Ich weiß nicht, wie die Landmenschen das machen.
Schiffe hinterlassen keine wunden Oberschenkel und auch keine stinkenden Haufen am Boden. Pferde, so schließe ich, sind widerlich, und ich bin froh, sie loszuwerden, als wir eine Woche später endlich in Port Renwoll ankommen.
Mein Schiff, die Ava-lee , liegt im Hafen und wartet auf mich. Sie ist das schönste Schiff, das je gebaut wurde. Bevor ich sie in Beschlag genommen habe, hat sie zur Flotte des Landkönigs gehört. Die natürliche Farbe der Eiche, aus der sie besteht, habe ich ihr gelassen, aber die Segel ließ ich königsblau färben. Die Ava-lee hat drei Masten; der mittlere ist rahgetakelt, die beiden anderen mit Lateinersegeln ausgestattet. Sie hat kein Vorderkastell und nur ein kleines Achterkastell und außerdem so viel Platz, dass wir dreiunddreißig alle bequem hineinpassen.
Sie mag klein sein, gleichzeitig ist sie aber auch das schnellste Schiff, das es gibt.
»Sie sind zurück!«, tschilpt eine Stimme im Krähennest. Das muss die kleine Roslyn sein, Wallovs Tochter und Ausguck des Schiffs. Sie ist mit ihren gerade sechs Jahren das jüngste Mitglied der Mannschaft.
Wallov kannte Roslyns Mutter nur eine Nacht lang. Neun Monate später starb sie bei der Geburt eines kleinen Mädchens. Wallov übernahm die Verantwortung für sein Kind, obwohl er keine Ahnung hatte, was er mit der Kleinen anfangen sollte. Damals war er selbst erst sechzehn. Bis dahin war er Seemann auf einem Fischerboot gewesen, aber nun, da er eine Tochter hatte, um die er sich kümmern musste, blieb ihm keine Wahl, als diesen Posten aufzugeben. Er wusste nicht, wie er sich und sein Kind durchbringen sollte, bis er mir begegnet ist.
»Captain an Bord!«, ruft Niridia, als ich auf Deck trete. Als mein Erster Maat hat sie in meiner Abwesenheit das Kommando.
Roslyn ist bereits aus dem Krähennest heruntergeklettert, stürzt sich auf mich und wickelt ihre Arme um meine Beine. Ihr Kopf erreicht gerade die Höhe meiner Taille.
»Du bist zu lange weg gewesen«, sagt sie. »Beim nächsten Mal musst du mich mitnehmen.«
»Bei diesem Ausflug mussten wir kämpfen, Roslyn. Außerdem habe ich dich hier gebraucht. Jemand muss doch auf mein Schiff aufpassen.«
»Aber ich kann kämpfen, Captain. Papa hat es mir beigebracht.« Sie greift im Rücken in den Bund ihrer zu großen Kniehose und zieht einen kleinen Dolch heraus.
»Roslyn, du bist sechs Jahre alt. Zehn mehr, und wir werden sehen.«
Sie rümpft die Nase und blickt mich wütend an. Und dann stürzt sie sich auf mich.
Sie ist schnell, das muss ich ihr lassen, trotzdem weiche ich ihrer Klinge mühelos aus. Ohne innezuhalten, wirbelt sie wieder herum und greift erneut an. Ich mache einen Satz rückwärts und trete den Dolch weg, sodass er außerhalb ihrer Reichweite ist. Trotzig verschränkt sie die Arme vor der Brust.
»Also gut«, sage ich. »Wir sehen es uns in acht Jahren wieder an. Zufrieden?«
Sie strahlt, stürmt erneut heran und nimmt mich noch einmal in die Arme.
»Man könnte glauben, ich existiere überhaupt nicht«, sagt Wallov irgendwo hinter mir zu Deros.
Roslyn hört ihn, lässt von mir ab und läuft zu ihm hin. »Ich wollte gerade zu dir kommen, Papa.«
Ich betrachte all die anderen an Bord. Zwölf Leute habe ich zur Bewachung des Schiffs zurückgelassen. Bis auf unsere neuesten Rekruten sind sie jetzt alle auf Deck.
»Irgendwelche Schwierigkeiten?«, frage ich Niridia.
