Kein Blut auf dem Sand

CORNELIA KUHNERT

Da klappert etwas. Das Geräusch kommt direkt aus dem Erdgeschoss. Jetzt knirscht es. Nein, es ist eher ein Schaben – Metall auf Holz. Mein Herz wummert. Ich drücke mich fest in die Matratze und denke mich ganz weit weg – wie als Kind, wenn sich die Eltern laut im Wohnzimmer gestritten haben. Nun ist es wieder still. Ich atme ganz langsam aus. Der Sturm ruckelt an den Fensterläden. Für heute und morgen ist starker Nordwind angekündigt. Der soll über Nacht noch zunehmen. Ich kuschle mich ins Bett und ziehe mir die Decke bis unters Kinn. Alles ist gut. Es ist der Wind, das himmlische Kind.

Nichts ist gut. Jetzt klappert es wieder. Das Geräusch kommt unten von der Eingangstür. Hebelt da etwa jemand die Tür auf? Verdammt, warum bin ich nicht nach Klanxbüll gefahren. Jetzt sitze ich in der Falle.

Die Einbruchsserie hat in den letzten Wochen alle beschäftigt, nicht nur die Zeitungen. Immer wieder bricht eine Bande nachts in Häuser ein, räumt wertvolle Sachen raus und geht brutal zur Sache. Ein Rentner in Keitum hat sich zur Wehr gesetzt. Zwei Wochen lag er im Koma, letzte Woche ist er gestorben, und Mittwoch haben alle im Zug darüber geredet.

»Kein Wunder, dass diese Banden auf die Insel kommen«, hat Silke gesagt, eine resolute Frau um die vierzig. Sie arbeitet im Supermarkt an der Fleischtheke und pendelt genau wie ich jeden Tag von Klanxbüll nach Westerland. »Ganze Orte verkommen zu Geisterstädten«, hat sie laut geschimpft.

Recht hat sie. Das ist doch nicht normal, was auf Sylt vor sich geht. Erst kaufen die reichen Säcke die Häuser. Zu horrenden Preisen, die sich kein Einheimischer leisten kann, und dann stehen sie leer. Nach dem Umbau, versteht sich. Hamburger fliegen ja noch mal übers Wochenende ein, aber Düsseldorfer und Konsorten kommen nur kurz im Sommer vorbei. Zum Angeben mit ihrer effektiven Geldanlage. Effektive Geldanlage. Den Begriff habe ich aufgeschnappt, als Doktor Sturm mit einem Interessenten eins seiner Objekte besichtigte. Doktor Sturm. Der Mann, der viel Wind macht.

Das Klappern wird lauter. Ich habe Angst. Verzweifelt sehe ich mich im Zimmer um. Zum Glück ist der Vollmond auf meiner Seite. Sein milchiges Licht fällt auf die schwere Kristallvase neben der Kommode. Ein Baseballschläger wäre mir zwar lieber, aber so muss es auch gehen. Leise stehe ich auf, schnappe mir das Kristallungetüm und schleiche Richtung Tür. Und warte.

Schritte auf der Treppe. Diese Typen geben sich nicht mal Mühe leise zu sein. Wozu auch? Alle Häuser in dieser Straße stehen leer, im Februar kommt keiner hierher. Schon gar nicht bei dem schlechtem Wetter der letzten Wochen: Regen, Wind, manchmal sogar Schnee.

Und mit mir rechnet sowieso keiner. Ich bin unsichtbar – niemand soll mich sehen. Das ist der Deal. Hat sich aber heute anders ergeben. Echt, ich mach das nur ganz selten, dass ich abends nicht mit dem Zug zurückfahre. Seit einem Jahr muss ich nämlich pendeln – weil ich mir eine Mietwohnung auf der Insel nicht mehr leisten kann. Schöne Scheiße. Ich will aber keinen Job in Itzehoe oder Husum, ich brauche das Inselklima, die Seeluft, das Rauschen des Meeres, das Kreischen der Möwen, Ebbe und Flut ... und natürlich Krischan.

Mein Krischan. Bald wird Krischan Dörte verlassen, das weiß ich. Die Trennung liegt quasi in der Luft – dann wird es mit uns beiden nicht nur was Festes, sondern auch was Offizielles. Krischan ist ganz verrückt nach mir. Als Dörte heute zum Doppelkopfspielen zu ihren Eltern gegangen ist, kam er gleich zu mir. Stante pede.

Ich hab das Wohnzimmer von Hausnummer zwölf extra für unser Treffen hergerichtet. Das mache ich immer, damit Krischan in Stimmung kommt. Kuschelmusik, gedämpftes Licht und jedes Mal einen besonderen Cocktail. Dieses Mal: Blood and Sand. Mit den Farben vom Blut und Sand der Stierkampfarena. Scotch, Kirschlikör, roter Wermut standen in der Hausbar. Nur Orangen waren keine da. Hab ich also welche gekauft. Blutorangen. Das passt am besten.

