image


Nach dem Unterricht warte ich bei Jazz’ Auto.

»Hi«, begrüßt er mich. »Hätte nicht gedacht, dass du immer noch mitkommen willst.«

Ich zwinge mich zu lächeln. »Ist das okay?«, frage ich so beiläufig wie möglich, so als ob es keine große Sache wäre, jetzt zu Mac zu fahren. Aber für mich ist es eine Riesensache. Mich auf meine Konfrontation mit Aiden und auf meine Wut zu konzentrieren, ist das Einzige, was mich bislang davon abgehalten hat, mich in ein heulendes Elend aufzulösen. Er ist tot und es ist alles deine Schuld. Nein! Wenn jemand Schuld trägt, dann Aiden: Aiden und Mac.

»Natürlich«, sagt Jazz. »Ich hatte gehofft, dass du dich dazu entscheiden würdest. Also los.«

Wir sind schon ein ganzes Stück von der Schule entfernt, ehe ich mich zu fragen traue: »Jazz, hat Ian herausgefunden, was mit Ben passiert ist?«

Er neigt den Kopf von einer Seite zur anderen und sieht dabei aus, als wolle er nicht antworten.

»Was weißt du? Bitte, ich muss es wissen.«

»Es gibt nicht viel zu erzählen. Nichts, was wir nicht schon wüssten oder uns gedacht haben.«

»Sag’s mir trotzdem.«

»Ians Mutter ist mit Bens Mutter befreundet. Sie hat ihr berichtet, dass die Sanitäter Ben wiederbelebt haben, aber dass er nicht selbstständig atmen konnte. Vielleicht war er zu lange bewusstlos, bis sie bei ihm waren. Aber sie weiß es nicht, denn sie wurde von den Lordern rausgeworfen. Als die Krankenwagen abfuhren, folgten ihnen die Lorder, und sie hatten es scheinbar nicht eilig, ins Krankenhaus zu kommen – keine Blaulichter oder Sirenen –, also befürchtet sie das Schlimmste. Aber sie weiß nicht, wohin sie Ben gebracht haben oder was mit ihm passiert ist.«

Ich muss die Tränen wegzwinkern und starre wortlos aus dem Fenster. Ob tot oder lebendig, die Lorder haben ihn mitgenommen. Was gibt es da noch zu sagen?

Jazz fährt um die letzte Biegung und bald kommen wir vor Macs Haus zum Stehen. Er parkt das Auto vor dem Eingang.

»Kyla, da ist noch etwas anderes. Bens Mutter hat Ian etwas für dich gegeben.«

»Was?«

»Es ist im Kofferraum.«

Wir steigen aus dem Auto, und Jazz tritt gegen den Kofferraum, bis er aufspringt. »Besser als jeder Schlüssel«, meint er.

Ein Pappkarton liegt darin, ein ziemlicher großer.

»Los«, sagt Jazz und ich öffne den Deckel.

Papier ist um irgendetwas gewickelt und ich ziehe an den oberen Lagen und sehe Metall. Metallfedern! Es ist die Eule. Bens Mum muss sie fertig gemacht haben. Ich fahre mit den Fingern über ihren Flügel.

»Bens Mum hat Ian erzählt, dass er sie gebeten hatte, sie für dich zu machen. Jetzt will sie, dass du sie bekommst«, erklärt Jazz.

»Das wusste ich nicht«, flüstere ich. Seine Mutter hat diese Kreatur auf der Grundlage meiner Zeichnung zum Leben erweckt. Die Eule ist so wunderschön und sie ist ein Geschenk von Ben. Seine Mum hat sie mir geschickt, obwohl sie sich fragen muss, was ich genau damit zu tun hatte. Das hätte sie nie gemacht, wenn sie wüsste, was ich getan habe. Tränen lauern hinter meinen Augen und ich zwinkere wieder. Du kannst sie nicht behalten. »Ich kann sie nicht mit nach Hause nehmen. Wie soll ich erklären, woher ich sie habe?«

»Das dachte ich mir auch schon. Deswegen habe ich sie heute dabei. Sicher kann Mac sie hier für dich aufheben. Fragen wir ihn.« Er nimmt den Karton aus dem Kofferraum. »Komm.«

Ich folge ihm ins Haus. Bens Mum hätte mir die Eule nicht gegeben, wenn sie wüsste, woher Ben die Pillen hatte und welche Rolle ich dabei gespielt habe. Er ist tot und es ist allein meine Schuld.

