Kapitel 23 

Wasser umschließt mich, wiegt mich, heißt mich zu Hause willkommen. Mein Körper bewegt sich, dehnt sich, schwelgt in der neuen Umgebung. Meine Muskeln fühlen sich erfrischt an, bereit, den Kampf wieder aufzunehmen.

Riden beobachtet mich, versucht herauszufinden, ob ich noch ich selbst bin, ehe er mir aufmunternd zunickt und zur Oberfläche schwimmt.

Das Gelächter meines Vaters dringt sogar hier unten noch zu mir durch. »Euer Captain hat euch im Stich gelassen! Sie lebt lieber ihr Leben als geistloses Monster, ehe sie mit Schiff und Mannschaft untergeht. Mir war bisher gar nicht bewusst, dass ich einen Feigling aufgezogen habe.«

Ich empfinde nichts bei diesen Worten. Meine Leute wissen, wie ich mich entwickelt habe. Sie werden ihm nicht glauben. Sie müssen wissen, dass ich hier bin, um sie zu retten, nicht um mich zu retten.

Aber zuerst tauche ich weit hinab, schwimme in weitem Bogen in die Tiefe. Für mich ist es hier wie am helllichten Tag, obgleich kein Mensch etwas sehen oder dem Druck standhalten könnte.

Ich finde sie ohne Schwierigkeiten. Die Schwestern, mit denen ich aufgewachsen wäre, hätte ich mein Leben als Sirene gelebt. Sie schwimmen im Kreis herum oder ruhen auf dem Meeresboden, die Gesichter in ihrer Niederlage mit den Armen bedeckt. Gliedmaßen verdrehen sich, bewegen sich voller Unbehagen, hilflos, aber erzürnt.

Ich bin hier , singe ich ihnen zu. Nun könnt ihr von Angesicht zu Angesicht mit mir sprechen. Sagt mir, warum ihr eure Königin erneut im Stich gelassen habt .

Eine Gruppe älterer Sirenen wendet sich ab. Ihr Haar verdeckt ihre Gesichter, während sie sich unruhig regen. Sie waren da, als ihnen ihre Königin das erste Mal entrissen wurde. Sie schämen sich – so sehr, dass sie es nicht ertragen können, mich anzuschauen.

Die Sirenenkinder sind ätherische Geschöpfe. Vollendete Perlen in dieser See. Sie bleiben hinter ihren Müttern zurück – die, die noch welche haben. Ein Mädchen mit Haar von der Farbe funkelnden Sands kauert neben einer Frau mit nachtschwarzen Locken. Das Kind, das kaum älter als fünf sein kann, besingt den Tod seiner Mutter. Es hat in vollkommener Klarheit gesehen, wie die Harpune seine Mutter getroffen hat, wie sie die Augen verdreht hat und auf den Meeresboden gesunken ist.

Wir müssen dafür sorgen, dass sie für das, was sie getan haben, bezahlen , sage ich.

Aber wie denn? , fragt die Sirene, die die Waise im Arm hält. Die Männer können uns nicht hören. Ihr Anführer ist immun .

Wie ist das möglich?

Er hat mit einer Sirene geschlafen und überlebt. Nun kann die Magie unseres Gesangs ihm nichts mehr anhaben .

All diese Zeit hatte ich angenommen, ich könnte ihn nicht in meinen Bann ziehen, weil wir das gleiche Blut teilen, dabei liegt es an seiner Beziehung zu meiner Mutter, dass er immun ist, nicht an der zu mir.

Und selbst wenn er nicht immun wäre , fährt sie fort, würde es uns nichts helfen. Unsere Stimmen wirken außerhalb des Wassers nicht. Anders als deine .

Das müssen sie auch nicht. Habt ihr nicht auch Arme und Beine ?

Außerhalb des Wassers sind wir schwach. Wir haben nicht mehr Kraft als eine menschliche Frau .

Ich lächele sie alle an. Ich habe Frauen jahrelang im Kampf ausgebildet. Eine Frau ist nicht hilflos, wenn sie weiß, was sie zu tun hat. Aber selbst für einen Mann gilt dies, wenn er zehn zu eins unterlegen ist. Die Frage ist nicht, ob ihr gewinnt. Die einzige Frage ist: Seid ihr bereit zu kämpfen? Werdet ihr für eure Königin kämpfen? Werdet ihr für eure Gewässer und euren Schatz kämpfen? Werdet ihr für eure Kinder kämpfen ?