»Es war todlangweilig. Und bei euch?«
»Wir hatten ein bisschen zu tun. Aber nichts, womit wir nicht fertig geworden wären. Und wir haben Beute mitgebracht.«
Ich hole den provisorischen Halsschmuck hervor und zeige allen die Karte im Inneren der Phiole. Von den ersten beiden Stücken habe ich bereits ein Duplikat und auf dem Weg zurück zur Festung werde ich Mandsy beauftragen, auch von diesem ein Replikat anzufertigen. Vater wird die Reise zur Isla de Canta anführen, aber ich möchte vorbereitet sein, falls wir getrennt werden oder ein Unglück über sein Schiff hereinbricht. Es wäre doch dumm, von solch kostbaren Gegenständen nur eine einzige Ausfertigung zu haben.
Drüben an Steuerbord mustert Teniri, die Zahlmeisterin, die Kutsche und fragt: »Was gibt es sonst noch? Irgendwas von der funkelnden, goldenen Art, Captain?«
Mandsy und die Mädchen kommen die Planke herauf. Für jede Truhe werden vier von ihnen gebraucht. Deros und Wallov haben unseren Gefangenen schon samt Käfig und allem Drum und Dran auf das Schiff gebracht und auf Deck abgestellt. Vordan liegt darin, geknebelt und unbeachtet, während die Mädchen die Truhen umkreisen. Bis die Beute aufgeteilt wird, darf außer Teniri niemand das Gold anrühren. Sie ist mit sechsundzwanzig Jahren die Älteste an Bord und obwohl sie damit immer noch jung ist, hat sie am Hinterkopf eine graue Strähne, die sie in einem Zopf zu verstecken sucht. Wer immer es wagt, sie zu erwähnen, wird mit einem flinken Tritt in die Eingeweide bestraft.
Sie hebt die Deckel beider Truhen gleichzeitig an und gibt den Blick auf eine happige Menge an Gold- und Silbermünzen sowie einige unbezahlbare Juwelen und Edelsteine preis.
»Also gut«, sage ich. »Ihr hattet Gelegenheit, es euch anzusehen, jetzt lasst uns das Zeug sicher einlagern und aufbrechen.«
»Was ist mit ihm?«, fragt Wallov und tritt gegen den Käfig. Vordan rümpft die Nase, versucht aber gar nicht erst, an seinem Knebel vorbeizubrüllen.
»Ich würde ihn ja in die Brig stecken, aber ich muss mich heute Abend auffrischen. Besser, wir bringen ihn ins Lazarett. Lasst ihn im Käfig.«
»Captain«, wendet Niridia ein. »Im Lazarett befindet sich bereits ein Gefangener.«
Das habe ich nicht vergessen. Ihn würde ich nie vergessen.
»Er wird verlegt«, sage ich.
»Wohin?«
»Darum kümmere ich mich. Sorgt ihr dafür, dass alles andere an seinen Platz kommt. Wo ist Kearan?«
»Dreimal darfst du raten.«
Ich schnaube hörbar. »Holt ihn weg von meinem Rumvorrat und setzt ihn ans Ruder. Wir legen ab.« Nur weg von dem Pferdegestank, weit, weit weg. Ich brauche ein Bad.
Nachdem meine frühere Navigatorin bei der Schlacht auf der Night Farer ihr Leben gelassen hat, habe ich mir Kearan von Ridens Schiff geholt. Die meiste Zeit über ist er ein nutzloser Säufer, aber er ist auch einer der besten Steuermänner, die ich je erlebt habe. Allerdings werde ich ihm das nie verraten.
Ich drehe mich zum Lazarett um und starre die Tür an.
Riden habe ich schon seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Stattdessen habe ich ihn Mandsys Fürsorge überlassen und darauf vertraut, dass sie helfen kann, seine Beine zu heilen, und auch dafür sorgt, dass er jeden Tag etwas zu essen bekommt. Bei jeder anderen Person wäre mein Blut schon bei dem Gedanken in Wallung gekommen, aber Mandsy hat nie auch nur eine Spur von Interesse an Männern oder Frauen gezeigt. So ist sie einfach nicht gemacht.
Und darum habe ich ihr als der Schiffsärztin auch befohlen, sich um ihn zu kümmern und mich auf dem Laufenden zu halten: als sie die Fäden der Wundnaht entfernt hat, nachdem er anfing, wieder mit dem kranken Bein zu gehen.
