Das Schiff, auf das wir zusteuern, ist völlig unscheinbar.
Von einem Gefährt aus der Flotte des Piratenkönigs habe ich mehr erwartet, aber vielleicht ist das ja genau der Punkt. Niemand rechnet mit einer Prinzessin an Bord eines so kleinen Schiffs.
»Wir haben sie beinahe eingeholt«, sage ich zu Draxen, meinem Bruder und Captain. »Dein hanebüchener Plan könnte tatsächlich funktionieren.«
»Mein Plan ist brillant. Wir werden bald sehr reich sein.«
»Erst nachdem wir die Prinzessin in unsere Gewalt gebracht haben. Und sie überredet haben, uns zu verraten, wo die Festung ihres Vaters ist. Und wir dort eingedrungen sind. Nachdem wir ihn bis aufs letzte Hemd ausgeplündert haben. Und unbeschadet das Weite gesucht haben. Was kann da schon schiefgehen?«
Draxen boxt mich in den Arm. »Besser als eine von deinen Ideen.«
»Ich erinnere mich nicht, irgendwelche Ideen in Bezug auf den Piratenkönig gehabt zu haben.«
Draxen legt die Hände an seinen Gürtel. »Nein, deine Idee war wohl eher, das Geld unseres lieben toten Vaters mit Rumhurerei und Glücksspiel zu verjubeln, statt mehr Leute für die Mannschaft anzuheuern und etwas aus uns zu machen.«
»Nicht mit Rumhurerei«, korrigiere ich ihn. Ich bezahle nicht für weibliche Gesellschaft. Viel lieber stelle ich mich der Herausforderung, sie mir zu verdienen.
Draxen blickt mit ernster Miene zu dem Schiff hinüber, das nun beinahe in Reichweite ist. Ich schnippe ihm den Hut vom Kopf, und er segelt zu Boden.
»Verdammt noch mal, Riden! Ich muss jetzt den grimmigen Captain geben, also lass den Unfug!«
Genau das macht mir Sorgen. Draxen spielt den grimmigen Captain nicht so sehr, als dass er dazu wird. In seinem Inneren lauert etwas Finsteres, das mich an unseren Vater erinnert. Und wenn er zu weit getrieben wird, bricht es hervor.
Ich stand ihm Tag für Tag zur Seite, seit wir vor fast sechs Monaten gemeutert und die alte Mannschaft der Night Farer überwältigt haben. Vor jenem Tag wäre ich viele Male beinahe gestorben, aber Draxen hat mich gerettet – vor den Fäusten meines Vaters, vor dem Verhungern an Bord eines Schiffes mit einer herzlosen Mannschaft, sogar davor, einfach aufzugeben und meinem Leben selbst ein Ende zu bereiten.
Und darum werde ich diese Finsternis im Zaum halten, koste es, was es wolle. Draxen hat mich gerettet, also werde ich immer zur Stelle sein, um ihn vor sich selbst zu retten. Soll er ruhig seine hochtrabenden Pläne verfolgen, ich werde dafür sorgen, dass er die Bodenhaftung nicht verliert.
Zwar kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Mädchen an Bord unseres Schiffes ein echtes Problem darstellen könnte, trotzdem bin ich bereit, jederzeit einzugreifen.
Über die Prinzessin habe ich Widersprüchliches gehört. So heißt es zum Beispiel, sie sei eine barbarische Piratin und bekannt dafür, ebenso blutrünstig zu sein wie ihr Vater. Einer anderen Quelle zufolge hat ihr Vater sie ihr ganzes Leben lang mit seiner Grausamkeit kleingehalten und sie ist selbst nur ein Opfer, den falschen Mann zum Vater zu haben.
Das könnte ich ihr kaum zum Vorwurf machen, schließlich ist es mir genauso ergangen.
In dieser letzten Minute der Annäherung ist die Mannschaft angespannt. Waffen werden bereitgehalten, Blicke fixieren das Schiff, dessen Namen ich jetzt lesen kann: Gull , wie die Möwe.
Kein besonders bedrohlich wirkender Name für ein Piratenschiff. Muss wohl Teil der Bemühungen sein, die Gegenwart von Alosa Kalligan, der berühmten Tochter des Piratenkönigs, an Bord zu verheimlichen.
