Der Weißrusse-White Russian

CHRISTIAN KLIER

Mit jedem Satz, den ich hier verlier, werd ich weniger wahr.
Mit jedem Wort, das mich verlässt, werd ich weniger.
Mit jedem Meter, den ich geh,
steh ich in der Ferne und verlass den Bereich,
von dem ich mal wusste, wie weit er reicht.
Peter Licht, Neue Idee

Der Leseraum der Buchhandlung war bis auf den letzten Platz besetzt. Zum x-ten Mal blickte der Buchhändler auf seine Armbanduhr. Zwölf Minuten und 36 Sekunden zu spät. Wann zum Teufel kam endlich dieser Rackmann? Seit er in den Bestsellerlisten auf Platz eins geschossen war, glaubte der wohl, sich alles erlauben zu können.

Der Buchhändler stand an der Glastür seiner Buchhandlung und sah nach draußen in den Regen. Das Tuscheln und Rascheln, die demonstrativen Huster in seinem Rücken versuchte er zu ignorieren. Doch es gelang ihm nicht. Um Viertel nach, dachte er, um Viertel nach würde er vor das Publikum treten und die Veranstaltung auflösen.

Von draußen drang Sirenengeheul an sein Ohr. Erst leise, entfernt, dann anschwellend, immer lauter, so dass die Geräusche des Publikums übertönt wurden. Ein Polizeiwagen rauschte an der Buchhandlung vorbei. Das Blaulicht flackerte auf die hellen Wände der gegenüberliegenden Kirche und in sein Gesicht. Sein wütendes Gesicht, sein enttäuschtes Gesicht. Das Sirenengeheul verschwand. Wieder die Uhr. Dreizehn Minuten und zwei Sekunden. Rackmann. Mach was du willst, aber ich geh jetzt nach vorne.

Er ließ sich Zeit. Verlegen arrangierte er eine Reihe Bücher, als er an einem Regal vorbeikam. Er räusperte sich. Gleich würde er sprechen müssen.

Als er vorne an dem Tisch angekommen war, hinter dem der Schriftsteller eigentlich schon seit einer viertel Stunde hätte lesen müssen, fiel sein Blick auf den Drink. Wie im Lesungsvertrag vereinbart, hatte man Rackmann einen White Russian hingestellt. Das Glas schwitzte. Die untere Hälfte schimmerte rot-braun, man konnte die Kanten der Eiswürfel erkennen. Weiße Schlieren zogen sich in das Gemisch aus Wodka und Kaffeelikör: angeschlagene Sahne, die ein für die Veranstaltung eigens bestellter Barmixer vor zwanzig Minuten über den Rücken eines Barlöffels in das Glas hatte gleiten lassen. Ganz vorsichtig, damit sich die Schichten nicht vermischten. Was tat man nicht alles für einen Bestsellerautor, der am Ende nicht erschien.

Der Buchhändler griff an seinen Krawattenknoten, zog diesen zwei Millimeter an, nahm das Mikrophon aus dem Ständer, sah auf die Uhr, vierzehn Minuten und 44 Sekunden, dann in die Menge. »Meine sehr verehrten Damen und Herren.«

Er blickte über das Publikum hinweg. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Da hinten an der Glastür, da war jemand. Und dieser Jemand trat jetzt ein. Umrundete die Stühle, auf denen die Menschen saßen. Er trug einen Bademantel, grau-braun. Das lange Haar glänzte, nass vom Regen. Jetzt wischte sich der Ankömmling eine Strähne hinters Ohr, hinter den Bügel einer schwarzen Sonnenbrille. Mit Mühe erkannte der Buchhändler Jöran Rackmann. Der Schriftsteller bewegte sich leicht hinkend. Auffallend auch, dass er sich den Bauch hielt. Der Buchhändler glaubte, unter Rackmanns Hand einen roten Fleck zu erkennen. Was war los mit dem Mann? Was war das für ein Auftritt?

Jöran Rackmann kam näher. »Meine sehr verehrten Damen und Herren«, wiederholte der Buchhändler. Sein Ton klang freudiger als das erste Mal. »Ich darf Ihnen heute hier und jetzt den zur Zeit erfolgreichsten Schriftsteller Deutschlands vorstellen. Begrüßen Sie mit mir Jöran Rackmann!«

Die Menge applaudierte. Offenbar stellte sich niemand die Frage, warum Rackmann so spät erschien, in solch seltsamem Aufzug, und warum auf seinem Bademantel ein Blutfleck war. Man wusste ja, dass der Romanschreiber bisweilen zu exzentrischen Ausschweifungen neigte.