»Er fragt nach dir, Kapitän«, hatte sie gesagt, ehe wir aufgebrochen waren, um uns Vordan zu holen, aber ich war nicht bereit, ihm zu begegnen.
Als ich in diesem Käfig eingesperrt war, hat Vordan Riden bedroht, um mich unter Kontrolle zu bringen.
Und es hat funktioniert.
Riden war derjenige, der mich befragt hat, als ich Gefangene auf der Night Farer gewesen war. Er war Mittel zum Zweck. Eine Ablenkung von der langweiligen Aufgabe, ein Schiff von oben bis unten zu durchsuchen – allerdings eine ziemlich attraktive Ablenkung, die zufällig auch noch gut küssen kann. Das hat Spaß gemacht. Einfach nur Spaß.
Jedenfalls dachte ich das. Aber was Vordan auf der Insel zu Riden gesagt hat, verfolgt mich noch immer. Es gibt mindestens eine Sache, die ihr wichtiger ist als ihre Vergeltung. Dich.
Der Gedanke, mit Riden zu reden, ist selbst jetzt, da ich die Macht habe, über seinen Status als Gefangener zu befinden, beunruhigend.
Denn er weiß, dass ich einem anderen Mann um seinetwillen die Herrschaft über mich eingeräumt habe. Er weiß, dass mir an ihm liegt. Aber ich bin nicht bereit, mir das einzugestehen. Wie also soll ich ihm gegenübertreten?
Aber jetzt habe ich keine Wahl mehr. Wir brauchen sein Quartier, und zwar für Vordan. Riden wird sich zu Kearan und Enwen aufs Deck gesellen müssen. Und ich kann ihm nicht länger aus dem Weg gehen.
Die Tür öffnet sich und viel zu schnell sehe ich Riden in der Ecke, wo er sein schlimmes Bein ausstreckt. Sein braunes Haar ist etwas länger und reicht ihm nun knapp über die Schultern. Mehrere Tage alte Bartstoppeln zieren sein Kinn, weil er sich nur rasieren darf, wenn er ein Bad nimmt. Er sieht so kräftig aus, wie ich ihn in Erinnerung habe, was zeigt, dass er die Zeit, in der er hier festsitzt, zu nutzen weiß.
Die Veränderungen, die stattgefunden haben, lassen ihn nur noch spitzbübischer wirken. Gefährlicher. Beinahe unwiderstehlich attraktiv.
Wenn er sein Quartier verlässt, wird er sich als Erstes rasieren müssen. Anderenfalls können sich die Mädchen bestimmt nicht auf ihre Arbeit konzentrieren.
Er blickt auf, als ich die Tür hinter mir schließe, sagt aber nichts, sondern mustert mich nur vom Scheitel bis zur Sohle. Und es macht ihm nichts aus, mich unnötig lange anzustarren.
Ein Funken Hitze erblüht tief in meinem Leib. Ich versuche, ihn durch Husten zu löschen.
Er lächelt. »Du hast dir eine Menge Zeit gelassen, um mich zu besuchen, Alosa.«
»Ich war beschäftigt.«
»Beschäftigt damit, deinen Auserkorenen zu treffen?«
Ich hatte eine kurze Liste von Punkten, die ich anführen wollte, um ihm zu erklären, warum wir ihn verlegen oder warum er überhaupt auf diesem Schiff ist, aber bei seinen Worten entfällt sie mir vollständig.
»Meinen Auserkorenen?«
»Dieser Bursche mit den blonden Löckchen. Sieht ein bisschen wie ein Mädchen aus.«
Auf meinen verwirrten Blick hin fügt er hinzu: »Der, der geholfen hat, zusammen mit deinem Vater die Kräfte der Night Farer zu überwältigen.«
»Ach, du meinst Tylon? Der sieht nicht wie ein Mädchen aus.« Allerdings würde ich ein Vermögen bezahlen, wenn Riden dergleichen vor seiner Nase äußern würde.
»Also ist er dein Auserkorener?« Seine Frage klingt beiläufig genug und er hat immer noch ein Lächeln auf den Lippen, aber ein kleiner mentaler Wechsel verrät mir, dass er von einem dunkelgrünen Strudel umgeben ist. Eifersucht in ihrer tiefsten, reinsten Form.