Für die Dauer eines Herzschlags tritt Stille ein, ehe unser Schiff neben der Gull längsseits geht. Ein Moment der Ruhe, bevor der Sturm losbricht.
Unsere Kanonen schlagen Löcher in das andere Schiff, und die Mannschaft setzt ihre Enterhaken ein. Ich bleibe im Hintergrund und beobachte das erste Aufeinandertreffen. Die Männer des Piratenkönigs sind vorbereitet: Pistolen feuern, Schwerter klirren im Kampf.
Kaum ist die Planke zwischen den beiden Schiffen sicher verankert, gehe ich selbst mit erhobenem Schwert hinüber auf das feindliche Schiff.
Ich muss mir erst einen Weg durch das Gewirr aus kämpfenden Männern bahnen, ehe ich einen einzelnen feindlichen Piraten finde. Er ist vermutlich doppelt so alt wie ich, hält sich die Haare mit einem Fetzen Stoff aus den Augen und hat geschwärzte Zähne. Ich reiße den Arm zurück, mache mich bereit zuzuschlagen und erwarte, dass er das Gleiche tut.
Er gibt Fersengeld, rennt zum anderen Ende des Schiffs und wirft sich über die Reling.
Also schön.
Ich nähere mich einem anderen, der aussieht, als zögerte er, sich am Kampfgeschehen zu beteiligen. Das sind keine besonders geübten Kämpfer. Ich sehe zu, wie Draxens Leute einen nach dem anderen entwaffnen und in die Knie zwingen.
Das ist die Mannschaft, die der Piratenkönig zum Schutz seiner Tochter abgestellt hat? Haben unsere Informationen uns womöglich irregeleitet, und Alosa ist gar nicht an Bord? Um eine sichere Überfahrt für die Piratenprinzessin zu gewährleisten, würde König Kalligan doch sicherlich nur die tapfersten, besten Kämpfer auswählen.
Und warum sehen sie sich alle immer wieder nervös zu der Luke um, die unter Deck führt?
»Legt die Waffen nieder!« Gebrüll erklingt auf der feindlichen Seite, ziemlich feminin klingendes Gebrüll. Sofort lassen die Männer des Piratenkönigs ihre Waffen fallen und sinken auf die Knie. Mein Blick landet auf der Person, die gesprochen hat.
Zierliche Gestalt. Braunes Haar, unterteilt in zwei Zöpfe. Ein hübsches Mädchen, aber nicht die Tochter des Königs.
Es gibt mehr als nur eine Frau auf diesem Schiff?
Ein anderes Mädchen mit pechschwarzem Haar und einem mörderischen Ausdruck in den Augen ist ebenfalls auf den Knien und reckt die Hände in die Luft. Jeder Muskel im Körper der jungen Frau ist gespannt wie eine Bogensehne, ganz so, als würde es ihr enorme Mühe abverlangen, sich nicht zur Wehr zu setzen.
Da ist noch ein drittes Mädchen, ebenfalls dunkelhaarig, den Kopf zu Eridale gedreht, der mit seiner Pistole auf es zielt. Die Frau misst ihn mit einem dermaßen verächtlichen Blick, dass man denken könnte, ihre Rollen wären vertauscht.
Ich rufe den nächsten Piraten zu mir. Es ist Kearan – ein Wunder, dass er nüchtern genug für den heutigen Kampf ist.
»Seht unter Deck nach. Vergewissert euch, dass sich da niemand versteckt.«
Während er damit beschäftigt ist, brülle ich: »Lasst sie antreten!«
Liomen und Brennol sorgen im Handumdrehen dafür, dass die feindliche Mannschaft sauber in einer Reihe auf Deck kniet. Niemand widersetzt sich meinen Befehlen oder versucht zu kämpfen. Stattdessen starren sie immer noch zur Luke.
