Nur eine einzige Zelle in der Brig ist mit Polstern ausgestattet: meine Zelle.
Flauschiges rotes Plüsch bedeckt den Boden und den unteren Teil der Holzwand. Ich ziehe meine Stiefel aus und lasse sie weit außer Reichweite der Gitter zurück. Dann schnüre ich mein Korsett auf und lege es auf die Stiefel. Nur in Strumpfhose und mit einer schlichten, langärmeligen Bluse bekleidet betrete ich die Zelle. Knöpfe, Bänder und Haarnadeln darf ich nicht tragen. Nicht hier drin.
Ich schließe mich ein und verriegele die Tür. Mit aller Kraft ziehe ich an den Gitterstäben. Ich weiß zwar, dass sie nicht instabil geworden sind, aber ich fürchte immer, ich könnte ausbrechen. Ich muss es jedes Mal überprüfen, nur um mich zu vergewissern, dass sich das Metall auch wirklich nicht in meinen Fingern biegen wird.
Mandsy kommt mit einem Kübel Wasser herunter. Sie stellt ihn gleich vor der Zelle ab, sodass ich ihn durch das Gitter erreichen kann. Dann sammelt sie meine Stiefel und das Korsett ein und ich reiche ihr den Schlüssel.
»Alle Männer haben ihre Ohren bedeckt, Kapitän«, sagt sie. »Sie wissen, wie der Hase läuft.«
»Was ist mit den neuen Rekruten?«
»Na ja, Kearan ist vermutlich zu betrunken, den werden nicht mal deine Fähigkeiten wecken, aber Sorinda hat schon dafür gesorgt, dass auch seine Ohren bedeckt sind. Enwen hat genug Wachs für die Ohren von drei Männern genommen und erklärt, man könne nie vorsichtig genug sein.« Sie muss lachen. »Der gefällt mir besonders. Er ist ein lustiger Bursche.«
»Und Riden?«
»Der hat das ganz gelassen aufgenommen und keine Fragen gestellt.«
»Hast du ihm erklärt, was ich hier mache?«
»Ja, Kapitän.«
Ich wollte, ich könnte noch mehr Fragen stellen. Wie hat sein Gesichtsausdruck ausgesehen? Wirkte er abgestoßen?
Er hat Wert darauf gelegt, mir zu sagen, dass ich meine Fähigkeiten nie mehr an ihm anwenden solle. Ekelt er sich denn vor dem, was ich bin? Aber dann fällt mir ein, dass mich das gar nicht interessieren sollte. Es interessiert mich auch gar nicht.
Meine Finger kribbeln, als mein Blick zu dem Wassereimer huscht. Sosehr ich fürchte, was das mit meinem Geist anstellen kann, weidet sich doch mein Körper daran, ihm so nahe zu sein. Ohne weiter nachzudenken, tauche ich die Finger in den Kübel und sauge das Wasser in mich auf.
Alles tritt sogleich deutlicher hervor. Das Knarren des Holzes, das Schwappen des Wassers um das Schiff herum, der Pfiff einer Frau auf Deck, Stiefel, die über die Planken gehen, Husten und Gelächter. Ich kann den Atem all der Menschen um mich herum spüren – Marionetten, geschaffen, damit ich mit ihnen spielen kann.
Als würde man an der Saite eines Instruments zupfen, zupft meine Stimme an der Saite eines menschlichen Bewusstseins. Komm zu mir.
Der Mensch vor mir lächelt. »Dem Befehl werde ich nicht folgen, Kapitän. Ich bringe dann einfach mal das Zeug nach oben.«
Ein menschliches Mädchen. Ich fauche sie an. Sie ist nicht imstande, an dem Spaß teilzuhaben. Sie kehrt mir den Rücken zu und mein Blut kocht. Wie kann sie es wagen, mich abzuweisen! Ich werfe mich an die Gitterstäbe, schlage dagegen, zerre an ihnen, aber sie wollen sich nicht rühren. Sie haben mich in einer Falle gefangen. Diese abscheulichen Menschen. Ich kann doch spüren, wie sie sich über mir bewegen. Ich singe zu einem nach dem anderen, versuche, ein Ohr zu finden, das mir die Freiheit bringen wird, aber niemand beantwortet meinen Ruf.
Ein Teil der Macht verlässt mich. Mein Körper brennt vor Bedürftigkeit. Hastig sehe ich mich um und mein Blick landet auf dem Wasserkübel. Meine Finger sinken hinein, rufen es zu mir und ich seufze vor Wonne. Weit unter mir kann ich das Meeresleben spüren. Wasser rauscht über Kiemen, kräuselt sich um Tentakel, blubbert aus dem sandigen Boden empor. Ein erschrockener Fisch wechselt die Richtung, als das Schiff herankommt. Ein Delfin ist gerade dabei, die Oberfläche zu durchbrechen. Ein Wal summt in weiter Ferne.
Und ich bin ihrer aller Königin.
Dieser Käfig wird mich nicht lange aufhalten, und wenn ich frei bin, werde ich die Männer auf diesem Schiff für mich tanzen lassen, bis ihre Füße bluten.
Da ist ein leises Knarren von Scharnieren, das Flüstern von Füßen. Ein Gesicht lugt um die Ecke.
Das ist einer der Männer. Ich lächele neckisch und zeige nur einen Hauch meiner Zähne. Nicht genug, um ihm das Raubtier zu offenbaren, das ich eigentlich bin. Mit einem gekrümmten Finger locke ich ihn zu mir. Er gehorcht, macht aber nur ein paar Schritte, sodass er immer noch mehrere Fuß von mir entfernt ist.
Er ist ein hübscher Kerl mit seidig aussehendem braunem Haar. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie das unter Wasser aussehen, wie die Wellen die Strähnen teilen würde, wenn sein Leichnam an der Küste angespült wird.
Da ist ein Funke von Furcht in den sattbraunen Augen. Sie sind goldgetüpfelt. Faszinierend. Wenn ich nur eines davon mit dem Fingernagel berühren könnte. Ich würde es herauspflücken und …
Diese Augen strahlen Entschlossenheit aus. Ob er entschlossen ist, keine Angst zu haben? Ich streiche mir träge mit den Fingern durch das Haar, lasse es um meine Schultern fallen. Der Mann ist fasziniert und beobachtet mich nur umso genauer.