Er mustert mich finster. »Mach so was nicht mit mir. Hör auf damit.«
Ich weiche zurück, erschrocken über seinen kalten Blick und den Ausbruch, habe mich aber schnell wieder im Griff. »Ich hatte vergessen, dass du es merkst, wenn ich meine Fähigkeiten anwende.«
»Das ist kaum von Bedeutung.« Das Lächeln kehrt zurück. »Ich dachte, du hasst es, deine Fähigkeiten zu nutzen. Sollten die dir nicht Übelkeit bereiten? Demnach muss dir ja sehr wichtig sein, was ich denke.«
Mir gefällt die Richtung nicht, in die er das Gespräch zu lenken versucht, also kehre ich zu einem früheren Punkt zurück. »Tylon ist überhaupt nicht mein Auserkorener. Wir sind Piraten.« Heiraten gehört nicht zu unseren Gepflogenheiten.
»Wie würdest du ihn dann nennen? Deinen Liebhaber?«
Verächtlich schnaube ich. Das würde Tylon gefallen, aber ich würde mich nie von diesem schleimigen Aal anfassen lassen.
Riden muss das aber nicht wissen. Ich amüsiere mich ziemlich über seine Anschuldigung und würde lieber abwarten, wie sich die Sache weiterentwickelt, statt den Vorwurf zu bestreiten.
»Klar«, lüge ich. »Liebhaber kommt hin.«
Dieses Mal kann er sich nicht hinter gespielter Gleichgültigkeit verstecken. Seine Augen blitzen in einem gefährlichen Schwarz, außerdem ballt er leicht die Fäuste. Ich tue so, als würde es mir nicht auffallen.
»Soll ich das so verstehen, dass ihr zwei eine offene Beziehung führt?«
Als ich nicht antworte, fügt er hinzu: »Es macht ihm nichts aus, dass du den größten Teil eines Monats in meinem Bett geschlafen hast?«
Er und ich, wir wissen beide, dass schlafen auch schon alles war, was wir in diesem Bett gemacht haben. Na ja, das und vielleicht ein paar Küsse.
»Ich hatte zu arbeiten, Riden. Dir nahezukommen, war ein Teil davon.«
»Ich verstehe. Und wie vielen Männern bist du sonst so nahegekommen, wenn du zu arbeiten hattest?«
Sein Ton gefällt mir nicht im Mindesten. Es wird Zeit, Riden daran zu erinnern, mit wem er spricht.
»Ich habe deinen Bruder in der tiefsten, dunkelsten Zelle der Festung des Piratenkönigs eingesperrt«, sage ich. »Er bezahlt für alles, was er mir angetan hat – und anzutun versucht hat. Eine kleine Geste, und ich bekomme seinen Kopf. Nur deiner Bitte wegen habe ich ihn bisher am Leben gelassen, aber das reicht jetzt nicht mehr.«
Riden richtet sich auf. Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit.
»Was sagst du da?«
»Gefangene zu halten, ist kostspielig. Sie müssen ernährt werden und man muss hinter ihnen herputzen. Mein Vater hält Gefangene nur selten über längere Zeit. Entweder sie geben ihm, was er will, oder sie werden getötet. Wir brauchen nichts von Draxen. Für mich ist er nutzlos. Du jedoch nicht.«
»Was willst du von mir?«
»Ich habe mir gerade Vordan und sein Teil der Karte geschnappt – das letzte Stück, das mein Vater noch braucht, ehe wir zur Isla de Canta Segel setzen. Wenn die Flotte ablegt, wirst du dich für diese Reise meiner Mannschaft anschließen.«
Riden kneift die Augen zusammen. »Wozu könntest du mich dabei wohl brauchen? Seine Königliche Hoheit mit dem schwarzen Herz hat doch gewiss genug Piraten in seiner Flotte.«
Die hat er zweifellos. Mehr sogar, als er je brauchen kann. Und ich habe einige der fähigsten Seeleute und Kämpfer von Maneria an Bord der Ava-lee . Wir brauchen Riden also wirklich nicht, aber ich kann ihn trotzdem nicht freilassen. Wie würde das für meinen Vater aussehen? Und ich kann ihn nicht in der Festung einsperren, weil es keinen Grund gibt, ihn am Leben zu lassen. Vater würde beide töten, ihn und Draxen. Der einzige Grund, warum Draxen nicht tot ist, ist der, dass ich meinem Vater erzählt habe, ich bräuchte ihn lebendig, um Riden zur Kooperation zu zwingen. Und nun, da es Riden besser geht, bleibt mir nur noch eine Möglichkeit: Er muss mit mir kommen. Er muss zu einem Teil meiner Mannschaft werden. Aber wie erkläre ich das Riden, ohne ihm den Eindruck zu vermitteln, dass ich ihm gegenüber weich geworden bin?