Rackmann ignorierte den Buchhändler. Dann ließ er sich schwer auf den Stuhl fallen. Er griff in den Ausschnitt seines Bademantels und zog einen kleinen Packen loser Blätter hervor, den er auf den Tisch legte. Neben dem Drink lag ein Barlöffel aus rostfreiem Edelstahl. Den nahm er jetzt, ließ ihn durch die Fläche des Getränks eintauchen und rührte um. Gegen die Glaswand des Trinkgefäßes klimperten die Eiswürfel. Die beiden Schichten vermischten sich. Das Kahlúa-Wodkagemisch vereinigte sich mit der Sahne. Farbe und Konsistenz ähnelten jetzt einem Café au lait. Rackmann zog den Löffel aus dem Getränk und nahm einen Schluck. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Bart, in dem ein paar weißliche Tropfen hängen geblieben waren. Er stellte das Glas zurück, schob die Sonnenbrille nach oben und klemmte sie sich ins Haar.

»Der Weißrusse«, las Rackmann und begann mit dem Vortrag.

Ein Mann – nennen wir ihn den Schriftsteller, denn das war sein Beruf und seine Berufung – beschloss eines Tages, seine Eltern umzubringen. Er fasste diesen Entschluss keineswegs leichtfertig oder plötzlich. Es dauerte vielmehr Monate und Jahre, bis der erste Gedanke an die Tat bis zur blutigen Ausführung heranreifte. Dann jedoch stand sein Vorhaben fest. Schuld an dieser Entwicklung war, neben seiner charakterlichen Neigung zu ungewöhnlichen Lösungsansätzen, der ausbleibende Erfolg des Schriftstellers. Zu Beginn seiner Karriere war er durchaus als vielversprechender Newcomer gehandelt worden. Er gewann sogar Preise mit dem, was er tat. Doch nach einiger Zeit, als die Verkaufszahlen nicht mehr dem öffentlichen Lob entsprachen, wandten sich anfangs wohlgesinnte Menschen, Verleger und Kulturförderer von ihm ab, um sich auf neue, unverbrauchte und ebenfalls vielversprechende Nachwuchstalente zu stürzen.

Der Schriftsteller nahm diese Entwicklung klaglos hin. Es war nie sein Ziel gewesen, großartig herauszukommen, im Blitzlichtgewitter der Medien zu stehen, von den Titelseiten der internationalen Fachpresse zu lächeln oder wahlweise seiner Leserschaft mit ernster, würdevoller Miene gegenüberzutreten. Der Schriftsteller wollte nur eines: Er wollte Schriftsteller sein. Doch wenn er Schriftsteller sein wollte, dann musste er von seinem Beruf auch leben können. Und das war das Manko, die Krux, das Problem an der Sache. Denn Jahr für Jahr schlitterte er immer mehr hinab in das, was als intellektuelles Prekariat bezeichnet wird. Die Verkaufszahlen seiner Bücher gingen langsam, aber stetig zurück. Zuerst konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen. Er zog also um in einen Altbau. Statt einer Zentralheizung heizte nun ein alter Kohlenofen seine Wohnstatt. In den nassen Ecken brüteten Flecken und Schimmel vor sich hin, und im Herbst und besonders winters pfiff nicht nur der Wind um das Haus: Durch die einfach verglasten Holzfenster, von denen der Lack absprang und der Fensterkitt herausfiel, drang sie ein, die ewige Kälte, schneidend und erbarmungslos. Und zu dieser buchstäblichen Kälte gesellte sich, langsam aber sicher, auch eine im übertragenen Sinn. Eine Kälte, die seine Gefühle gegenüber den Menschen, seine Empathie bezüglich der Welt nach und nach absterben ließ. Er erkannte, dass sich niemand um sein Schicksal kümmerte, noch darüber grämte. Ganz im Gegenteil. Sogenannte Freunde, auch langjährige, wandten sich von ihm ab. Er begriff, wie sehr der gesellschaftliche Status von beruflichem Erfolg und Geld abhängig war. Und er verbitterte.