Aber der Mann rührt sich nicht. Er zeigt auf seine Ohren. Ah, ja. Die Menschen denken, sie wären vor mir sicher, wenn sie mich nicht hören können. Weiß er denn nicht, dass ich mehr kann als nur singen?
Sehr vorsichtig krempele ich meine Ärmel bis über die Ellbogen hoch, zeige mehr Haut. Ich fahre mir langsam mit den Fingern durchs Haar, lasse die Strähnen über meine Schultern fallen. Der Mann ist von mir gefesselt, beobachtet jede meiner Bewegungen.
Endlich lehne ich mich auf den Kissen zurück, drücke meine Brüste nach oben und streichele einladend das Polster neben mir.
Er dreht sich nach rechts und marschiert davon, ohne mich auch nur eines weiteren Blicks zu würdigen. Halb schreie, halb singe ich ihm zu, um ihn zur Umkehr zu bewegen, aber natürlich kann er nichts hören. Alles, was das bewirkt, ist, dass ich mehr Wasser brauche.
Am nächsten Morgen strecke ich mich gähnend. Niridia wartet vor meiner Zelle mit Frühstück und Stiefeln.
»Gut geschlafen?«
»Wie eine Tote.«
Nunmehr überzeugt, dass ich die bin, die sie kennt, öffnet sie die Zelle und schiebt mir das Tablett zu. Während ich mich mit Brot und Eiern beschäftige, greift Niridia nach dem Eimer.
»Raue Nacht, was?«
»Was meinst du?«, frage ich und fege mir ein paar Krumen aus dem Gesicht.
»Da ist kein Tropfen mehr drin.«
Die Sirene in mir gibt nach einer Weile regelmäßig den Versuch auf, meine Mannschaft mit ihrem Gesang zu locken. Normalerweise ist dann noch eine Menge Wasser übrig. Aber die letzte Nacht war anders.
Die Erinnerung kehrt schnell zurück.
»Riden«, knurre ich.
»Was?«
»Der Narr ist letzte Nacht heruntergekommen.« Ich stopfe mir den Rest von meinem Frühstück in den Mund und stecke im Gehen die Füße in die Stiefel.
»Mögen ihm die Sterne beistehen«, murmelt Niridia hinter mir.
Im Handumdrehen bin ich oben und mustere die Gesichter um mich herum. Ich sehe Mandsy in einer Ecke, wo sie Kleidung zusammenfaltet, die sie gerade ausgebessert hat.
»Wo ist er?«, blaffe ich.
Riden war im Krankenbett ihr Schützling. Sie weiß gleich, wen ich mit er meine.
Sie zeigt dorthin, wo die Ruderboote aufgestapelt sind und Lotiya und Deshel Riden eingekesselt haben. Was mich nur noch weiter auf die Palme bringt.
»Allemos!«, brülle ich. Ich glaube nicht, dass ich ihn je zuvor mit seinem Familiennamen angesprochen habe, aber jetzt bin ich so wütend, dass ich es nicht ertragen kann, seinen Vornamen über die Lippen zu bringen.
Er blickt auf, weg von den Schwestern, und auf seinem Gesicht breitet sich Erleichterung aus. Bis er meine Miene sieht.
»Schaff deinen Arsch hier rüber. Sofort!«
Die Mädchen kichern, als er an ihnen vorbeigeht, und sie starren ihm auf den Hintern, als er sich von ihnen entfernt.
Als er schließlich bei mir angekommen ist, bringe ich es nicht fertig, ruhig zu sprechen. »Draxen mag nachsichtig gewesen sein, wenn du Befehle missachtet hast, aber ich werde das nicht tolerieren.«
Er sieht nicht gerade besorgt aus, als er vor mir steht. Der Wind fegt durch sein Haar, drückt es ihm in den Nacken. Aber ich bin viel zu zornig, um mich von den Linien seines Halses ablenken zu lassen.
»Habe ich etwas angestellt?«, fragt er. Die restlichen Mitglieder der Mannschaft tun, als würden sie sich auf ihre jeweiligen Aufgaben konzentrieren, aber mir entgeht nicht, dass sie alle lauschen.
»Du bist gestern Abend angewiesen worden, auf Deck zu bleiben, aber du hast den Befehl absichtlich missachtet und bist in die Brig gegangen.«
Er sieht sich zu den anderen um. »Und wer behauptet, gesehen zu haben, wie ich den Befehl missachtet habe?«
»Ich habe dich gesehen.« Idiot.
Seine Augen weiten sich. »Mir war nicht klar, dass du dich an Dinge erinnerst, die passieren, während du so … anders bist.«
»Ob du gedacht hast, man würde dich nicht erwischen, ist irrelevant. Du bist mein Gefangener. Ungehorsam ist keine Option für dich. Muss ich dich daran erinnern, dass der Kopf deines Bruders nicht zwingend auf seinem Hals bleiben muss?«
Seine Nasenflügel flattern, aber er zügelt sein Temperament, tritt etwas näher und spricht so leise, dass nur ich ihn hören kann. »Ich war nur neugierig. Ich wollte dich mal in deiner wildesten Version erleben. Ich habe das Wachs nicht herausgenommen. Ich war vorsichtig.«
Ich spreche so laut wie zuvor, sodass mich alle hören können. »Das ist mir egal. Du hast mit deiner Neugier die Sicherheit jedes Menschen auf diesem Schiff gefährdet.«
»Alle waren absolut sicher.«
Ich denke an meine unzüchtige Art, also daran, wie ich versucht hatte, ihn näher heranzulocken, und wie ich als Anreiz meinen Körper eingesetzt hatte. Ich hasse die Sirene.
»Weißt du, was passiert wäre, hättest du nur drei Schritte mehr gemacht? Da du so gut darin bist, mich zu unterschätzen, werde ich es dir erzählen. Ich hätte dich durch die Gitterstäbe erreichen können. Ich hätte deinen Arm zu mir hineingezogen und aus dem Gelenk gerissen. Und dann hätte ich deine Fingerknochen bearbeitet und Dietriche daraus gemacht. Möchtest du auch wissen, was mit dir passiert wäre, wenn ich aus der Zelle entkommen wäre?«
Seine Miene ist erstarrt. Er bringt gerade so ein knappes Kopfschütteln zustande.