Ich sage mir, ich tue das, weil ich es ihm schuldig bin. Er hat mich gerettet. Er hat zwei Kugeln für mich kassiert. Ich mag ihn zurückgeholt haben, als er beinahe ertrunken wäre, aber das war meine Schuld. Wir sind nicht quitt, noch nicht. Das ist der einzige Grund, warum ich ihn am Leben erhalten will.
Wenn ich das oft genug denke, wird es vielleicht sogar wahr werden.
Endlich sage ich: »Ich weiß nicht, womit wir es auf dieser Reise zu tun bekommen werden. Ich könnte vielleicht noch einen kräftigen Kerl brauchen. Mit Kearan und Enwen haben wir vier Männer auf diesem Schiff. Enwen ist so hager, ich bin sicher, Niridia kann mehr stemmen als er. Und das Einzige, was Kearan stemmt, ist eine Flasche an seine Lippen. Aber ich werde nicht einfach irgendwen aus der Festung rekrutieren, denn ich brauche jemanden, dem ich trauen kann.«
»Und mir traust du?«, fragt er und zieht eine Braue hoch.
»Das muss ich gar nicht. Ich weiß so schon, dass du alles tun würdest, um deinen Bruder zu schützen. Solange er im Kerker sitzt, kann ich auf deine uneingeschränkte Kooperation zählen. Und außerdem bist du mir sowieso was schuldig, weil ich dir dein jämmerliches Leben gerettet habe.«
Er schweigt einen Moment, vermutlich, um darüber nachzudenken. »Werde ich weiter hinter Schloss und Riegel sitzen müssen?«
»Nur, wenn du etwas Dummes versuchst. Sonst steht es dir frei, dich wie jeder andere meiner Leute auf dem Schiff zu bewegen. Aber ein einziger Fluchtversuch, und ich schicke den Männern, die zurückbleiben, um die Festung zu bewachen, die Nachricht, dass Draxens Kopf von seinem Körper zu trennen ist.«
Riden dreht sich von mir weg.
»Was?«, frage ich.
»Ich hatte vergessen, wie unbarmherzig du sein kannst.«
Ich trete einen Schritt näher und durchbohre ihn mit meinem Blick. »Bisher hast du mich noch nie unbarmherzig gesehen.«
»Und ich bete, dass es auch nie dazu kommt. Ich werde dich unter zwei Bedingungen zu der Insel begleiten.«
»Du willst mit mir verhandeln? Ich habe sämtliche Trümpfe in der Hand.«
Riden steht mit einer fließenden Bewegung auf. »Mit dir zu gehen, ist sinnlos, wenn du vorhast, Draxen zu töten, sobald wir zurück sind. Ich verlange dein Wort, dass er freigelassen wird, wenn ich dir bei der Reise zu der Insel und zurück zur Seite stehe.«
»Und ich nehme an, die zweite Bedingung beinhaltet auch deine eigene Freiheit.«
»Nein.«
Blinzelnd trete ich einen Schritt näher. »Was soll das heißen, ›nein‹? Ist dir Draxens Leben wichtiger als dein eigenes? Er ist ein widerwärtiger Wurm. Er verdient es, sich am Boden zu winden.«
»Aber er ist mein Bruder. Und du bist eine Heuchlerin.« Riden tritt seinerseits einen Schritt näher.
