Höllenqual. Meine ganze Welt besteht nur aus Schmerz, sonst gibt es nichts mehr. Pulsierender, rot tropfender Schmerz. Eine Schraubzwinge presst alles zusammen, was ich bin, alles, was ich war, alles, was ich sein werde.
Langsam werden andere Dinge greif bar. Der Boden, auf dem ich liege. Stimmen. Ben …
Ein Stich in meinen Arm. Wärme strömt durch meine Adern und meinen ganzen Körper. Doch sie nimmt den Schmerz nicht weg – nichts kann ihn verdrängen. Er tritt nur etwas in den Hintergrund. Ich öffne die Augen.
»Hallo«, sagt Mum und lächelt. »Du bist zurück.«
»Hm?«, mache ich. Dann wird alles schwarz.
Er lächelt. »Ich konnte doch nicht gehen, ohne mich zu verabschieden.« Er kniet sich hin.
»Verlass mich nicht …« Tränen laufen über mein Gesicht.
»Ich kann nicht bleiben, es ist zu spät.« Er lächelt wieder, doch seine Augen sind traurig.
»Sei stark, Kyla.« Er beugt sich herab, seine Lippen streifen ganz sanft meine: unser dritter Kuss.
Er weicht zurück, wird unwirklich. Licht scheint durch ihn hindurch.
»Auf Wiedersehen, Kyla«, sagt er mit leiser Stimme. Seine Worte verklingen in der Stille. Dann ist er verschwunden.
Unser letzter Kuss.
»Kyla?«, fragt Mum. Sie sitzt im Sessel neben mir. »Hallo, Kleines.« Ihr Gesicht ist müde und blass. Ich versuche, mich wieder aufzusetzen, aber die Bewegung verursacht schreckliche Schmerzen in meinem Schädel. Ich keuche.
»Bleib ruhig«, sagt Mum.
»Was ist mit Ben passiert?«
»Mach dir darüber jetzt keine Gedanken.«
Ich will mich mit aller Kraft konzentrieren, aber der Schmerz wird dadurch noch schlimmer. Trotzdem ist da etwas, das ich nicht zu fassen bekomme, aber unbedingt wissen muss.
»Sag es mir«, bettle ich und merke, dass meine Wangen nass sind.
»Sch. Jazz hat dich nach Hause gebracht, und du bist ohnmächtig geworden, als ihr durch die Tür gekommen seid. Das ist alles, was ich weiß.«
»Waren Sanitäter hier?«, flüstere ich.
»Natürlich. Sie haben dir eine Spritze gegeben und du bist eine Sekunde lang bei Bewusstsein gewesen, doch dann warst du wieder weg.«
Gefahr. Ich schließe die Augen. Sie wissen es also. Die Lorder – ihnen muss klar sein, dass ich bei Ben war. Die Sanitäter werden ihnen gesagt haben, dass ich ohnmächtig geworden bin, und Ben ist mein Freund. Sie werden sich alles Weitere zusammenreimen können. Ich versinke wieder im Dunkeln.
Von unten höre ich Gemurmel. Stimmen? Mum und noch jemand.
Ich schlüpfe unter meiner Decke hervor und schaffe es irgendwie, aufzustehen und mich mit Gummibeinen zum Fenster zu schleppen. Vor der Einfahrt steht ein schwarzer Van.
Lorder.
Adrenalin schießt durch meinen Körper und schreit: lauf. Aber ich bin dafür einfach zu schwach. Ich lege mich wieder ins Bett. Am besten stelle ich mich tot. Augenblicke später höre ich Schritte auf der Treppe und die Tür geht auf.
»Kyla?«, fragt Mum sanft und leise. Ich bleibe ruhig. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sie schläft. Kann das nicht warten?«
»Nein. Wecken Sie sie, oder ich tue es für Sie.« Eine kalte Männerstimme.
Schritte durchqueren das Zimmer und ich spüre Mums Hand auf meiner Wange.
Ich öffne flatternd die Lider und wimmere. Mums Augen starren in meine und haben eine dringende Botschaft – aber welche? Zwei Männer in grauen Anzügen stehen in der Tür hinter ihr und lassen den Raum klein wirken. Schließ die Augen. Sie gehen wieder zu, während mein Inneres durcheinanderwirbelt. Was hat sie ihnen erzählt? Was wissen sie? Wenn unsere Geschichten nicht übereinstimmen … Gefahr.