»Ich kann die Sirene nicht kontrollieren. Sie ist ein Monster, darum treffen wir doch schließlich diese Vorsichtsmaßnahmen.«
»Mir war nicht bewusst …« Er bricht ab. Dann, als könnte er die Situation auf diese Weise noch retten, spricht er mit fester Stimme weiter: »Ich wäre nicht näher herangegangen. Deine Sirenenpersönlichkeit interessiert mich nicht.«
»Niridia!« Beinahe brülle ich. »Schließ ihn in der Brig ein. Riden braucht Zeit zum Nachdenken. Und sag den Jungs, sie sollen Vordan auch runterbringen. Getrennte Zellen.« Riden hasst Vordan ebenso sehr wie ich. Es könnte … ein Versuch sein.
»Aye, Kapitän«, sagt sie.
Ich wende mich von beiden ab und marschiere zu meinem Quartier. Ich muss mich umziehen.
Als ich wieder herauskomme, bin ich noch genauso sauer auf Riden. Dieses Schiff ist zu klein, stelle ich fest. Ich hätte Anweisung geben können, ihn wieder ins Lazarett zu bringen, aber das wäre eine geringere Strafe. Dies ist nur ein gemütlicher Wohnraum. Nein, der anmaßende Mistkerl ist in der Brig besser aufgehoben.
Ich gehe schnurstracks zu der Luke, die unter Deck führt, muss aber kurz innehalten, um Enwen herauszulassen. Er ist so groß, dass es ihm nicht leichtfällt, sich durch die Luke zu hangeln. Mit seinen kleinen Augen, den eingefallenen Wangen und der vollendeten Nase erinnert er mich an einen Baumstamm.
»Enwen. Wo bist du gewesen?«
»Hab Teniri in der Schatzkammer geholfen, Kapitän. Da gab es eine Menge Gold zu zählen.«
Ich mustere ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Stülp deine Taschen um.«
»Nicht nötig. Teniri hat mich schon durchsucht, bevor ich gegangen bin. Du kannst sie ja fragen. Ich würde meine neue Mannschaft nicht beklauen. Anders als auf Draxens Schiff genieße ich das Leben auf der Ava-lee wirklich.«
»Warum bist du dann bei Draxen geblieben?«
»Wer sonst hätte Kearan im Auge behalten sollen?«
»Das machst du ja ganz großartig. Warum hältst du ihn nicht von meinen Vorräten fern? Ich bin es leid, zuzusehen, wie er sich über die Reling meines Schiffes erbricht.«
»Mir ging es um sein gefühlsmäßiges Wohlergehen, Kapitän.«
»Das kann nicht dein Ernst sein. Kearan hat die gefühlsmäßige Tiefe einer Muschel.«
»Na ja, versuchen kann man es doch, oder? Ich würde meine Aufgabe als sein Freund nicht erfüllen, wenn ich es nicht versuchen würde.«
»Wie oft muss ich dir das noch sagen?«, brüllt Kearan in diesem Augenblick vom anderen Ende des Schiffes herüber. »Wir sind keine Freunde!«
»Doch, sind wir!«, antwortet Enwen genauso laut.
»Hört mit dem Geschrei auf«, sage ich zu Enwen. »Macht das unter euch aus. Ich habe zu arbeiten.«
»Kapitän, warte!« Das war eine andere Stimme. Die der kleinen Roslyn. Sie hält mich auf, ehe ich einen Fuß durch die Luke setzen kann. »Ich muss mit dir über eine Feier reden.«
»Eine Feier?«
»Weil wir die Karte gefunden und den Schatz eines Piratenlords gestohlen haben! Niridia hat gesagt, letzte Nacht hätten wir nicht feiern können, weil du dich in der Brig einschließen musstest, um die Sirene rauszulassen.«
»Das ist wahr. Und jetzt habe ich einen Gefangenen zu verhören. Wie wäre es mit heute Abend?«
»Das passt mir gut«, sagt sie, als hätte sie soeben eine bedeutende Verabredung getroffen. »Kann ich dir bei dem Gefangenen helfen?«
»Nein.«
Dazu bereit, sich mit mir anzulegen, verschränkt sie die Arme vor der Brust.
»Hast du heute schon schreiben geübt?«
Verärgert wirf sie den Kopf zurück und seufzt.
»Keine Gefangenenverhöre, solange du deine eigenen Pflichten nicht erfüllt hast.« Nicht, dass ich ihre Hilfe hätte annehmen wollen. Sie muss nicht dabei sein, wenn ich einen Mann foltere. »Und keine Feier, wenn du nicht geübt hast.«
»Ist ja gut!«, sagt sie und stampft davon.
Wallov und Deros spielen Karten in der Brig, als ich hinunterkomme. Vordan wurde endlich aus dem Käfig gelassen, nur um stattdessen in einer der Zellen zu landen. Er ist nicht mehr gefesselt oder geknebelt und kehrt uns den Rücken zu. Riden sitzt zwei Zellen weiter auf dem Boden, die Arme auf die Knie gestützt, und sieht mich nicht an.
Gut.
»Deine Tochter wird langsam schrecklich vorlaut, Wallov«, sage ich.
»Kann mir gar nicht vorstellen, wo sie das herhat, Kapitän«, entgegnet er.
»Ich hoffe, du willst nicht andeuten, sie hätte es von mir.«
»Daran würde ich im Traum nicht denken«, versichert er, aber sein Ton ist zu locker, um ernst zu sein. Ich lächele ihm zu.
»Ihr zwei seid erst einmal entlassen«, sage ich. »Ich werde die beiden Brigratten im Auge behalten.«
Beide springen von ihren Stühlen auf und gehen zur Treppe. »Und Wallov, pass auf, dass Roslyn wirklich schreiben übt und keine Leute mit ihrem Dolch bedroht.«
»Ist das nicht ein wunderschönes Stück, Kapitän? Ich habe ihn Deros bei einem unserer Spiele abgenommen.«
Deros verschränkt die mächtigen Arme. »Ich habe ihn absichtlich verloren, damit das Mädchen was hat, womit es sich schützen kann.«
»Macht das oben, Jungs«, sage ich.