»Was soll das bedeuten?«
»Dein Vater ist der verachtenswerteste Mann auf See. Sag mir, du würdest nicht alles für ihn tun.«
Ich tue den nächsten Schritt und bin gerade noch einen Fuß von ihm entfernt, als ich überlege, ob ich ihn mit den Fäusten bearbeiten soll oder nicht. Am Ende weiche ich aber wieder einen Schritt zurück und atme ruhig ein. »Wie lautet deine zweite Bedingung?«
»Du wirst deine Sirenenkräfte nie wieder bei mir einsetzen. Selbst wenn es nur darum geht, dass du wissen willst, was ich empfinde.«
»Was, wenn dein Leben in Gefahr geriete und ich dich nur mit meiner Stimme retten könnte? Wäre es dir lieber, ich würde dich sterben lassen?« Aus irgendeinem Grund habe ich das Bedürfnis, mich zu verteidigen. Mich und meine Fähigkeiten. Vor ihm. Aber warum vor ihm? Seine Meinung sollte nicht wichtig sein. Ist nicht wichtig.
»Ich habe so lange ohne dich überlebt, das werde ich auch weiter schaffen.«
»Aha, aber du bist noch nie zuvor mit mir gesegelt. Gefahr ist für meine Mannschaft ein ständiger Begleiter.«
»Mit dir in ihrer Mitte, wie könnte es da anders sein?«, murmelt er leise vor sich hin, aber ich höre es dennoch.
»Wirst du nun mit mir segeln oder nicht?«, frage ich.
»Stimmst du meinen Bedingungen zu?«
Ich blicke himmelwärts. Ich werde während der ganzen Reise darüber nachdenken müssen, was ich mit Riden und Draxen machen soll, wenn wir zurück sind. Für den Moment kann ich seinen Bedingungen zustimmen.
Riden streckt die Hand aus, um unseren Handel zu besiegeln. Ich folge seinem Beispiel und rechne mit einem festen Händedruck.
Womit ich aber nicht rechne, das ist das heiße Prickeln, das meinen Arm hinaufschießt. Obwohl ich meine Hand anweise loszulassen, tut sie es nicht, und meine Füße scheinen an Ort und Stelle festgewachsen zu sein.
Ich sehe von unseren verschränkten Händen auf und mein Blick landet auf den Bartstoppeln an seinem Kinn. Ich frage mich, wie es sich anfühlen würde, wenn sie sich an meinem Kinn und meiner Wange rieben, während er mich küsste.
Hektisch blinzele ich. Was zum … Hab ich gerade seinen Mund angestarrt? Hat er es gemerkt?
Unsere Blicke treffen sich und Ridens Augen glitzern vor Übermut. Er ist der Erste, der etwas sagt. »Das wird bestimmt eine aufregende Reise werden. Wir beide zusammen auf einem Schiff.« Sein Daumen beschreibt einen Kreis auf meinem Handrücken und mir stockt der Atem. Meine Lunge scheint auch gelähmt zu sein, als hätte sie vergessen, wie sie zu funktionieren hat.
Riden kommt etwas näher und endlich erinnert sich mein Gehirn an etwas.
Er ist mein Gefangener. Alles, was er tut, könnte allein dem Zweck dienen, seine Freiheit und die seines Bruders zu erringen. Ich darf ihm nicht trauen. Und schließlich, habe ich nicht auch versucht, die physische Nähe zu Riden dazu zu missbrauchen, meine Ziele voranzutreiben, als ich die Gefangene und er der Kerkermeister war?
Sein hübsches Gesicht wird ihm auf diesem Schiff keine Privilegien einbringen. Und ich werde ihm auch nicht gestatten, mir näherzukommen.
Ich befehle meinen Gliedern, das unpassende Benehmen einzustellen, und weiche endlich zurück.
Ich bin zwei Monate ohne seine Küsse ausgekommen. Das kann ich genauso gut für den Rest meines Lebens tun.
»Es ist ein sehr großes Schiff«, sage ich endlich, obwohl das eine Lüge ist. Und dann, weil ich sehen will, wie er sich windet, schenke ich ihm das verführerischste Lächeln, das ich zu bieten habe, und befeuchte mir dezent die Lippen mit der Zunge.
Die Art, wie sein Blick hinab zu meinem Mund wandert – und dann die hektische Bewegung seines Kehlkopfes, als er hörbar schluckt – ist mir mehr als genug Lohn.
Ja, ich bin diejenige, die die Kontrolle hat.