Als ich ihrer Blickrichtung folge sehe ich, wie Kearan einem Schiffsjungen, der sich unten versteckt haben musste, die Waffen abnimmt. Er zwingt den Burschen auf die Knie. Das müssten dann alle sein, also schaue ich mich erneut nach einem rothaarigen Mädchen um, bleibe aber für eine Moment an der hübschen Brünetten von vorhin hängen. Ich sehe ihr in die Augen und zwinkere ihr kurz zu.
In diesem Moment tritt Draxen in Erscheinung.
Zunächst hält er den Kopf gesenkt, um den Augenblick ein wenig in die Länge zu ziehen und Spannung aufzubauen. Er hat mir gegenüber zugegeben, dass er sich einen Ruf zu verschaffen hofft, der noch furchterregender ist als der unseres Vaters.
Und wenn das sein Wunsch ist, werde ich ihm helfen, sein Ziel zu erreichen.
»Captain, alle Männer auf dem Schiff stehen vor dir«, sage ich zu ihm.
»Gut, Riden. Aber hoffen wir lieber, dass diese hier nicht alle Männer sind.«
»Bisher habe ich drei Mädels gefunden, aber keins hat rotes Haar.«
Draxen nickt. »Hört her!«, ruft er unseren Gefangenen zu. »Ihr habt doch sicher alle die Geschichten über Jeskor den Kopfspalter gehört. Ich bin sein Sohn Draxen. Und ihr werdet feststellen, dass mein Ruf noch viel schlimmer werden wird.«
Als er fertig ist, muss ich mir ein Lächeln verkneifen. Heute Morgen habe ich ihn diese Ansprache vor dem Spiegel üben sehen, was ich ihm gegenüber aber nie zugeben werde. Soll er seinen Stolz ruhig pflegen.
Ich warte darauf, dass er zum bedrohlichen Teil kommt, doch plötzlich wird er von Gelächter unterbrochen. Ein lautes, feminines Lachen, und es stammt von der Person, die ich für einen Schiffsjungen gehalten habe.
»Kearan«, sagt Draxen mit einem Nicken in seine Richtung.
Kearan zieht dem Mädchen das Heft seines Schwerts über den Schädel.
Unwillkürlich schaudere ich. Vielleicht ist Kearan nicht aufgefallen, dass dieses Lachen von einer Frau kam. Er kann nicht gewusst haben, dass er ein Mädchen schlägt. Vermutlich blutet sie unter ihrer Kappe. Ich trete einen Schritt näher, aber meine Sorge war überflüssig.
Mit nur zwei Zügen befördert sie Kearan rücklings auf den Boden und hält ihre Waffen in den Händen. Sie hat sich so schnell bewegt, dass ich kaum mitgekommen bin.
Als sie aber mit der Pistole auf Draxen zielt, schüttele ich die verdatterte Benommenheit sofort ab, und meine Rechte greift nach meiner eigenen Waffe.
»Runter von meinem Schiff, und nimm deine Männer mit«, sagt sie. Hatte ich zuvor nur eine weitere Mannschaftsangehörige in ihr vermutet, so bin ich nun sicher, dass es sich nur um Alosa handeln kann. Dieser Befehl stammte von einer Person, die es gewohnt ist, das Kommando zu haben.
Hinter ihr bemüht sich Kearan, wieder auf die Beine zu kommen, aber Alosa versetzt ihm einen Ellbogenstoß, und er geht erneut zu Boden.
»Verschwindet. Jetzt sofort«, sagt sie, gleich nachdem sie den Hahn ihrer Pistole gespannt hat.
Ich taxiere ihre Hand, achte genau darauf, wo ihre Finger den Griff umspannen und feuere meine eigene Waffe ab. Genau wie ich es geplant habe, fliegt die Waffe davon und außer Reichweite, ohne dass sie verletzt wird. Ich stecke meine Pistole zurück ins Holster und lächele, erfreut über diesen perfekten Schuss.
Nun fixieren ihre Augen mich, aber ihre Seemannsmütze überschattet den größten Teil ihres Gesichts. Ich kann die Konturen von Nase, Mund und Augen ausmachen, aber viel mehr auch nicht. Welche Farbe mögen diese Augen haben, die derzeit vor Zorn glühen müssen?
