen ich dir erzählt habe. Dort reden die Leute über solche Dinge.«
Er grinst.