Jazz öffnet die Haustür und ruft: »Hallo?«

Mac kommt aus der Küche. »Hi. Wie geht’s dir, Kyla?« Er lächelt ein wenig, aber seine Augen sind traurig. Er weiß von Ben. »Wollt ihr Tee?«

»Tee?«, fragt Jazz mit gespielter Empörung und geht zum Schrank mit dem Bier. Mac setzt Wasser auf, und während es aufkocht, schickt er Jazz nach draußen, damit er sich ein neues Auto anschaut, an dem er gerade arbeitet.

Ich lehne mich gegen den Schrank. »Ist Aiden hier?«

Mac nickt. »Im Hinterzimmer. Es tut mir leid wegen Ben. Er war ein netter Kerl.« Sein Gesicht zeigt aufrichtiges Bedauern, aber ohne ihn hätte Ben niemals Aiden getroffen und diese Pillen bekommen. Ohne mich.

»Gibt es irgendetwas …«, setzt Mac an und legt eine Hand auf meine Schulter, doch ich schüttle sie ab. Ich will ihn anschreien, aber ich halte mich noch zurück und weiche aus.

»Ich will mit Aiden reden.«

»In Ordnung. Jazz sollte ihn besser nicht treffen oder von ihm wissen, okay? Ich beschäftige Jazz eine Weile draußen. Ich werde ihm erzählen, das du ein bisschen allein sein wolltest.«

»Mach das.«

Ich gehe zu dem Raum, in dem der Computer steht, und öffne die Tür.

Aiden sitzt mit dem Kopf in den Händen am Tisch.

Er sieht auf, als ich eintrete. »Hi«, sagt er. Seine großen dunkelblauen Augen stehen in krassem Kontrast zu seiner hellen Haut. »Mac hat mir gerade erst von Ben erzählt. Ich kann es kaum glauben. « Er steht auf und streckt mir eine Hand entgegen, aber ich drehe mich um, schließe die Tür und er lässt sie sinken.

»Was weißt du?«, frage ich.

»Nur, was ich von Mac gehört habe, und das hat er wahrscheinlich von seinem Cousin. Dass Ben sein Levo abgeschnitten hat.« Er schüttelt den Kopf. »Warum hat er so etwas getan?«

»Du weißt es wirklich nicht?«, frage ich angewidert.

»Was meinst du?«

»Du hast ihm diese Pillen gegeben, sie haben etwas mit ihm gemacht. Und du hast ihm erzählt, dass die RT Levos abschneiden und dass es schon funktioniert hat. Du hast ihm das angetan!«, stoße ich hervor. Meine Stimme ist höher geworden, fast schrill.

»Sprich leiser«, sagt Aiden und blickt zum Fenster.

»Ich habe seit Tagen stillgehalten. Jetzt sage ich, was ich will – und du wirst zuhören.«

»Ich höre zu«, antwortet er mit ruhiger Stimme.

»Diese Pillen waren nicht einfach nur Happy Pills, oder? Sie haben nicht einfach nur sein Level nach oben gejagt. Sie haben noch etwas anderes mit ihm gemacht.«

Aiden neigt seinen Kopf nach vorn. »Das ist wahr«, gibt er zu. »Sie schränken die Funktion des Levos ein.«

»Die Pillen sind schuld an allem.«

Er schüttelt den Kopf. »So funktionieren sie nicht. Sie sorgen eher dafür, dass man wieder frei denken kann.«

Ich schüttle den Kopf und möchte seinen Worten am liebsten keinen Glauben schenken. Aber es klingt genau wie das, was Ben gesagt hat.