So saß er also zuhause. Inner- und äußerlich frierend. Dem ›Armen Poeten‹ eines Carl Spitzwegs durchaus nicht unähnlich. Und stocherte mit einem ascheverschmierten Schürhaken in der verglimmenden Kohle seines Herzens herum und fragte sich nur: Warum? Ja, warum war er, der nichts anderes als ein Schriftsteller sein wollte, in diese Situation hineingeraten? War er selbst an dieser Misere Schuld? War etwa das, was er fabrizierte, nichts weiter als billiger Schund, der das Papier nicht Wert war, auf dem es gedruckt wurde? – Nein, so war das nicht, stellte er immer wieder fest, wenn er die Probe aufs Exempel machte und seine Texte einer selbstkritischen Analyse unterzog. Das, was er schrieb, war weder besser noch schlechter als alles andere, was auf dem Markt unterwegs war. Aber was war es dann? Die Außenwelt, die sich einen Scheißdreck für ihn interessierte? Die Gesellschaft, die korrupte Manager und betrügerische Geschäftsleute weit mehr honorierte als ihn? Waren etwa die Verlage verantwortlich? Zu Beginn hatten sie noch für ihn geworben, doch inzwischen gab es weder Lesungsangebote noch irgendwelche PR-Aktionen, die darauf hätten abzielen können, dass sich seine Bücher besser verkauften. Man ließ ihn vor sich hin dümpeln mit seiner Schreiberei und vermutlich traute man sich nicht, aus einer vermeintlich letzten Regung von Menschlichkeit heraus, ihn gänzlich zu zertreten und ihm ins Gesicht zu schreien: Du bist draußen, down and out, wir brauchen dich nicht mehr.

Seine Eltern, ein pensionierter Kinderarzt und eine Hausfrau, waren von jeher gegen seinen Beruf gewesen. Man traf sich einmal im Jahr, vorzugsweise an Weihnachten, und machte ihm klar, dass der Weg, den er eingeschlagen hatte, grundverkehrt sei. Er habe doch studiert, zwar Germanistik bloß, aber auch damit sei es möglich, einem ordentlichen Broterwerb nachzugehen. Vielleicht nicht auf höchstem Niveau. Aber momentan suchte der Staat Deutschlehrer, sagte ihm der Vater, und zwar händeringend, wegen der vielen Flüchtlinge. Da solle er sich doch bitte bewerben. Dann und nur dann, sei man auch bereit, ihm finanziell unter die Arme zu greifen, in ihn zu »investieren«.

Der Schriftsteller, der seine Not so lange und so gut es ging vor jedermann inklusive seiner Eltern geheim zu halten versuchte, konnte mit diesen Vorschlägen nicht besonders viel anfangen. Er ging, möglicherweise irrtümlicherweise, davon aus, dass jeder Mensch ein bestimmtes Talent in sich trug, dem er folgen solle. Eine Tätigkeit, die gegen die Natur des Menschen lief, würde sich früher oder später rächen. Durch Krankheit, Erschöpfung, psychisches Missempfinden, Hoffnungslosigkeit, den inneren Tod.

Der Schriftsteller blieb also Schriftsteller, und die Eltern weigerten sich, ihren Sohn auch nur mit einem einzigen Cent zu unterstützen.

In dieser misslichen Situation tat der Schriftsteller zwei Dinge. Zum einen schrieb er einen Roman zu Ende. Das Buch trug den Titel Der Handy-Dandy und stellte eine gnadenlose Abrechnung mit einer Generation dar, die sich mit nichts anderem mehr beschäftigte, als tagaus, tagein in eine virtuelle Welt abzudriften, um schließlich – von jeglicher Realität abgelöst – bitterlich zu implodieren. Die Hauptfigur war ein Mann, der sich den kleinen Mobilfunkgeräten mit Haut und Haaren verschrieben hatte und sich in ihrer bunten, aber dürren Welt völlig verlor. Sein Verleger quittierte den Empfang des Buches mit dem kleinen Wörtchen »schön«. Da wusste der Schriftsteller: Diese Buch würde untergehen wie ein Stein.

Das zweite, was der Schriftsteller tat, war, nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er seine Eltern vom Leben zum Tode befördern konnte. In seinen weitreichenden Überlegungen war er nämlich zu dem Schluss gelangt, dass er mit dem Erbe seiner Erzeuger endlich ein sorgloses Leben würde führen können.

Er selbst, das wusste er, wäre zu einer solchen Bluttat niemals fähig. Er brauchte jemanden, der diese unselige Arbeit für ihn erledigte. Er war ja Schriftsteller und kein Auftragsmörder. In diesem Bereich verspürte er weder Talent noch Berufung. Er suchte also und wurde, ganz wider Erwarten, eines Tages fündig. Der Freund eines Freundes hatte nämlich einen Bekannten, der jemanden kannte, der seinen Lebensunterhalt unter anderem als Killer bestritt.