Als ich Krischan den Cocktail reichte, sagte er: »Der sieht ja richtig gefährlich aus. Was ist das denn für ein Mix?«

»Ein Cocktail für Liebende. Blood and Sand, das Elixier der Matadore.« Dabei blinzelte ich ihn an. Mit blutrot geschminkten Lippen. Versteht sich.

Krischan nippte an seinem Glas. »Schmeckt besser als gedacht.« Dann stellte er das Glas ab und drückte sich an mich. Küsste mich auf den Hals, dass es mir heiß und kalt den Rücken runterlief, und flüsterte: »Lass mich dein Matador sein ...« Genauso hatte ich mir das vorgestellt.

Mit tänzelnden Schritten bugsierte er mich nach oben ins Schlafzimmer und stürzte sich auf mich wie ein Verdurstender aufs Wasser – aber Hallo. Anschließend ist er sofort eingeschlafen. Völlig fertig war er. Kein Wunder. Dörte hatte ihn wieder den ganzen Tag schuften lassen. Strandkorbgitter aufschließen, zuschließen, Geflecht reparieren. Dörtes Familie vermietet Strandkörbe. Die Firma ist eine richtige Goldgrube.

Ich hab ganz still neben Krischan gelegen und ihn betrachtet. Er hat ein schönes Gesicht, auch wenn sich langsam ein Doppelkinn reinmogelt. Aber mir gefällt das, das hat so was Gemütliches. Nur die Heimlichkeiten gefallen mir nicht mehr. Schon lange nicht. Das hab ich ihm vorhin auch gesagt. Bevor er eingeschlafen ist. »Du hast ja recht«, hat Krischan gestöhnt, »das muss aufhören. Aber noch nicht jetzt. Du weißt doch: Ich muss ein bisschen Rücksicht auf Dörte nehmen. Und ihre Eltern.« Und die Firma. Das hat er aber nicht gesagt.

Als Krischan nach einer Stunde wieder aufwachte, hatte er es plötzlich ganz eilig. Sprang in seine Klamotten und machte sich vom Acker – um noch vor Dörte zuhause zu sein. Das hat mir die gute Stimmung etwas verhagelt. Ganz gewaltig, wenn ich ehrlich bin. Deshalb bin ich auch liegen geblieben. Gut, das stimmt nicht ganz. Ich bin noch mal runter und habe den Cocktailshaker hochgeholt. Und die beiden fast vollen Gläser. Erst hab ich meins ausgetrunken, dann Krischans und anschließend den Rest aus dem Schüttler. Wär ja sonst Verschwendung. Und da bin ich überhaupt nicht für.

Danach war ich viel zu müde, um noch zurück aufs Festland zu fahren. Und auch ein bisschen angeschickert. Außerdem ist dieses Pendeln die reine Zeitvergeudung. Vor allem, wo die Hütten ja hier eh immer leer sind – und ich die Schlüssel und den Code für die Alarmanlage habe. Lüften, feudeln, Blumen gießen. Und nun hab ich den Scheiß.

Die Schritte kommen näher. Jetzt stoppen sie vor meiner Tür. Der wird doch nicht etwa hier reinkommen? Tut er aber.

Die Klinke wird runtergedrückt. Angriff ist die beste Verteidigung. Die Vase im linken Arm reiße ich die Tür mit der rechten Hand auf. Mit einem Ruck.

Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Mann, ein großer, korpulenter Typ. Der Kerl will gerade den Mund aufmachen, als ich ihm schon das Ungetüm aus Kristall auf den Kopf donnere. Beidhändig, das versteht sich von selbst.

Ich lande einen präzisen Treffer – und freue mich diebisch. Der Mann weicht zurück, er taumelt, direkt am Treppenabsatz. Dann geht alles ganz schnell. In dem einen Moment rudern seine Arme noch in der Luft und versuchen Halt zu finden, im nächsten strauchelt er und plumpst rückwärts Richtung Treppe – und dann immer weiter abwärts.

Ist ein unschönes Krachen, mit dem er unten in der Diele landet. Zwei Schritte und ich bin zurück im Zimmer. Regungslos stehe ich wieder rechts neben dem Kleiderschrank. Ohne Kristallvase. Mit Nachtischlampe.

Ich lausche. Nichts.

Nach fünf langen Minuten immer noch nichts. Nach einer Stunde wage ich mich langsam aus dem Zimmer. Der Typ liegt immer noch am Fuße der Treppe. Er rührt sich nicht – und sonst auch nichts. Vorsichtig steige ich die Stufen herab und besehe ihn mir genauer. Schmieriger Kerl. Garantiert einer von dieser Bande, die die Häuser nachts aufbricht. Richtig verschlagen sieht er aus – sogar im Tod.