Sie zieht ihr Schwert und erdreistet sich, einen Schritt in meine Richtung zu tun. »Du hättest meine Hand erwischen können.«
Ich muss nicht antworten. Das alles ist Draxens Plan, also will er zweifellos die Oberhand über die Situation behalten. Aber sie scheint zu glauben, das wäre ein Glückstreffer gewesen. Es wäre mir zuwider, sie im Irrtum zu belassen.
»Nur, wenn ich das gewollt hätte«, sage ich.
Zwei unserer Männer packen sie und ringen ihr das Schwert ab.
»Ich finde, für einen einfachen Schiffsjungen, der noch nicht mal im Stimmbruch ist, redest du zu viel«, sagt Draxen. »Nimm die Mütze ab.«
Einer der Männer reißt ihr die braune Kappe vom Kopf, und Feuer wallt herab.
Und ich gebe mich ganz dem Anblick von Alosa Kalligan hin, der Tochter des Piratenkönigs.
Ihr Haar ist nicht dunkelrot, nicht von einem Rotbraun, wie man es bei den Mädchen auf der Insel Anerdisa so häufig findet. Und es ist auch nicht von dem weniger verbreiteten orangeroten Farbton.
Nein, Alosas Haar hat die Farbe lodernder Flammen. Es wogt über ihre Schultern und umrahmt ein Gesicht mit hohen Wangenknochen, einer schmalen Nase und Augen, so blau, dass sie dem Meer selbst Konkurrenz machen könnten.
Durch das Leben auf See laufen wir viele Häfen an. Und obwohl ich viele Frauen gesehen, mit vielen das Bett geteilt habe, hege ich keinerlei Zweifel …
Alosa Kalligan ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Sie ist so umwerfend, es ist beinahe, als wäre sie nicht von dieser Welt.
Ich muss Draxen Anerkennung zollen, denn beim Anblick ihres Gesichts zeigt er nicht das kleinste Zaudern. »Prinzessin Alosa, da bist du ja. Ein bisschen jünger als ich erwartet hatte.«
Sie ist vieles, was ich nicht erwartet hatte. Ich mustere die scheußliche, formlose Kleidung, die sie trägt, und versuche mir auszumalen, was genau sie darunter versteckt.
Ist sie unter all dem Stoff spindeldürr oder kurvenreich?
»Ich hatte schon befürchtet, dass wir das Schiff auseinandernehmen müssen, um dich zu finden«, fährt Draxen fort. »Du wirst uns jetzt begleiten.«
»Ich glaube, Captain, du solltest schnell merken, dass ich mir nicht gern sagen lasse, was ich zu tun habe«, erwidert sie.
Das veranlasst mich, den Blick von dem zu lösen, was ich gar nicht ansehen sollte, und stattdessen ihr Gesicht zu betrachten, während ich darauf warte, dass sie irgendetwas versucht.
Dieses Mal dauert es ein bisschen länger, weil sie von zwei Männern festgehalten wird, aber am Ergebnis ändert das nichts. Sie befreit sich, und ich ziehe eine weitere Pistole aus der Jacke und richte sie auf die Prinzessin. Dann spüre ich, wie sich meine Mundwinkel aufwärts bewegen. Eindeutig kurvenreich. Man kann keine zwei Männer abwehren, wenn man seine Schläge nicht mit einem gewissen Maß an Muskelkraft und Gewicht unterfüttern kann.
»Ich habe Bedingungen, Captain«, sagt sie.
»Bedingungen?«, wiederholt Draxen fassungslos.
»Wir werden die Bedingungen meiner Kapitulation verhandeln. Zunächst will ich dein Wort, dass meine Mannschaft unversehrt freigelassen wird.«
Wunderschön, eine begabte Schwertkämpferin, und sie ist dreist . Alosa ist unverkennbar von ihrem Vater ausgebildet worden. Sie ist nicht die hilflose Gefangene eines grausamen Vaters. Sie ist Piratin durch und durch.
Und sie hat Draxen erzürnt. Er greift nach einer seiner Pistolen, zielt auf einen der aufgereihten feindlichen Piraten und feuert.
Verdammt!