»Ich kann deine Wut nachvollziehen. Aber es ist nicht meine Schuld. Ich verstehe nicht, warum Ben so etwas getan hat. Es lag zumindest nicht daran, dass er eigenständiger denken konnte. Irgendetwas muss passiert sein – etwas, das ihn zu dieser Entscheidung getrieben hat. Etwas, das ihm das Gefühl gegeben hat, es sei die einzige Möglichkeit für ihn.«

Ich starre Aiden entsetzt an. Es ist tatsächlich etwas passiert … das Aufeinandertreffen mit Wayne und die Tatsache, dass mich Ben nicht beschützen konnte. Es ist meine Schuld.

Ich schlinge meine Arme um mich. Wut und Kummer vermischen sich. »Nein, das stimmt nicht. Wenn du ihm die Pillen nicht gegeben hättest, wäre es nie dazu gekommen.«

Aiden zuckt zusammen. »Es tut mir wirklich leid, Kyla. Aber denk noch mal nach. Was mit Ben passiert ist, ist nicht meine Schuld. Es ist nicht geschehen, weil ich ihm die Pillen gegeben habe oder weil Mac mich hierhergeholt oder Jazz dich überhaupt erst zu mir gebracht hat.«

Ich starre Aiden entsetzt an. Es ist fast so, als würde er meine Gedanken lesen. Er darf mir meine Wut nicht nehmen. Ich brauche sie. Der einzige Mensch, dem ich noch Schuld geben kann, wenn alle anderen freigesprochen werden – bin ich.

»Wessen Schuld ist es dann?«, flüstere ich.

»Wer hat Ben geslated? Wer hat ihm ein Levo verpasst und es dagegen geschützt, dass es entfernt werden kann? Wer hat all diese Dinge getan?«

»Die Lorder – sie haben das getan.«

»Jetzt verstehst du, warum das, was wir tun, so wichtig ist. Wir müssen darauf aufmerksam machen, welche schlimmen Taten die Regierung zu verantworten hat. Hilf mir bei MIA.«

Gefahr. Ich schüttle den Kopf und weiche zurück. Nein. Nach allem, was passiert ist, verdreht er immer noch die Worte, manipuliert mich und versucht, mich dahin zu bringen, wo er mich haben will. Alles, was er sagt, klingt vernünftig, aber es ist dennoch falsch. Ohne Aiden wäre Ben nie etwas zugestoßen. Und was würde aus mir werden, wenn ich ihm helfe? Bei der kleinsten Verfehlung schickt mich Dad zurück – das hat er deutlich genug gesagt. Er, Coulson und seine Lorder und Mrs Ali – sie alle überwachen jeden meiner Schritte. Und Dr. Lysander und ihr Sag mir, was an dir anders ist, Kyla. Sie, Aiden, Hatten – alle bedrängen mich. Das ist eine Jagd und ich bin die Beute.

»Alles in Ordnung, Kyla?«, fragt Aiden schließlich, als ihm aufgeht, was er übersehen hat: dass mein Levo die ganze Zeit über kein einziges Mal vibriert hat. Er schaut neugierig auf mein Handgelenk, aber ich verdecke es mit der Hand. Behalte die Wut.

Ich wende mich zur Tür.

»Wenn ich jemals irgendetwas für dich tun kann, was auch immer …« Seine Stimme verstummt.

Ich halte inne. »Es gibt eine Sache. Finde heraus, was mit Ben passiert ist.«

Er sagt nichts. Ich drehe mich noch einmal um.

Sein Gesicht ist traurig. »Kyla, es tut mir leid. Aber es ist unwahrscheinlich, dass Ben überlebt hat. Und falls doch, haben ihn jetzt die Lorder. Es kann nicht lange dauern.«

»Finde es heraus«, wiederhole ich.