Ich warte ein paar Herzschläge, bis die Luke hinter ihnen geräuschvoll geschlossen wird.
Vordan ist aufgestanden und steht auf einem Bein – auf dem, das bei seinem Sturz im Gasthaus nicht gebrochen ist –, und er hat sich bereits zu mir umgedreht. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung deutet er auf die Zelle auf der anderen Seite der Brig, gegenüber von ihm und Riden, also die, in der die Plüschkissen liegen. »Diese Zelle hätte ich vorgezogen, aber ich nehme an, das ist deine.« Er lächelt angesichts seiner eigenen Schläue. »Wie ist es, sich auf dem eigenen Schiff einsperren lassen zu müssen?«, fährt er fort. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass …«
Ich schneide ihm mit einer leisen, tiefen Note das Wort ab. Vordan hält ein Messer in der Hand. Er starrt es furchtsam an, ehe er es in sein eigenes Bein rammt, in das gesunde Bein. Er schreit auf, geht dann zu einem Grunzen über, was ein ziemlich jämmerlicher Versuch ist, Haltung zu wahren.
Ich unterbreche den Gesang und Vordan kehrt aus der Halluzination zurück. Er starrt sein Bein an, sieht, dass es unverletzt ist und er kein Messer in der Hand hält, und fixiert mich mit einem dreckigen Blick. Sein Atem geht jetzt schneller. Obwohl sein Verstand weiß, dass er unverletzt ist, braucht er Zeit, um sich vom Nachhall des Schmerzes zu erholen.
»Das muss für dich doch sein, als wäre ein Traum wahr geworden«, sage ich. »Wie es aussieht, wirst du nun das volle Ausmaß meiner Fähigkeiten erleben dürfen.«
Er erbleicht, und die Befriedigung, die mir das bereitet, ist Balsam für meine Sinne.
»Also dann«, sage ich. »Ich möchte alles über deine Spione in der Flotte meines Vaters wissen. Ich möchte ihre Namen und die der Schiffe erfahren, auf denen sie segeln.«
»Ich werde dir aber nicht …«
Eine weitere Note fließt über meine Lippen. Eine Pfütze erscheint zu Vordans Füßen und ich zwinge ihn, das Gesicht hineinzustecken und eine halbe Minute so zu bleiben. Dann darf er den Kopf ein paar Sekunden lang heben, um Luft zu schnappen, ehe er ihn eine ganze Minute in die imaginäre Pfütze stecken muss. Zwar ist sein Geist voll und ganz darüber im Bilde, was geschieht, aber ich habe die Kontrolle über seine Glieder. Nun gehorchen sie mir.
Als er dieses Mal Luft holt, entlasse ich ihn aus dem Gesang.
Er fällt auf den Rücken, spürt den trockenen Untergrund. Kein Wasser. Er hat nicht die Kraft, aufzustehen, während er so viel Luft in seine Lunge presst, wie hineinpasst, und sie dann wieder aushustet.
Ich wage einen Blick in Ridens Richtung. Er beobachtet alles und trägt dabei eine ausdruckslose Miene zur Schau. Ich habe nicht vor, unsere Vereinbarung zurückzunehmen, auch wenn ich sie zu gern brechen würde.
»Ich könnte dich natürlich zwingen, ehrlich zu mir zu sein«, sage ich und konzentriere mich wieder auf Vordan, »aber ich wünsche mir nichts mehr, als dich leiden zu sehen, bevor du stirbst. Also tu mir den Gefallen, Vordan, verweigere mir noch länger die Informationen, die ich haben will.«
Nachdem er wieder etwas gleichmäßiger atmen kann, steht er auf und taumelt erbärmlich, während er sich darum bemüht, mit seinem gebrochenen Bein ins Gleichgewicht zu kommen.
»Auf der Deadman’s Blade findest du einen Piraten namens Honsero. Er gehört zu mir. Klain segelt auf der Black Rage .« Er legt eine Pause ein, um zu Atem zu kommen, ehe er mehrere andere Schiffe und Piraten aufzählt und mir sogar die Namen von einigen gibt, die in der Festung meines Vaters stationiert sind.
Als er aufhört zu reden, stoße ich eine hohe Note aus, durchdringend und erstickend. Ich frage ihn, ob er die Wahrheit gesagt und ob er irgendwelche Namen ausgelassen hat. Während er unter meinem Einfluss steht, bekräftigt er seine vorangegangene Aussage.
Meine Macht erschöpft sich, je mehr ich singe. Es fühlt sich ähnlich an wie Hunger, der sich zwischen den Mahlzeiten bildet und einem Menschen das Gefühl gibt, klein und leer zu sein. Es ist ärgerlich, wie flüchtig meine Kräfte sind.
Als er ein weiteres Mal zu Sinnen gekommen ist, sagt Vordan: »Du hast jeden Mann getötet, der bei mir im Gasthaus war. Nach allem, was ich weiß, hast du sogar den kleinen Jungen umgebracht, der dich verraten hat.«
Habe ich nicht. Ich töte keine Kinder. Besonders dann nicht, wenn ihr einziger Fehler darin besteht, Almosen von dem falschen Mann anzunehmen. Aber ich schweige. Soll mich Vordan ruhig für so grausam halten.
»Und jetzt weißt du über alle anderen Bescheid. Du hast alles. Dabei hätten du und ich zusammen so groß werden können.«
»Nein, Vordan. Ich hätte dich groß machen können. Du bist nicht der Mann, der es aus eigenem Antrieb zu echter Größe bringt. Du bist gewöhnlich und du hast überhaupt nichts erreicht.«
Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar und lacht, ein leiser Laut, der nur für ihn gedacht ist.