Mein Gesang breitet sich im Wasser aus, sicher und unüberhörbar. Das ist ein Ruf zu den Waffen. Eine Aufforderung ihrer Prinzessin.

Ich bin nicht eure Königin. Ihr müsst mir nicht gehorchen wie meiner Mutter. Dies ist eine Entscheidung, die ihr treffen müsst. Die Entscheidung, ob ihr eure Gefallenen rächen wollt, ob ihr eure Königin retten und eure Kinder schützen wollt. Ich bin eine Außenseiterin. Das Leben, das ich mit euch allen hätte haben können, wurde mir genommen, aber aufgrund meiner eigenen Entscheidung bin ich nun hier. Wollt ihr euch mir nicht anschließen? Ich habe den Ozean für euch bezwungen. Wollt ihr nun für eure Königin das Land bezwingen ?

All ihre Gesänge verstummen. Der durchdringende Klang ihrer Trauer verhallt. Die rauen Töne ihres Zorns verklingen.

An ihre Stelle tritt Überzeugung. Ein Versprechen. Wie mit einer einzigen Stimme singen sie eine Weise, so machtvoll, dass sie mir die Tränen in die Augen treibt. Es ist ein Schlachtruf, entwickelt aus reinem, himmlischem Gesang. Die Schiffe über uns schwanken unter seiner Kraft.

Ich zeige ihnen, welchen Vorteil sie gegenüber den Männern haben – was sie tun können, um sie zu überwältigen …

Und dann steigen wir auf.

Als mein Kopf die Wasseroberfläche durchbricht, singe ich und sauge Feuchtigkeit auf, trockne, während ich mich am Rumpf zurück auf die Dragon’s Skull ziehe. Ich recke den Kopf über den Rand. Meine Mannschaft ist an den Hauptmast gefesselt worden, zusammengeschnürt unter etlichen Lagen Seil. Um die fünf Männer stehen vor ihnen und sorgen dafür, dass niemand sich befreit.

Ein patschnasser Riden ist mit den anderen gefesselt worden. Er hatte keine andere Wahl, als auf das Schiff zurückzukehren und sich erneut gefangen nehmen zu lassen, bis ich zurückkehre. Sorinda hat es, wie ich schnell feststelle, bereits geschafft, ihre Hände freizubekommen, ohne die Aufmerksamkeit der Wachen zu erregen. Mandsy ist auf der anderen Seite. Ihr Kopf lehnt kraftlos am Mast. Ich bin sicher, sie ist ohne Bewusstsein. Radita rollt die Schultern. Sofort kommt ein Pirat mit erhobenem Schwert auf sie zu.

»Hör auf«, sagt er. »Oder ich durchbohre dich mit der Klinge.«

Sie bedenkt ihn mit einem Blick, der klar und deutlich sagt, wohin er sich das Schwert stecken kann.

Er tritt näher, fängt mit seinem Entermesser eine ihrer Locken und hält sie ins Licht. »Der Captain sagt, wir können mit euch machen, was wir wollen, wenn wir die Segel wieder gesetzt haben – und solange ihr noch am Leben seid, wenn wir die Festung erreichen. Ich werde mit dir anfangen.« Er schürzt die Lippen, lacht und streicht mit dem Schwert über ihre Wange, als wollte er sie liebkosen.

Niemand legt Hand an meine Mädchen.

Er ist der Erste, den ich mir vornehme. Mit dem Rücken zu mir kann er mich nicht kommen sehen, kann nicht sehen, wie ich nach seinem Schwert greife. Eine Hand an seinem Handgelenk, die andere an der Schulter, ramme ich den ganzen Arm auf mein Knie und ignoriere die krampfartigen Schmerzen in meinem verletzten Arm. Das daraus resultierende Krachen klingt wie ein Trommelschlag, der die Musik meiner Sirenenschwestern begleitet. Ich ziehe ihm sein eigenes Schwert über die Kehle.

Die Unruhe reicht, um die Aufmerksamkeit der anderen Wachen zu erregen. Ehe sie mich jedoch erreichen können, werfe ich Sorinda den Säbel zu. Sie fängt ihn mühelos und befreit sich und die anderen.