»Fordere mich nicht heraus«, sagt Draxen zu ihr. »Du gehst auf mein Schiff. Sofort.«
Wie durch Zauberei hat sie blitzschnell ihr Schwert wieder in den Händen und schlitzt Gastol damit die Kehle auf.
Einen Moment lang bin ich wie gelähmt, unfähig etwas zu tun, während sich das Spiel vor meinen Augen fortsetzt. Draxen tötet einen anderes Mannschaftsmitglied der Gull , und Alosa reagiert darauf, indem sie Moll ihre Klinge ins Herz stößt. Das dumpfe Geräusch, mit dem er auf Deck aufschlägt, bringt mich endlich wieder zu Verstand.
»Aufhören!«, brülle ich.
Draxen verändert sich, wenn er tötet. Er macht dicht. Entfernt sich von mir.
Wird zu unserem Vater.
Und Alosa stachelt ihn an, ohne es zu wissen.
Ich trete vor, die Pistole schussbereit, um ihr zu verdeutlichen, dass ich es ernst meine.
»Wolltet ihr mich töten, hättet ihr es längst getan«, sagt sie, vollends unbeeindruckt vom Anblick meiner Waffe. »Da ihr mich aber lebendig wollt, werdet ihr meinen Bedingungen zustimmen.«
Wie um mich auf die Probe zu stellen, tritt sie Kearan in die Seite und zwingt ihn in die Knie. Eine Hand in seinem Haar, während die andere mit festem Griff das Schwert an seinen Hals presst, mustert sie mich, wartend.
Stell mich auf die Probe, schien ihr Blick zu sagen. Ich habe kein Problem damit zu tun, was du nicht kannst.
Ich sehe mich zu Draxen um, und mir wird klar, dass er nicht zurückrudern wird. Er geht auf das Mädchen zu, dem ich vorhin zugezwinkert habe, und macht sich bereit zu schießen.
»Dafür, dass du um die Sicherheit deiner Leute gebeten hast, bist du ziemlich kaltschnäuzig, wenn ich einen nach dem anderen töte«, bemerkt er.
»Aber für jeden Mann, den ich verliere, verlierst du auch einen«, antwortet sie. »Wenn du vorhast, sie alle sowieso zu töten, sobald ich erst an Bord bin, dann macht es nichts mehr aus, wenn ich ein paar verliere, während ich um die Sicherheit der übrigen verhandle. Du willst mich gefangen nehmen, Captain. Sofern du möchtest, dass ich freiwillig auf dein Schiff gehe, wäre es klug, du nähmest dir mein Angebot zu Herzen. Oder sollen wir erst sehen, wie viele deiner Männer ich töten kann, während du versuchst, mich auf dein Schiff zu zwingen?«
Oh, sie ist gut!
Wäre Draxen nicht seiner inneren Finsternis verfallen, würde er sicherlich ein Einsehen haben. Aber im Moment ist er nicht bei Verstand. Ich haste zu meinem Bruder und spreche direkt an seinem Ohr zu ihm.
»Denk an den Plan, Draxen. Wir brauchen nur sie. Was macht es dann noch aus, wenn wir die anderen ziehen lassen? Wir haben doch, was wir wollen.«
»Sie hat mich nicht so zu behandeln«, antwortet er ebenfalls im Flüsterton. »Ich muss ein Exempel statuieren.«
»Damit gestattest du ihr, mehrere unserer Leute zu töten. Wenn wir keine Meuterei riskieren wollen, muss deren Sicherheit an erster Stelle stehen. Das kann so nicht weitergehen. Sei unbesorgt. Ich bekomme die benötigte Information aus ihr heraus, aber zuerst sollten wir uns darauf konzentrieren, sie auf die Night Farer zu schaffen.«
Er presst die Lippen zusammen, bis sie eine dünne Linie bilden, und ich bemühe mich um eine unbewegte Miene, während ich auf seine Entscheidung warte.
»Nenn deine Bedingungen, Prinzessin«, sagt er. »Aber mach schnell.«
Ich seufze erleichtert. Er ist wieder da. Ich weiß nicht, was ich tun werde, sollte einmal der Tag kommen, an dem ich ihn nicht mehr zurückholen kann.