»Du hast recht«, sagt er schließlich. »Ich habe nur noch eine Karte übrig, die ich ausspielen kann, Alosa. Eine Information im Austausch für mein Leben.«
»Nichts, was du wissen könntest, würde mich interessieren.«
»Nicht einmal, wenn es um ein Geheimnis geht, das dir dein Vater vorenthält?«
Ich achte darauf, keine Miene zu verziehen, weigere mich, auf irgendetwas, das er sagt, zu reagieren. Außer Lügen hat er nichts mehr zu bieten.
»Auf der Night Farer habe ich viele Gespräche zwischen dir und Riden belauscht«, fährt er mit einem süffisanten Grinsen in Ridens Richtung fort. »Weißt du noch, wie ihr über Geheimnisse gesprochen habt? Du hast verzweifelt versucht herauszufinden, wo Jeskor die Karte versteckt hat, und dich bemüht, alle Informationen, die er haben könnte, aus Riden herauszukitzeln. Du hast ihm sogar eine Lüge über lose Bodenbretter in den Räumlichkeiten deines Vaters erzählt, in denen er angeblich geheime Informationen verwahrt. Als könntest du Riden, indem du ihm etwas von deinem Vater erzählst, dazu bewegen, dir etwas von seinem zu erzählen.«
Die Erinnerung bringt Vordan zum Lächeln und ich kann nicht fassen, dass ich nicht gemerkt habe, als er um uns herumgeschlichen ist.
»Aber du und ich, wir wissen doch beide, dass dein Vater ein geheimes Zimmer hat.«
Ja, das weiß ich allerdings. Das ist der Privatraum meines Vaters. Der eine Ort in der Festung, den nur er aufsuchen darf. Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit damit zugebracht, einen Weg zu suchen, um hineinzugelangen, überwältigt von meiner Neugier, und habe für jeden Versuch sehr gelitten.
»Ich habe meinen besten Spion in der Festung hineingeschickt, Alosa«, sagt Vordan. »Willst du wissen, was er herausgefunden hat?«
Ich öffne den Mund, um Nein zu sagen. Lügen werden ihm nicht weiterhelfen. Mich kann er nicht manipulieren. Nicht mehr. Ich bin nicht seine Gefangene. Dieses Mal hat er nicht gewonnen.
Aber nichts von all dem kommt heraus. Stattdessen frage ich: »Was?«
Ein Grinsen breitet sich über sein Gesicht aus und ich verspüre das Verlangen, ihn zu schlagen. Ihm die physische Manifestation seiner Überzeugung, er hätte die Oberhand über mich gewonnen, aus dem Gesicht zu wischen.
»Lässt du mich frei, wenn ich es dir erzähle?«
»Ich kann es entweder mit oder ohne meine Kräfte aus dir herausholen, Vordan. Deine Entscheidung.«
Er knirscht mit den Zähnen. »Schön, aber vergiss nicht, dass ich derjenige war, der das für dich herausgefunden hat.«
Ich bin drauf und dran, den Mund zu einem neuen Gesang zu öffnen, aber er kommt mir zuvor.
»Hast du es nicht immer ganz sonderbar gefunden, dass dein Vater unempfänglich für deine Kräfte ist? Und weißt du auch, warum?«
»Weil sein Blut durch meine Adern rinnt. Diese Verbindung schützt ihn.«
»Das hat er dir erzählt?«
»Es ist die Wahrheit«, presse ich durch zusammengebissene Zähne hervor.
»Falsch.« Vordan scheint das Wort auszukosten, als es über seine Lippen kommt. »Er hat auf dieser Insel, auf der er deiner Mutter begegnet ist, etwas gefunden. Eine Waffe. Ein Objekt, das ihn vor den Sirenen schützt. Ein Objekt, das es ihm ermöglicht, sie zu beherrschen, sollte er sie je wiederfinden. Ein Objekt, das ihm erlaubt, dich zu beherrschen. Er hat dich zu allen Zeiten manipuliert – seit deiner Geburt.«
Was er sagt, ist aberwitzig. Ich widersetze mich meinem Vater, seit ich gelernt habe, meine eigenen Körperglieder zu kontrollieren. Ich gehorche ihm nicht immer. Darum ist mein Körper so von Narben übersät.
Als würde er meinen Zweifel ahnen, fügt Vordan hinzu: »Denk darüber nach. Denk an alles, was er dir angetan hat. Die Art, wie er dich geschlagen hat. Dich gequält hat. Die Art, wie er dich verletzt hat, nur um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Er war dir gegenüber grausamer als irgendein anderer lebender Mensch und doch dienst du ihm nach wie vor. Du kehrst immer zu ihm zurück. Du führst doch letztlich ständig seine Befehle aus. Klingt das, als würdest du dich willentlich so verhalten? Du kannst versuchen, dir Erklärungen zurechtzulegen. Er ist dein Vater. Er hat immer nur versucht, dich stärker zu machen. Eine Überlebende aus dir zu machen. Aber klingt all das so, als wären das wirklich deine eigenen Gedanken? Oder sind es seine Gedanken, die dich ein weiteres Mal zu ihm zurückbringen?«
Mir gefriert das Blut in den Adern. Die Luft bleibt mir weg, meine Sicht verschwimmt. Nein. Das kann nicht sein.
»Du lügst«, blaffe ich, als ich meine Stimme wiedergefunden habe.
»So?«, fragt er. »Sieh doch selbst.«
Und das tue ich. Ich rufe einen Gesang herbei, so voller Emotionen, dass ich die Noten kaum herausbekomme. Aber selbst, wenn ich Vordans erzwungen ehrlicher Erzählung lausche, verändert sich die Geschichte nicht. Er sagt die Wahrheit. Oder zumindest das, was er für die Wahrheit hält.
Sein Spion muss ihn beschwindeln.
Er muss sich irren.
Ich flüchte aus der Brig. Mehr als alles andere brauche ich jetzt Abstand zu den beiden Männern dort drin.
Ich wünschte, ich hätte Vordan einfach umgebracht und ihn gar nicht erst befragt. Seine Worte folgen mir, wo immer ich auch hingehe.
Er hat dich zu allen Zeiten manipuliert – seit deiner Geburt.
Ich kann nicht wegen eines Satzes aus dem Mund seines Feindes an meinem Vater zweifeln. Und ich werde es auch nicht tun.