Einer der Männer meines Vaters eilt nach unten, um Hilfe zu holen. Ich widme mich den anderen. Riden schenkt mir ein Lächeln, ehe er sich auf den nächsten Piraten stürzt und ihm das Schwert abnimmt. Ich trete einem anderen die Beine unter dem Leib weg und nagele ihn mit seinem eigenen Entermesser in der Brust auf den Planken fest.

Als wir mit den Wachen fertig sind, ist auch mein Vater wieder aufgetaucht, hinter ihm aufgereiht die geballte Macht seiner Männer. Seine Seite ist jetzt verbunden; seine Hände halten erneut das Schwert.

Er wirkt nicht überrascht, nur erzürnt.

»Du weißt einfach nicht, wann du aufhören solltest, Mädchen. Ihr seid ebenso sehr in der Unterzahl wie zuvor. Dieser Kampf wird nicht anders enden als der vorangegangene.«

Ein Schrei erhebt sich in die Luft. Erst einer, dann noch einer, dann noch einer. Sie sind fern, kommen herbei von den anderen Schiffen der Flotte. Mein Vater blickt sich um, doch von seiner Position aus kann er nichts sehen. Seine Männer hören immer noch keinen Laut und wissen nicht, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Bis sich die Sirenen auf Deck ergießen. Hunderte. So viele, wie Platz finden.

Wasser strömt von ihnen herab, tröpfelt von ihrem langen Haar und ihren geschmeidigen Körpern und durchnässt sogleich die Planken des Decks. Eine Reihe Sirenen fällt, als die kopfscheuen Männer meines Vaters ihre Waffen abfeuern, aber sie sind hoffnungslos in der Unterzahl. Die Sirenen zertrampeln sie einfach. Sie zwingen sie, über Bord und ins Wasser zu springen. Sie kämpfen Seite an Seite mit meiner Mannschaft und schicken links und rechts Seelen zu den Sternen.

Noch nie zuvor habe ich Kalligan vor einer Gefahr davonlaufen sehen, aber beim Anblick der Sirenen auf seinem Schiff flieht er in höhere Gefilde. Er klettert die Takelage empor und überlässt seine Männer sich selbst. Und da wird mir klar, wie sehr er den Tod fürchten muss. Er war so lange in einer Position der Macht und der Sicherheit, womöglich hatte er schon ganz vergessen, wie es ist, sich zu fürchten. Und nun muss er sich auch keine Sorgen darüber machen, Schwäche zu zeigen. Keiner seiner Männer wird überleben und davon berichten können.

Vorerst lasse ich ihn in Ruhe. Meine Priorität gilt meiner Mutter.

Ich bahne mir einen Weg durch das Getümmel, erledige unterwegs Piraten, die mir vor die Füße geraten, helfe Sirenen, die Unterstützung brauchen. Endlich erreiche ich das Quartier meines Vaters.

Sie ist genau da, wo ich sie zurückgelassen habe.

Zuerst nehme ich ihr den Knebel ab.

Sie hustet zweimal und schluckt dann schwer. »Du hast mich schon wieder gerettet.«

»Es ist meine Schuld, dass er dich noch einmal gefunden hat. Ich bin diejenige, die die Kartenteile für ihn aufgespürt hat.« Ich benutze ein geborgtes Entermesser, um die dicken Seile an ihren Handgelenken durchzusäbeln.

»Ist er tot?«

»Noch nicht. Er versteckt sich vor dem Kampf.«

Nur Minuten, nachdem er begonnen hat, ist der Kampf auch schon vorbei. Die Sirenen machen kurzen Prozess mit den Piraten. Sie sind bereits zurück im Wasser, als ich mit meiner Mutter herauskomme. Ich bin erstaunt, dass sie sich ihnen nicht sofort anschließt. Stattdessen starrt sie entschlossen zum Großmast hinauf, wo Kalligan auf der Rahe unter dem höchsten Segel steht.

»Du hast verloren!«, brülle ich zu ihm hinauf.

»Ich habe nicht verloren, solange kein Schwert mein Herz durchstoßen hat«, ruft er zurück.

»Mandsy, beschaff mir eine Säge«, sage ich. »Wenn unser geliebter König nicht aus freien Stücken herunterkommen will, dann müssen wir eben seinen Thron abhacken.«

Ein lautes Klirren ertönt. Es ist das Schwert meines Vaters, das auf Deck aufgeschlagen ist.