»Ich weiß nicht, warum Sie mit dem armen Kind reden müssen. Sie hat schon genug durchgemacht. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, was passiert ist: dass sie sich Sorgen gemacht hat, weil dieser Ben nicht in der Schule war, also ist sie zu ihm …«
Dieser Ben: in hartem, missbilligendem Ton.
»Still!«, unterbricht sie einer der Männer. »Wecken Sie sie.« Eine Warnung schwingt in seiner Stimme mit.
»Kyla, Liebes. Wach auf. Sei ein braves Mädchen.«
Noch eine Botschaft: Sie sagt mir, wie ich mitspielen soll. Ich bin jung und dumm, und sie wissen, dass wir zu Ben gefahren sind, doch Mum mag Ben nicht. Danke, Mum.
Diesmal rühre ich mich. Ich öffne die Augen und lächle ein verschlafenes Slater-Lächeln. »Mein Bauch tut weh«, stöhne ich.
»Armer Schatz. Diese Herren wollen dir nur ein paar Fragen stellen, okay? Lass mich dir ein wenig aufhelfen.« Mum schüttelt mein Kissen. »Du sagst ihnen genau das, was du mir auch erzählt hast«, fordert sie mich auf. Noch eine Botschaft. Sag ihnen die Wahrheit, wie ich sie kenne. Ich versuche mich fieberhaft daran zu erinnern, was Mum weiß und was nicht.
Dein Einsatz, Pokerface. Ich denke an Sebastian und imitiere Phoebes Gesicht: offen, glückselig. Ich lächle mit einem gelegentlichen Schmerzenszucken, wenn ich den Kopf bewege.
»Ja, Mum«, antworte ich und wende mich den ungeduldigen Männern an der Tür zu. Sie scheinen es nicht gewohnt zu sein, warten zu müssen. Liegt es am Einfluss von Mums Familie, dass sie sich trotzdem so zurückhalten? Eine kalte Gewissheit sagt mir: Wenn Mum irgendjemand anders wäre, hätten die Männer mich längst zur Befragung mitgenommen.
Der jüngere der beiden Lorder öffnet ein Netbook. »Du bist Kyla Davis?«
»Ja.«
»Warum hattest du gestern einen Blackout?«
Sie fragen gar nicht, was passiert ist? Doch ich werde mich hüten, Überraschung zu zeigen. »Ich war sehr aufgebracht. Mein Freund Ben war nicht in der Schule, und ein anderer Freund hat mich zu seinem Haus gefahren, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Dein anderer Freund?« Immer noch spricht der Jüngere und führt die Befragung durch, während er immer wieder ehrfürchtig zu Mum herüberblickt. Aber der andere ist der, vor dem man sich fürchten muss. Seine Haltung vermittelt, dass er hier das Sagen hat.
Antworte ich oder nicht? Mum wusste es.
»Jazz MacKenzie, eigentlich heißt er Jason. Er ist der Freund meiner Schwester. Aber er passt auf mich auf.«
»Und dann?«
»Bei Ben war gar nichts in Ordnung.« Ich versuche, besorgt zu klingen. »Es kamen Sanitäter, und Jazz meinte, wir sollten besser nicht im Weg sein. Er hat mich nach Hause gebracht. Aber ich habe mir große Sorgen um Ben gemacht und bin dann wahrscheinlich ohnmächtig geworden.«
Mum knurrt: »Dieser Ben – nichts als Ärger.«
»Mum und Dad haben mir gesagt, dass ich nicht mehr allein mit ihm laufen gehen soll. Ich gehe gern laufen.« Ich lächle ein breites Slater-Lächeln.
»Hat dir Ben jemals irgendwelche Pillen gezeigt?«
»Pillen? Davon weiß ich nichts.« Amy hat die Pillen gesehen. »Nein, Moment mal. Ben hatte irgendwelche Kopfschmerztabletten in seiner Tasche. Er hat eine davon genommen, als es ihm am Sonntag nicht gut ging.«
»Das waren jetzt genug Fragen«, schaltet sich Mum ein. »Das arme Kind ist krank.«
Wie aufs Stichwort beginnt sich mein Magen wieder zu drehen, aber diesmal atme ich nicht tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Ich spüre, wie alle Farbe aus meinem Gesicht weicht.
»Mum, ich glaube, ich muss mich übergeben.« Sie kann mir gerade noch den Mülleimer reichen. Wellen der Übelkeit überrollen mich und jeder Schauder verstärkt den Schmerz in meinem Kopf. Mein Magen ist fast leer, aber die Lorder weichen mit angewidertem Blick zurück.
»Das reicht für heute«, entscheidet Mum.