Und doch kann ich die Worte nicht vergessen. Denn sie haben sich nicht verändert, nicht einmal, als ich die Macht meiner Stimme genutzt habe, um die Wahrheit von ihm zu fordern. Da ist eine unangenehme Anspannung in meinem Bauch, die ich ignorieren muss. Denn wenn ich mich mit ihr befasse, wenn ich mir eingestehe, wie das Gefühl heißt – dann könnte es alles ruinieren. Das weiß ich. Alles, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe.
Also leide ich still, wage nicht, diesen Zweifel hervorzuholen und näher zu betrachten.
Der Weg zur Festung zurück wird einen ganzen Monat dauern. Das sollte genug Zeit sein, um dieses Gefühl abzuschütteln. Um mich ganz genau zu erinnern, wem meine Loyalität gilt.
Ich stampfe diese nervenden Gedanken nieder, während ich mich durch den Rest des Tages schleppe. Ich habe ganz vergessen, dass ich Roslyn eine Feier versprochen hatte, aber wie es scheint, hat Roslyn die Dinge in die eigenen Hände genommen, denn die Lustbarkeit beginnt, ohne dass ich etwas damit zu tun hatte.
Draußen auf dem Hauptdeck holt Haeli, eine meiner Taklerinnen, eine Laute hervor und fängt an, eine muntere Melodie zu spielen. Lotiya und Deshel tanzen Arm in Arm miteinander. Andere Mädchen klatschen dazu oder tanzen mit. Wallov und Deros wirbeln die Mädchen abwechselnd herum. Enwen gesellt sich auch bald hinzu, nur Kearan sitzt allein mit seinem Getränk in der Ecke.
Roslyn sieht es, legt eine Tanzpause ein und geht auf Zehenspitzen zu ihm.
»Was willst du?«, fragt Kearan.
Ich kann schon an der Art, wie sie den Kopf neigt, erkennen, dass sie überrascht ist, weil er sie gehört hat. »Ich beobachte dich manchmal von oben. Du holst die Flasche oft raus. Schmeckt Rum wirklich so gut?«
Da dreht sich Kearan mit sonderbar nüchternen Augen zu ihr um. »Er muss nicht gut schmecken, nur stark muss er sein.«
»Darf ich probieren?«
Kearan zuckt mit den Schultern und hält ihr die Flasche hin. Ehe ich dazwischengehen kann, ist Sorinda da. Sie reißt sie ihm aus der Hand und kippt ihm den Inhalt über den Kopf.
Kearan braust auf: »Verdammt, Frau! Kennst du etwa kein anderes Vergnügen, als mich nasszumachen?«
»Idiot«, sagt sie. »Man gibt einem Kind keinen Schnaps.«
»Hatte ich auch gar nicht vor! Das Zeug hätte nur in die Nähe ihrer Nase kommen müssen, dann hätte sie ihn mir zurückgegeben.«
»Das konntest du nicht wissen.«
»Du hältst es in einem Umkreis von fünf Fuß um mich herum nicht aus, weil das Zeug so stark ist.«
»Ich halte es aus vielen Gründen in deiner Nähe nicht aus.«
Auf diese Art prügeln sie weiter verbal aufeinander ein. Sollte Kearan es schaffen, mit ihr mitzuhalten, so steigert sich die Sache bestimmt noch zu einer Prügelei. Roslyn ist jedenfalls klug genug, sich von den beiden zurückzuziehen und weiterzutanzen.
»Was für ein Pärchen«, kommentiert Niridia, als sie neben mir auftaucht.
»Ich habe noch nie erlebt, dass ihr jemand so unter die Haut geht«, stelle ich fest.
»Für sie ist das vermutlich auch eine neue Erfahrung. Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis sie begreift, dass sie genauso auf ihn steht wie er auf sie.«
Ich lache schallend. »Sorinda? Steht auf Kearan? Das glaube ich kaum.«
Niridia zuckt mit den Schultern. »Er wäre nicht so übel, wenn er sich ein bisschen rausputzen würde.«
»Und mit dem Trinken aufhören würde.«
»Und sich rasieren …«
»Ein bisschen trainieren …«
»Und sich die Nase richten lassen würde.«
Wir lachen beide. Mir war bis dahin gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich das brauchte.
»Also gut«, gibt sie nach. »Ich schätze, er hat keine Chance.« Wir drehen uns gemeinsam um und beobachten die Tanzenden, während Niridia hinzufügt: »Weißt du, es würde gar nicht schaden, hier draußen mehr als einen Mann zu haben, den die Mädchen sich teilen müssen.«
Und schon kehren meine Gedanken in die Brig zurück. Zu dem, was Vordan gesagt hat.
»Hat Riden jetzt genug gelitten?«, fragt sie.
Ich möchte Nein sagen. Möchte ihn da unten lassen, bis wir die Festung erreicht haben. Aber das wäre nur eine selbstsüchtige Reaktion darauf, dass er mit angehört hat, was Vordan gesagt hat. Es wäre keine Strafe für das, was er getan hat. Ich wollte ihn so oder so nur einen Tag dort unten lassen.
»Du kannst ihn rauslassen«, antworte ich. »Aber sag ihm, dass er, wenn er noch einmal einen Befehl missachtet, da unten bleiben wird, bis wir die Festung erreichen.«
»Verstanden.«
Sie mustert mein Gesicht noch einen Moment länger. »Stimmt was nicht?«
Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. »Es ist nichts.« Und dann, weil ich weiß, dass sie ohne eine Erklärung nicht gehen wird, füge ich hinzu: »Vordan wiederzusehen, hat mich an das erinnert, was er mir auf dieser Insel angetan hat. Das ist alles. Mir geht es gut.«
Verständnis spiegelt sich sogleich in ihren Augen. »Versuch, dich bei unserem kleinen Fest zu amüsieren. Tanzen muntert dich immer auf. Wir können später noch reden, wenn du möchtest.«
Ich nicke gespielt munter, und kaum ist sie weg, lasse ich auch das Lächeln aus meinem Gesicht fallen. Ich denke darüber nach, direkt ins Bett zu gehen, aber ich möchte mit meinen Gedanken nicht allein sein. Lieber sehe ich zu, wie sich meine Mannschaft amüsiert.