»Die Mannschaft ist unversehrt freizulassen«, sagt sie. »Ich werde auf dein Schiff kommen, ohne Widerstand zu leisten. Und du wirst mein Hab und Gut rüberbringen.«
»Dein Hab und Gut?«
»Ja, meine Garderobe und meinen persönlichen Besitz.«
Draxen dreht sich zu mir um. »Sie will ihre Kleidung.«
»Ich bin eine Prinzessin und so werdet ihr mich auch behandeln.«
Ich kann sein glühendes Verlangen, sie zu erschießen, förmlich spüren, also sage ich: »Was kümmert es uns, Captain, wenn sie sich jeden Tag für uns herausputzen möchte? Ich würde mich darüber jedenfalls nicht beklagen.«
Aber mich bewegt weniger die Frage, wie sie wohl in in ihren eigenen Kleidern aussehen mag, als das Bestreben, sie von Draxen wegzuschaffen. Sie sind einander gerade erst begegnet, und schon bringt sie die Finsternis in ihm zum Vorschein.
»Also schön«, sagt er. »Ist das dann alles, Eure Hoheit?«
»Ja.«
»Dann schaff deinen verhätschelten Hintern auf mein Schiff. Ihr Männer verfrachtet ihr Zeug aufs Schiff. Was die Mannschaft der Prinzessin betrifft, so steigt ihr jetzt in die Ruderboote. Ich werde das Schiff versenken. Wenn ihr schnell rudert, schafft ihr es in zweieinhalb Tagen zum nächsten Hafen. Und ich schlage vor, ihr tut das, ehe auch nur einer von euch verdurstet. Wenn ihr die Küste erreicht habt, werdet ihr dem Piratenkönig meine Lösegeldforderung überbringen und ihm sagen, dass ich seine Tochter in meiner Gewalt habe.«
Eigentlich sollte ich die Mannschaft beaufsichtigen, die nun anfängt, das Schiff nach Wertsachen zu durchsuchen, und den Rest unserer Feinde in die Boote treibt.
Aber ich behalte Draxen und Alosa im Auge. Von hier aus kann ich nicht hören, worüber sie sprechen, aber ihr angewiderter Gesichtsausdruck verrät mir, dass es nichts Gutes sein kann.
Ich muss erneut dazwischen gehen, aber ehe ich sie erreicht habe, verpasst er ihr mit dem Handrücken eine Ohrfeige.
Einen Moment lang bin ich wie gelähmt, während sich das Geschehen wieder und wieder in meinem Kopf abspielt. Noch nie habe ich ihn ein Mädchen schlagen sehen.
Und zum ersten Mal seit unserer Kindheit verspüre ich den Wunsch, ihn zu schlagen.
Als Draxen mir befiehlt, mich um sie zu »kümmern«, packe ich sie mit fester Hand am Oberarm und zerre sie so schnell wie möglich davon, denn anderenfalls könnte ich etwas tun, das ich meinem Bruder lieber nicht antun sollte.
Draxen hat zu viel in diese Exkursion investiert. Er wird nicht zulassen, dass ihm dabei irgendetwas in die Quere kommt. Ich muss tun, was ich kann, um sicherzustellen, dass nichts seinen Plan ruiniert. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn zu retten.
Was bedeutet, dass ich mich nicht einmal damit amüsieren kann herauszufinden, wie ich Alosa am Besten in mein Bett locken könnte.
Sie ist meine Feindin. Sie ist gefährlich für Draxen, aber unverzichtbar für seine Pläne. Ich werde den Aufenthaltsort des Piratenkönigs aus ihr herausholen und noch vieles mehr. Sie denkt, wir würden Lösegeld für sie erpressen wollen, aber es steckt so viel mehr dahinter.
Wir werden den König vom Thron stoßen und all seinen Reichtum für uns beanspruchen.
Und wenn ich verhindern will, dass mein Bruder sich in unseren verstorbenen Vater verwandelt, muss ich dafür sorgen, dass sein Plan funktioniert.
Alosa ist ein Mittel zum Zweck, weiter nichts. Draxen mag sie unter die Haut gehen, doch ich werde ihr nicht gestatten, das Gleiche bei mir zu tun.