Der Jüngere will aus dem Zimmer gehen, aber der Ältere legt seinen Kopf zur Seite. Er hebt die Hand und der andere bleibt stehen. »Noch nicht ganz«, sagt er. Er sieht zu seinem Kollegen. »Durchsuch dieses Zimmer.«
Mum runzelt die Stirn. »Ist das wirklich nötig, Agent Coulson?«, fragt sie mit eisiger Stimme. Sie betont seinen Namen, um klarzumachen, dass sie sehr wohl weiß, wer er ist, falls er seine Kompetenzen überschreitet.
Coulson hebt amüsiert eine Augenbraue. »Oh doch, das denke ich schon. Bringen Sie sie hier raus.« Er nickt herablassend in meine Richtung.
Ich würge immer noch über dem Eimer, doch es kommt nichts mehr.
»Kyla kann nicht gehen. Sie werden mir helfen müssen«, sagt Mum und mit einem Nicken zu dem anderen tritt der Jüngere vor und kommt auf mich zu. Er hebt mich hoch und macht dabei ein Gesicht, als würde er eine Kanalratte in den Armen halten. Dann setzt er mich im Nebenzimmer auf Amys Bett.
Sie wollen mein Zimmer durchsuchen. Zweifellos sind sie auf der Suche nach Happy Pills – doch sie werden keine finden. Ich lasse mich auf Amys Kissen sinken und bin zu erschöpft, um nachzudenken oder mich zu bewegen. Deine Zeichnungen zischt eine Stimme in mir und meine Augen springen auf.
Unter dem losen Stück Teppich am Fenster liegen meine versteckten Skizzen. Das Bild von Gianelli, nachdem die Lorder ihn mitgenommen haben. Mum wollte, dass ich es zerstöre. Hätte ich es nur getan. Und die Zeichnung von Ben. Wenn sie sehen, wie ich ihn gezeichnet habe, kaufen sie mir die unschuldige kleine Kyla und die Geschichte von ihrem »Freund« nicht mehr ab. Es wird ihnen sofort klar sein, was ich für ihn empfinde. Ich zwinge mich, die Augen zu schließen. Minuten vergehen. Ich höre, wie Mum die Männer ermahnt, nicht alles durcheinanderzubringen. Doch es kommt kein Ausruf: »Schau, was ich gefunden habe«. Ich beginne zu hoffen, dass sie die Blätter nicht finden werden, obwohl ich kaum daran glauben kann.
Schließlich werden im Gang schwere Schritte laut, die sich die Treppe hinunterbewegen. Augenblicke später wird der Van vor der Tür angelassen. Die Lorder verschwinden – einfach so? Irgendwie kann ich nicht glauben, dass ich für sie nicht mehr interessant bin.
Mum hat ihre Version der Ereignisse so überzeugend dargestellt, dass sie einfach auf die falsche Fährte anspringen mussten: Ben ist der böse Bube, von dem ich mich hätte fernhalten sollen. Und ich habe mitgespielt. Ich fühle mich illoyal und unaufrichtig. »Tut mir leid, Ben«, flüstere ich. Tränen steigen in mir auf. Ben würde wollen, dass du in Sicherheit bist.
Ich schwebe zwischen Schlafen und Wachen. Meine Gedanken purzeln ungeordnet durcheinander und ergeben keinen Sinn. Kurze Erinnerungsstücke wirbeln durch meinen Kopf: Ben, wie er läuft. Die Eule seiner Mutter mit weit ausgebreiteten Schwingen. Ben in meinem Traum, als das Licht durch ihn hindurchscheint.
Vor meinem Zimmer sind Schritte zu hören und die Tür geht auf. Ich versuche, die Augen zu öffnen und mich zu bewegen, aber mein ganzer Körper fühlt sich an, als wäre er aus Blei. Die Tür wird wieder geschlossen. Ich registriere leise Bewegungen auf dem Flur und in meinem Zimmer, dann wird Amys Tür abermals geöffnet.
»Kyla? Ich habe dein Zimmer wieder hergerichtet. Amy kommt bald nach Hause.«
Sie hilft mir, aufzustehen und in mein Zimmer zu gehen. Alles riecht frisch und sauber, die Laken sind gewechselt. Beinahe könnte man vergessen, dass die Lorder überhaupt hier waren und meine Sachen durchsucht haben.