»Falls ich etwas höre, gebe ich es an Mac weiter.« Aber er betont das Falls, als sei die Sache für ihn eine abgeschlossene Geschichte.

Ich gehe und schließe die Tür.

Mac und Jazz sind immer noch bei den Autos, aber ich gehe nicht zu ihnen. Noch nicht. Kummer bedroht meine Wut – mein Level beginnt zu fallen. Ich betrete die Küche. Dort auf dem Tisch steht die Kiste mit der Eule. Die hilft mir jetzt auch nicht.

Ich entferne das restliche Papier und stelle sie auf den Tisch.

Sie ist großartig. Als ich die Skulptur das letzte Mal gesehen habe, waren die Flügel noch nicht fertig, doch jetzt haben sie eine Spanne von fast einem Meter. Es ist unglaublich, wie all die einzelnen Metallteile zusammengefügt sind. Ich berühre leicht die Flügel, die scharfen Klauen, den Schnabel. Eine wunderschöne, einsame Kreatur, aber tödlich, wenn man zufällig eine Maus ist. Ich fahre mit den Fingern über den Rücken der Eule. Was war das? Ein leises Geräusch, ein Rascheln, als wäre etwas lose. Ich drehe die Eule, um mir die Stelle genauer anzusehen.

Die winzige weiße Ecke ist schwer zu entdecken. Ich schaffe es gerade so, sie mit zwei Fingernägeln zu packen und daran zu ziehen, bis ein kleines Stück Papier zum Vorschein kommt.

Eine Nachricht?

Meine Hände beginnen zu zittern, als ich das Blatt auseinanderfalte.

Liebe Kyla,

wenn Du das hier gefunden hast, bedeutet das, dass es schiefgegangen ist. Es tut mir so leid, wenn ich Dir Kummer mache. Aber Du musst wissen, dass das Ganze allein meine Entscheidung war. Niemanden sonst trifft irgendeine Schuld.

In Liebe

Ben

In dieser Nacht kann ich wieder nicht schlafen. Mein Wert liegt bei ungefähr 4, und das dumme Levo vibriert jedes Mal, wenn ich gerade wegdämmere. Ich sehne mich nach Dunkelheit und Stille – ohne von Gefühlen und Gedanken überwältigt zu werden. Aber der Schlaf kommt nicht. Ich bin mit meinen Ängsten und Sorgen allein. Nicht mal Sebastian ist hier, um die Dämonen zu verscheuchen.

Schließlich halte ich es nicht mehr aus still zu liegen und gehe zur Treppe, um mir etwas zu trinken zu holen. Aber unten brennt Licht. Ich schaue zur Wohnzimmertür hinein und sehe, dass Mum mit einem Buch in den Händen und Sebastian auf dem Schoß auf dem Sofa sitzt.

»Wie schaffst du es, trotz allem weiterzumachen?«, frage ich.

Mum erschrickt ein wenig, sieht sich um und entdeckt mich in der Tür. Sie legt ihr Buch beiseite. »Trotz was?«

»Trotz all der schlimmen Dinge, die den Menschen widerfahren sind, die dir am Herzen lagen. Wie deinen Eltern. Oder deinem Sohn.«

»Komm her«, sagt Mum und streckt die Hand aus. Ich gehe zu ihr und setze mich neben sie aufs Sofa. Sie hakt sich bei mir unter.

»Ich sollte dir das beantworten können, aber das kann ich nicht. Es gibt keine Antwort. Du lebst einfach weiter und bringst einen Tag nach dem anderen hinter dich. Nach einer Weile wird es einfacher.«

Mum macht uns heiße Schokolade, holt eine Decke und wir bleiben auf dem Sofa sitzen. Sie liest, Sebastian schnurrt und irgendwann schlafe ich ein.