Ich drehe mich um, um die Tür zu öffnen, und strecke eine Hand Richtung Deck aus, eine Einladung für Riden, mir auf das Schiff zu folgen.
Er tritt leichtfüßig zur Tür hinaus, ohne das kleinste Humpeln. Gut.
Ich sehe zu, wie er den Niedergang hinabsteigt und sich zu der Mannschaft umsieht, die ihren Pflichten nachgeht. Dann mustert er die Wolken, lässt den Blick über die See schweifen, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn ganze zwei Monate lang eingesperrt habe.
»Bewundern wir die Aussicht, Kapitän?«, fragt eine Stimme. Lotiya und Deshel, Schwestern, die ich vor zwei Jahren auf der Insel Jinda aufgelesen habe, bauen sich zu beiden Seiten neben mir auf. »Er sieht ganz appetitlich aus«, fügt Deshel hinzu.
»Jedenfalls von hinten«, sagt Lotiya. »Man kann einen Mann aber erst richtig einschätzen, wenn man ihn von vorn sieht.«
»Ganz zu schweigen von nackt.«
Kichern folgt ihren Worten.
Riden sieht sich über die Schulter um, einerseits amüsiert, andererseits ein wenig unbehaglich. Jedenfalls bin ich froh, dass ich nicht zum Erröten neige. Denn ich habe Riden von vorn gesehen. Und nackt. Das Gerede der Schwestern bringt das Bild sogleich an die Oberfläche meines Bewusstseins.
Ich messe beide mit einem finsteren Blick. »Wir haben einen neuen Rekruten«, brülle ich dann laut genug, dass die ganze Mannschaft mich hören kann. »Begrüßt Riden.«
Viele der Mädchen blicken von ihrer Arbeit auf. Ein paar lassen sich aus der Takelage fallen, nun, da das Schiff unterwegs ist. Ich sehe eine Menge Neugier in ihren Gesichtern. Und ein gewisses Interesse in einem anderen …
»Riden!«, schreie ich, als mir etwas einfällt. »Geh runter und rasier dich. Du siehst ganz mitgenommen aus.«
Er zieht eine Braue hoch, wagt es aber nicht, sich gleich dem ersten Befehl zu widersetzen, den ich ihm nach unserer Abmachung erteile. Also verschwindet er unter Deck. Lotiya und Deshel machen Anstalten, ihm zu folgen.
»Zurück auf eure Posten«, donnere ich. Mit einem resignierten Seufzer gehen die Schwestern auseinander.
»Mitgenommen?«, fragt Niridia, die am Ruder steht. Kearan ist, so scheint es, noch nicht aufgetaucht. Ich gehe zu ihr hin. »Der Mann ist teuflisch attraktiv.«
»Teuflisch lästig trifft es eher«, erwidere ich. »Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll.«
»Ich könnte dir sagen, was ich gern mit ihm machen würde.«
»Niridia«, warne ich sie.
»Nur ein Scherz, Kapitän.«
Das weiß ich. Nach dem, was sie durchgemacht hat, bevor ich sie gefunden habe, kann Niridia die Berührung eines Mannes nicht mehr ertragen, aber das hält sie keineswegs davon ab, mich zu necken. Das ist ja auch ihre Aufgabe als meine beste Freundin. Sie schafft es mühelos, zwischen ihren Rollen als Freundin und Erster Maat hin und her zu springen, und weiß immer, welche Rolle gerade angemessen ist. Dafür liebe ich sie.
»Also, behalten wir ihn?«, fragt sie.
»Ja.«
»Hmm«, ist alles, was sie von sich gibt. Sie ist eher dieser übervorsichtige Typ, die verantwortungsvollste Person von allen auf dem Schiff. Sie hat immer etwas zu sagen.
»Was?«
»Vergiss nur nicht, dass er Jeskors Sohn ist. Eure Familien sind verfeindet. Hast du dich je gefragt, ob dieses Schiff vielleicht genau der Ort ist, an dem er sein will?«
»So wie ich, als ich eine ›Gefangene‹ auf seinem Schiff war?« Ich hatte mich mit Absicht von ihnen fangen lassen – alles nur, weil ich die Karte auf dem Schiff von Ridens Bruder suchen musste.