Ich verkrieche mich in eine Ecke, setze mich im Schneidersitz auf eine Kiste und lasse die Musik das Unbehagen in meinem Inneren vertreiben. Niridia kehrt mit Riden im Schlepptau zurück. Lotiya und Deshel sind glücklicherweise mit Wallov und Deros beschäftigt. Nun sind Philoria und Bayla, zwei meiner Schützinnen, diejenigen, die ihn sich schnappen und wirbelnd mit ihm tanzen.
Riden ist sofort voll dabei. Man käme nicht auf den Gedanken, dass er gerade erst in die Brig geschafft worden war, nachdem er vor der ganzen Mannschaft schwer zusammengestaucht wurde. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er sich eben erst von zwei Schusswunden im Bein erholt hat. Gibt es denn gar nichts, was ihm an die Nieren ginge? Nichts – außer seinem Bruder? Ich starre ihn von meinem Versteck aus unverhohlen an, sehe zu, wie sich seine Glieder zur Musik bewegen, wie er mit jedem aus der Mannschaft umgeht, als wären sie ein Leben lang befreundet. Es ist beinahe so, als besäße er selbst Zauberkräfte.
Goldbraune Augen zucken zu mir, als wüsste er genau, dass ich hier sitze und ihn die ganze Zeit beobachte. In der nächsten Pause zwischen zwei Melodien schlendert er zu mir herüber. Alles in mir spannt sich an und ich kann nur hoffen, dass Lotiya und Deshel ihn sehen und wieder einfangen.
Aber nein, er erreicht mich, ohne dass sich ihm jemand in den Weg stellt, und setzt sich neben mir auf die Kiste.
Ich warte darauf, dass er etwas sagt. Dass er mich von Vordans Worten zu überzeugen versucht. Hat mir Riden nicht selbst seit unserer ersten Begegnung einreden wollen, mein Vater sei gewissenlos und herrschsüchtig? Ich wette, er hat bei Vordans Worten gestrahlt … und hat sich gefreut, dass ein anderer ihn bestätigt hat. Wie hat er mich genannt, als ich ihm gesagt habe, es sei albern, wenn er seinem verachtenswerten Bruder gegenüber loyal bleibe?
Eine Heuchlerin.
»Du pflegst einen interessanten Umgang«, sagt er.
Mein Kopf überschlägt sich, als er versucht, seine Worte mit dem zu verknüpfen, was in der Brig mit Vordan vorgefallen ist. »Was?«, frage ich.
»Diese Schwestern.«
Ich folge seinem Blick zu Lotiya und Deshel hinüber, die ihrerseits ihn beäugen. Sie machen eine Pause vom Klatschen und Aufstampfen, damit Lotiya ihm einen Luftkuss zuwerfen kann, während Deshel ihm mit den Fingern winkt.
Riden schaudert unbehaglich.
Die beiden sind wunderschöne Mädchen. Seine Reaktion überrascht mich.
»Sie verhalten sich wie ein paar …« Er verstummt.
»Huren?«, beende ich den Satz für ihn. »Das liegt daran, dass sie welche waren. Sie wurden viel zu jung zu einem solchen Leben gezwungen. Ich habe sie da rausgeholt, als ich gesehen habe, wie sie sich gegen ein paar Männer gewehrt haben, die versucht haben, die Zeche zu prellen, nachdem sie ihre Dienste stundenlang beansprucht hatten. Sie sind gut mit dem Messer«, warne ich ihn.
»Ich wollte nicht Huren sagen.«
»Nein, nicht?«, frage ich, erleichtert, über ein neutrales Thema sprechen zu können. »Was wolltest du denn sagen?«
»Ich habe ehrlich keine Worte, um sie zu beschreiben.«
Das bringt mich in eine gewisse Abwehrhaltung und ich bin dankbar, etwas anderes zu fühlen als das Unbehagen, das mich den ganzen Tag nicht verlassen hat. »Wenn diese Vereinbarung funktionieren soll, dann darfst du nie vergessen, dass wir nicht nur Frauen sind – wir sind Piratinnen.«
Ich denke an die Bemerkungen, die die Schwestern etwas früher von sich gegeben haben, darüber, dass sie Riden gern nackt sehen würden, und füge hinzu: »Du würdest dir gar keine Gedanken machen, wenn sich ein paar Männer auf deinem Schiff so verhalten oder so reden würden. Es steht dir nicht zu, härter über uns zu urteilen, nur weil wir Frauen sind. Das ist nicht fair und es ergibt auch keinen Sinn. Ganz zu schweigen davon, dass ich dich über Bord werfe, wenn ich dich noch mal dabei erwische.«
Amüsiert hellt sein Gesicht sich auf, aber ich ziehe die Sache so hartnäckig weiter durch wie sonst auch. »Ich habe achtundzwanzig herausragende Mädchen an Bord dieses Schiffes und ihre Vergangenheit hat sie geprägt. Genau wie deine dich geprägt hat. Und jede Einzelne von ihnen, bis hin zu der kleinen Roslyn, verdient deinen Respekt.«
Riden mustert mich noch ein paar Augenblicke, ehe er wieder den Tanzenden zusieht. »Ich bewundere die Liebe, die du deiner Mannschaft entgegenbringst, Alosa, aber du musst sie mir gegenüber nicht verteidigen. Ich urteile nicht, weil sie Frauen sind und keine Männer. Ich war nur überrascht, das ist alles. Es tut mir leid.«
Ich ignoriere seine Abbitte und wärme mich zugleich an ihr. Ich bin es gewohnt, meine Mädchen zu verteidigen. Gegenüber meinem Vater. Gegenüber den Männern in seinem Rat. Gegenüber anderen Piraten. Frauen gehören in deren Augen nicht auf See.
Aber Riden leistet Abbitte.
Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
»Und es tut mir leid, dass ich vorher deinen Befehl missachtet habe«, sagt er. »Ich werde nicht noch einmal hinuntergehen, wenn du deine Fähigkeiten auffrischst.«
»Gut.«
»Sie sind … irgendwie beängstigend.«
Ich weiß nicht recht, ob ich gereizt oder amüsiert reagieren soll.