Der nächste Morgen beginnt vielversprechend. Kräftiger Nordwind treibt die Wolken in den Süden und die Sonne legt sich schon früh am Morgen ins Zeug. Ein Tag zum Helden zeugen, würde Krischan sagen. Der Spaten flutscht ins Erdreich. Stechen, heben, werfen und wieder von vorne.

Der Sandhaufen wächst schnell. Schweiß rinnt mir von der Stirn und läuft in gerader Bahn auf meine Nasenwurzel zu, aber das stört mich nicht. Ohne nachzudenken arbeiten meine Arme, finden einen ganz eigenen Rhythmus. Plötzlich vibriert das Handy in meiner Hosentasche. Eine SMS von Krischan?

Nein, von Doktor Sturm. Er will mich in zwei Stunden hier treffen. Der Mann, der immer viel Wind macht.

Es hat keinen Zweck ihn zu vertrösten, lieber schaufele ich schneller. Eine Stunde später liegt der Dicke in der Grube. Ich setze die Rosen wieder an ihre alten Plätze und harke den Boden. Kein Blut auf dem Sand. Nichts. Dann wische ich das Treppenhaus. Zum Glück hat sich die Schweinerei mit dem Blut in Grenzen gehalten. Gerade postiere ich mich mit dem Wischeimer vor der Haustür, da fährt Sturm auch schon mit seinem Porsche auf den Kiesweg vorm Reetdachbungalow.

»Guten Morgen, Frau Mortensen.«

»Moin, Doktor Sturm.« Sturm legt Wert auf seinen Titel, den hat der sich bestimmt teuer gekauft. Kennt man ja. Aber egal, immer schön Honig um den Bart schmieren, das mag der alte Knacker.

»Ist Herr Nutzel schon da?«

»Nutzel?« Ich verstehe kein Wort. »Wer soll das denn sein?«

»Der vielleicht neue Besitzer. Er möchte das Haus von einem Geschäftspartner kaufen. Wollte eigentlich schon gestern herkommen und sich das Haus ansehen.« Ein bellendes Lachen folgt, dann räuspert er sich. »Ich dachte, er wäre bereits da. Hatte vor, ihn zu begrüßen.«

Ach du Scheiße.

»Alleinstehende Herren kommen ja gerne ohne Begleitung auf die Insel.« Es folgt erneut eine Lachsalve. Sturm hört sich an wie ein Dackel mit Bronchialkatarrh. »übrigens, bei Hausnummer vierzehn können Sie gleich mit der Grundreinigung weitermachen. Das Anwesen soll auch verkauft werden. Nächste Woche kommen die ersten Interessenten. Hier ist der Schlüssel und der Zahlencode für die Alarmanlage.«

Als Sturm weg ist, brauche ich erst mal was zu trinken. Was Starkes. Ich gieße mir einen ordentlichen Schluck Whisky ein. Den roten Kram lasse ich dieses Mal weg. Mit dem vollen Glas in der Hand gehe ich in den Garten.

»Dumm gelaufen«, murmele ich und proste Nutzels Grab zu. »Im Ernst. Tut mir echt leid. Aber das habe ich ja nun beim besten Willen nicht ahnen können, dass Sie ... Andererseits: Was schleichen Sie sich auch nachts ins Haus! Und vor allem: Warum hat mir kein Schwein vorher Bescheid gesagt, dass Sie im Anmarsch sind? Sturm schickt mir ja sonst auch eine SMS nach der anderen.«

Die Rosenköpfe wippen im Wind. Sieht aus, als würden sie mir zunicken. Das ist ein gutes Zeichen. Gleich fühle ich mich besser. Geradezu belebt. Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Und das habe ich mal wieder mit Bravour geschafft.

Bleibt nur noch mein Dauerproblem: Dörte. Das sollte ich endlich in Angriff nehmen. Wo ich doch gerade so einen guten Lauf habe. Vielleicht ein Schlag auf den Hinterkopf oder ein bisschen Rattengift in den Tee – und dann ab mit ihr ins Wildrosenbeet von Hausnummer vierzehn. Der Platz ist verschwiegen und unwegsam. Keine Strandkörbe. Genau das Richtige für Dörte.

Blood and Sand

2 cl Whisky

2 cl Kirschlikör (Cherry Brandy)

2 cl roter Wermut

2 cl frisch gepresster Orangensaft

In einen Cocktailshaker kommen pro Glas je vier gleiche Teile von schottischem Whisky, Kirschlikör, roter, süßer Wermut (Vermouth) und frisch gepresstem Orangensaft. Je nach Geschmack mit ein paar Eiswürfeln schütteln. Dann alles ab in eine vorgekühlte Cocktailschale, die sogenannte Coupette, und genießen.