»Genau.«
»So ist Riden aber nicht. Er hat gar keinen persönlichen Ehrgeiz. Das Einzige, was ihn antreibt, ist sein Bruder.«
Niridia bläst sich eine goldene Haarsträhne aus den blauen Augen. »Ich würde aber nicht sagen, dass es das Einzige ist, Kapitän«, entgegnet sie und sieht mich pointiert an.
Ich wechsele das Thema. »Wo ist Kearan?«
Niridia winkt in Richtung Bug, und ich staune, dass ich ihn nicht früher entdeckt habe. Kearan ist massig. Sein wuchtiger Leib steckt in seinem gewohnten dunklen Mantel, einem Kleidungsstück voller Taschen, in denen er all seine Flaschen mit sich herumträgt. Der Mann säuft wie ein Fisch kurz vorm Verdursten.
Aber derzeit sieht er aus, als hätte er ein paar Drinks zu viel gehabt. Er drückt sich an die Steuerbordreling und lädt seinen Mageninhalt in die See ab.
Ich denke über eine angemessene Bestrafung für ihn nach, als Niridia und ich sehen, wie sich Sorinda aus dem Schatten nahe dem Vormast löst. Ihr rabenschwarzes Haar ist nur um eine Schattierung dunkler als ihre Haut. Sie hat es mit einem Band hochgebunden, sodass die Spitzen gerade noch über ihre Schultern fallen. Sorinda trägt nie einen Dreispitz. Sie verbringt den größten Teil ihrer Zeit im Dunkeln und hat überhaupt keinen Grund, ihre Augen vor der Sonne zu schützen. Und anstelle eines Säbels trägt sie ein Rapier, weil sie mehr auf Geschwindigkeit als auf Stärke setzt.
Im Augenblick allerdings hält sie das eine Ende eines Seils.
»Was macht sie da?«, fragt Niridia.
Ich hatte Sorinda beauftragt, ein Auge auf Kearan zu haben, als er auf das Schiff gekommen ist. Sie hat es zwar gehasst, aber ihre Aufgabe erwies sich als einfacher als angenommen, weil Kearan nicht aufhören konnte, sie anzugaffen. Sie hat mehrfach gedroht, ihm die Augen auszustechen, aber ich habe es ihr ausdrücklich verboten. Ohne kann er das Schiff nicht navigieren.
Nun, da wir von unserer Mission zurück sind, scheint es ganz so, als würde Sorinda genau da weitermachen, wo sie aufgehört hat: damit nämlich, Kearan zu ertragen.
Jetzt bindet sie das Seilende, das sie in der Hand hat, um Kearans Leibesmitte. Er merkt es nicht einmal, kämpft nur gegen eine neue Woge der Übelkeit an. Da er so oder so schon halb über der Reling hängt, kostet es Sorinda wenig Mühe, ihn für den Rest des Weges zu schubsen. Ein kurzer Schrei erklingt, gefolgt von lautem Plätschern.
Und Sorinda – meine dunkle, stille Assassinin – lächelt. Ihr Lächeln ist wunderschön, aber so flüchtig. Sie nimmt sich zusammen, ehe sie über die Reling blickt, das einzige äußerliche Zeichen dafür, dass sie stolz auf ihren Triumph ist.
Husten und Fluchen erklingt von Kearans Seite, aber Sorinda ist schon wieder wortlos mit den Schatten verschmolzen.
Manchmal ist es so leicht, zu vergessen, dass Kearan nur ein paar Jahre älter ist als Sorinda und ich. Diese andauernde Trinkerei lässt einen Mann doch ziemlich altern.
»Sorg dafür, dass ihn jemand aus dem Wasser fischt, ja?«, bitte ich Niridia. »Er und die übrigen Männer sollen sich unbedingt die Ohren verstopfen. Ich geh jetzt auffüllen.«
»Jetzt?«, fragt sie vorsichtig. Sie weiß genau, wie sehr ich diesen speziellen Teil meines Lebens als halbe Sirene hasse.
»Ja, es muss jetzt sein. Nach dem Kampf auf Charden habe ich keinen Gesang mehr übrig, und ich werde ihn brauchen, wenn ich Vordan richtig befragen will.« Der Gedanke daran, wie viel Spaß wir beide haben werden, entlockt mir ein Lächeln.
Meine Befragungsmethoden sind dafür bekannt, Männer um den Verstand zu bringen.