Das eindeutige Zeichen der Niederlage.

Er ist kein Narr. Er weiß, dass er verloren hat. Er hat keine Macht über mich. Meine Mannschaft und ich, wir sind endlich in Sicherheit.

Seine Füße folgen, und alle auf dem Deck des Schiffs verstummen und beobachten ihn. »Was jetzt?«, fragt er, als er sich zu voller Größe aufrichtet. »Werde ich einem Erschießungskommando gegenübergestellt? Eingekerkert bis zu dem Tag, an dem ich sterbe? Du hast nicht …«

Ein feurig-roter Schemen stürzt sich auf ihn und bringt ihn zum Schweigen. Sie krachen gemeinsam durch die hölzerne Reling und stürzen ins Wasser, ein Wirrwarr aus Gliedmaßen und Haaren und dem Gebrüll meines Vaters.

Kaum schlagen sie auf dem Wasser auf, weiß ich, ich werde meinen Vater nicht lebend wiedersehen.

Die See schäumt auf, als Kalligan versucht, wieder zurück an die Oberfläche zu gelangen. Ein gedämpfter, wässriger Schrei erklingt, ein Laut, wie ich ihn noch nie zuvor von ihm gehört habe. Meine Mutter zieht ihn tiefer hinab. Das Wasser füllt die Lücke aus, während ihre dunklen Schatten verschwinden.

Eine,

zwei,

drei Luftblasen.

Dann ist es still.

Die Herrschaft des Piratenkönigs hat ein Ende gefunden.

Der Jubel ist ohrenbetäubend. Er vermischt sich mit dem Gesang Hunderter Sirenen, der das Schiff von unten erschüttert. Die Mädchen laufen einander in die Arme, drücken sich wie verrückt gegenseitig. Wir leben. Wir leben noch und der König ist tot.

Für einen flüchtigen Augenblick trauere ich um den Mann, für den ich meinen Vater einmal gehalten hatte. Trauere um die seltenen Umarmungen, die Worte des Trostes und der Ermutigung. Trauere um den Mann, der mich das Kämpfen gelehrt hat. Der ein Beispiel für Führung gesetzt hat. Der mir gezeigt hat, welche Freuden ein Leben auf See zu bieten hat.

Ich trauere um ihn, und dann erinnere ich mich an die entscheidende Wahl, die er getroffen hat. Er wollte Macht und Herrschaft. Weiter nichts. Er wusste nicht, wie man liebt, nur wie man benutzt, was man hat, um das zu bekommen, was man will.

Also trauere ich um den Mann, den ich einst in meinem Vater gesehen habe.

Und dann lasse ich los.

Ich stürze mich auf Mandsy, umarme sie mit so viel Kraft, wie ich anzuwenden wage, ohne sie zu erdrücken oder meinen eigenen verletzten Arm zu sehr zu belasten. Bald gesellt sich Enwen zu uns, schlingt seine Arme um uns beide. Ein erleichtertes Lachen entfleucht mir, als ich in all die glücklichen Gesichter schaue. Sogar Sorinda wehrt die Umarmungen, mit denen sie eingedeckt wird, nicht ab. Bis Kearan es versucht.

Kaum geben Enwen und Mandsy mich frei, auf dass ich mit den anderen feiern kann, suchen meine Augen nach der nächsten Person.

Und finden Riden.

Der Blick, den wir wechseln, scheint unter einer ganz eigenen Energie förmlich zu knistern. Plötzlich steht er nicht mehr da drüben. Er ist hier. Direkt vor mir. Bis er so nahe kommt, dass ich ihn gar nicht mehr sehen kann.

Meine Augen schließen sich, als er seine Lippen auf meine presst. Und obwohl dieser Kuss weit davon entfernt ist, der erste zu sein, fühlt er sich vollkommen neu an. Keiner von uns ist jetzt belastet. Draxen ist nicht hier, um sich zwischen uns zu stellen. Mein Vater kann uns nicht mehr in Angst versetzen. Nicht einmal die Gefahr des Todes schwebt noch über unseren Köpfen.

Der Kuss fühlt sich aufrichtig an. Er fühlt sich echt an.

Und ich möchte nie wieder etwas anders empfinden.