»Danke«, flüstere ich. Danach kann ich mich keine Sekunde mehr wachhalten und wieder wird alles um mich herum schwarz. »Kyla?«, weckt mich Mum. »Ich hab dir Suppe gebracht.« Sie sieht ganz normal aus – ihr ist nicht die geringste Spur von Stress wegen der Lorder anzumerken.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Iss trotzdem etwas.«
Sie hilft mir auf und versucht, mich zu füttern, aber ich nehme ihr den Löffel aus der Hand und esse selbst. Ich hatte überhaupt keinen Appetit, aber als ich die Tomaten schmecke, die Orange und noch etwas Würziges, bemerke ich plötzlich, wie ausgehungert ich bin. Doch wie kann ich nach dem, was passiert ist, essen?
Ich esse die Suppe auf.
»Wir müssen reden«, beginnt Mum. »Es tut mir leid, aber es muss sein. Du solltest dich erholen, doch das kann nicht warten.«
»Okay.«
»Warum bist du ohnmächtig geworden?«
Die Frage der Lorder, aber Mum verdient eine richtige Antwort.
Ich sinke in mein Kissen. Was verrate ich und was nicht – das ist alles zu viel für mich. Ich fange wieder zu weinen an und mein Levo vibriert. Mum setzt sich neben mich, legt ihre Hand sanft auf meinen Kopf und streichelt mir übers Haar.
Ich öffne die Augen und sehe sie durch den Schleier aus Tränen an. »Was weißt du denn?«
»Jazz hat nicht viel gesagt. Nur dass du dir Sorgen um Ben gemacht hast. Er hat dich zu ihm gefahren, aber ihr seid nicht reingegangen, weil dort Sanitäter und Lorder waren. Und dann hat er dich hergebracht.«
Ich nicke und wimmere. Also habe ich richtig geraten: Jazz hat nicht erwähnt, dass ich bei Ben in der Garage war. »Was ist mit Ben passiert? Bitte sag es mir.«
»Ich weiß es nicht sicher.«
»Ich muss es wissen. Bitte …«
»Wenn ich etwas rausbekomme, lasse ich es dich sofort wissen. Aber du darfst niemand anderen danach fragen. Verstehst du, Kyla? Das hier ist sehr ernst. Sprich nicht über Ben, lass dir nicht anmerken, dass du traurig bist, und sag oder tu nichts, was dich mit der ganzen Sache in Verbindung bringen könnte. Nicht in der Schule oder zu Hause oder sonst irgendwo.«
Mein Kopf pocht unglaublich, aber der Schmerz, wenn ich an Ben denke, ist stärker. Wie kann ich so tun, als wäre alles in Ordnung? Weil du musst.
»Was du heute den Lordern erzählt hast, ist deine einzige Version der Geschichte. Bleib dabei – egal, wer dich danach fragt: in der Gruppe, in der Schule und zu Hause.« Zu Hause? Sie meint damit: gegenüber Amy und Dad. Und ihre Wortwahl: Was ich zu erzählen habe, ist eine Geschichte. Meine Geschichte, nicht die Wahrheit. Sie weiß mehr, als sie zugibt.
Mum steht auf und geht zur Tür, doch dann dreht sie sich noch einmal um. »Noch eines, Kyla. Das war so eine schöne Zeichnung von Ben. Ich habe sie zusammen mit den anderen Bildern letzte Nacht gefunden. Tut mir wirklich leid, dass ich sie verbrennen musste.« Sie schließt die Tür.
Mit großen Augen starre ich auf die Stelle, wo sie gerade noch stand. Danke, Mum. Schon wieder. Die Lorder hätten die Skizzen mit Sicherheit gefunden. Mum ahnte, dass sie kommen würden, und hat mein Zimmer letzte Nacht durchsucht, während ich schlief. Mir wird klar, dass sie auch die Zeichnung von ihrem Sohn Robert gefunden haben muss. Sie fragt sich sicher, woher ich weiß, wie er aussieht. Woher ich überhaupt von ihm weiß.
Schützt sie mich? Oder traut sie mir vielleicht nicht? Sie hat mein Zimmer durchsucht, um sicherzugehen, dass die Lorder nichts finden können, das mich belastet.
Was würde sie denken, wenn sie wüsste, dass alles nur passiert ist, weil ich Ben mit zu Mac genommen habe, wo er Aiden getroffen und die Pillen bekommen hat? Dass er durch mich überhaupt erst auf die Idee gekommen ist, sein Levo zu entfernen. Was würde sie machen, wenn sie wüsste, dass ich diejenige war, die sein Levo mit einer Flex durchtrennt hat?
Doch als ich am nächsten Morgen aufwache, ist er schon wieder verschwunden.