»Alosa?«, fragt Riden.
Wieder bereite ich mich innerlich auf die Erwähnung dessen vor, was Vordan gesagt hat.
»Ich habe dir nie dafür gedankt, dass du Draxen und mir eine Chance gegeben hast. Wir wären längst tot, hättest du dich bei deinem Vater nicht für uns eingesetzt. Dafür danke.«
Als ich nicht antworte, fragt er: »Warum hast du das getan?«
Und das ist die andere Sache, die mich beschäftigt. Warum riskiere ich meinen eigenen Kopf für Riden und seinen nichtsnutzigen Bruder?
Ich wage es, ihn anzusehen. »Ich weiß es nicht.«
Nun lächelt er, eine wunderschöne Dehnung seiner Lippen – als hätte er seine eigenen Vorstellungen davon, warum ich es getan haben könnte.
Ich wende mich ab, um seinen Mund nicht anzustarren, und höre zu, wie Haeli mit einem neuen Lied beginnt.
»Tanz mit mir.«
Ich drehe mich so schnell wieder zu Riden um, dass ich meinen Hals knacken höre. »Was?«
»Komm schon. Es wird Spaß machen.«
Er ergreift meinen Arm und zieht mich auf die Beine, bevor ich ablehnen kann, was ich natürlich tun möchte.
Dessen bin ich sicher.
Aber nun ist es zu spät, denn er fängt schon an, mich im Kreis zu drehen. Mich jetzt noch zu weigern, würde eine Szene heraufbeschwören. Außerdem jubelt die Mannschaft schon. Wallov, Deros und Enwen schnappen sich neue Partnerinnen und gesellen sich zu uns. Meine Bewegungen sind steif, zögernd. Ich kann fühlen, wie mein Geist und mein Körper um Dominanz kämpfen. Es gibt so viele Gründe, warum das eine miese Idee ist. Ganz zu schweigen davon, dass ich mir über zu viele Dinge Sorgen machen muss, um mich einfach so zu amüsieren.
»Komm, Prinzessin«, sagt Riden. »Das kannst du doch besser.«
Ich sollte mich von ihm führen lassen, aber allzu oft reagiere ich allzu eigenwillig, wenn ich mit einer Herausforderung konfrontiert bin. Und ich liebe es, zu tanzen. Immerhin ist meine Mutter eine Sirene. Musik liegt mir im Blut.
Ich spüre, wie die Musik über meine Haut streicht, und bewege mich, um sie zu geleiten. Ich streichele sie mit meinen Händen, umtänzele sie mit den Hüften, tappe mit den Füßen leicht auf sie. Ich bringe Riden dazu, mir und meinen Schritten zu folgen, aber gelegentlich vergisst er sich, erstarrt vollständig und beobachtet mich, gebannt von meinen Bewegungen. Dann fängt er sich wieder und tanzt von Neuem los. Er ist gar nicht übel. Seine Füße stampfen im Takt. Seine Drehungen und Wendungen sind sicher und sogar elegant. Jedes Mal, wenn wir in Kontakt kommen – unsere Hände, unsere Arme, Knie, die aneinanderstreichen –, wird der Tanz aufregender, berauschender. Ich bin so aufgeladen wie Gewitterwolken – das ist zehnmal stärker als das, was ich empfinde, wenn ich meine Sirenenkräfte einsetze. Und anders. Es ist ganz und gar menschlich.
Ich sehe, wie sich Riden in meiner Gegenwart verhält: die Konzentration und die Hitze in seinen Augen, die Art, wie seine Hände verweilen, wie er seinen Körper neben meinem positioniert. Normalerweise wüsste ich genau, was das alles bedeutet. Aber dann kommt mir wieder in den Sinn, dass er mein Gefangener ist. Er wird alles sagen und tun, wenn er nur glaubt, es würde seinen Zwecken dienlich sein.
Das Lied endet. Haeli beginnt mit einem nächsten, aber ich verabschiede mich. »Macht nur weiter«, rufe ich der Mannschaft zu. »Feiert den ganzen Abend, aber ich geh jetzt ins Bett.« Dann lächele ich die fröhlichen Gesichter an. Sie sind von der Freude gerötet, die ein erfolgreicher Raubzug mit sich bringt.
Ich gehe zum Niedergang, überzeugt, ich würde bei all der Last, die mich niederdrückt, gar nicht schlafen können. Aber weg muss ich trotzdem. Unterwegs ermahne ich mich: Riden ist mein Gefangener, Riden ist mein Gefangener, Riden ist mein Gefangener.
Jemand packt meine Hand und zieht mich unter die Stufen. Außer Sicht und in den Schatten.
Eine Mischung aus Aufregung und Furcht überfällt mich, bevor ich sein Gesicht sehe.
»Alosa«, sagt Riden, als er meine Hand nimmt und mich sanft an die Wand drückt.
Er beugt sich vor, und ich frage: »Was denn?« Als wäre er im Begriff, mir eine Frage zu stellen, und hätte meinen Namen nicht nur wegen des puren Vergnügens ausgesprochen, den es ihm bereitet, ihn von seiner Zunge rollen zu hören.
»Du tanzt wunderbar«, sagt er, und ich spüre, wie sich seine Nase meiner nähert. Meine Augen sind bereits geschlossen.
Verdammt, riecht der gut. Wie die Kokosseife, die wir auf dem Schiff haben, vermischt mit einem erdigen Moschusduft, der allein ihm gehört.
Es wäre so leicht, mich von ihm küssen zu lassen. So irrsinnig leicht.
Aber er möchte nur seinen Bruder befreien. Er will seine eigene Freiheit. Jede Intimität zwischen uns folgt von Ridens Seite einem bestimmten Zweck.
Es muss so sein.
»Gute Nacht, Riden«, sage ich und lasse seine Hände los. Aber als ich an ihm vorbeigehe, küsse ich seine Wange.
Zurück in meinem Quartier schelte ich mich für die kindische Geste.
Aber was mir wirklich Angst macht, ist, dass ich es nicht verhindern konnte.