Aufgrund seiner Beharrlichkeit gelang es dem Schriftsteller schließlich, den Mann, der sein Leben dem Töten gewidmet hatte, ausfindig zu machen und ihm eines Tages persönlich gegenüberzutreten. Eine Mischung aus Nervenkitzel und Angst überfiel den Schriftsteller, als er Vladimir Abarnikov zum ersten Mal sah. Abarnikov war groß und breitschultrig. Seine hellen Augen strahlten ungewöhnlich blau und eiskalt. Sein Lachen war kehlig. Der harte Akzent seiner Stimme verstärkte den allgemeinen Eindruck. Er entsprach so sehr dem Klischee, dachte der Schriftsteller, dass man unmöglich über ihn hätte schreiben können.

Nachdem sie einander begrüßt hatten, ging Abarnikov zu einem Servierwagen, der in der Mitte des Raumes stand. Er steckte seine riesige Hand in einen stählernen Eimer, griff sich einige Eiswürfel daraus und ließ diese geräuschvoll in ein leeres Glas hineinfallen. Dann nahm er eine Wodkaflasche und goss den Alkohol dazu. Es folgten Kaffeelikör und schließlich die angeschlagene Sahne.

»Wissen Sie, was das hier ist?«, fragte Abarnikov, während er das Glas in die Luft hob.

Der Schriftsteller verneinte.

»White Russian«, sagte Abarnikov. »Das hier ist ein White Russian.« Abarnikov nahm einen Löffel und rührte den Drink um. »Und jetzt wird er weiß, sehen Sie? Das Rot verschwindet. Aus dem roten Russen wird der weiße. – Wissen Sie, warum ich diesen Cocktail trinke?«

Der Schriftsteller schüttelte den Kopf.

Abarnikov lachte sein unterkühltes Lachen. »Weil ich Weißrusse bin«, sagte er. »Das ist der einzige Grund. Nichts Politisches, verstehen Sie?«

Abarnikov setzte erneut an und trank. Der Schriftsteller aber, von Abarnikovs Geste beeindruckt, nahm sich vor, dass er, falls er jemals zu Reichtum und Wohlstand kommen sollte, zumindest zu seinen Lesungen auch so einen White Russian tränke. In Erinnerung an den Weißrussen und an alles, was damit verbunden war. Sein einziger Grund.

Man sprach über das Geschäftliche. Der Schriftsteller setzte Abarnikov über die Situation ins Bild. Abarnikov nickte immer wieder, nippte von seinem Cocktail und schwieg. Der größte Haken an der Geschichte war, dass der Schriftsteller sich nicht in der Lage sah, dem Weißrussen im Voraus irgendwelches Geld zukommen zu lassen. Eine Anzahlung war bei seiner finanziellen Lage völlig unmöglich.

Lange tat Abarnikov nichts anderes, als in das leere Cocktailglas zu starren. Also gut, er nähme den Auftrag an, sagte er irgendwann. Wenn dann aber – im Anschluss an den Elternmord und an den Antritt des Erbes – ein nicht unerheblicher Geldbetrag an ihn nicht ausgezahlt werde, dann, darüber müsse sich der Schriftsteller im Klaren sein, dann sei er tot, mausetot.

Der Schriftsteller erschrak innerlich. Er wollte ja leben und er wollte Schriftsteller sein. Aber natürlich war ihm klar, dass angesichts der Umstände die vorgeschlagene Lösung seines Gegenübers mehr als kulant ausfiel. Der Schriftsteller nahm die Bedingung also an.

Man besprach die Details. Aufgrund dringender Geschäfte, so der Weißrusse, müsse sich der Schriftsteller allerdings ein paar Wochen gedulden, bis die Tat zur Ausführung kommen würde. Nachdem Abarnikov in seinem Terminkalender nachgesehen hatte, teilte er dem Schriftsteller das Datum des Tages mit, an dem er dessen Eltern umzubringen gedachte.

Nach dieser aufwühlenden Begegnung ging der Schriftsteller nach Hause. Das heißt, er wollte nach Hause. Fand aber die Wohnung verschlossen. Sein Schlüssel passte nicht mehr. An der Tür klebte ein Zettel, den er sich genauer ansah. Darin war von Zwangsräumung die Rede. Offenbar ein Vollstreckungsbescheid. Der Schriftsteller erinnerte sich an die Post, der immer wieder Briefe in dunkelblauen Kuverts beigelegen hatten. Schreiben irgendeiner Justizbehörde. Diese Briefe hatte er nie gelesen. Zusammen mit seinen letzten Kohlereserven hatte er sie verbrannt. Zwar war in ihm eine leise Ahnung aufgekommen, was diese Briefe wohl bedeuten mochten. Doch wie so oft in Situationen, die das Existenzielle angingen, blendete er einfach das, was er nicht fassen konnte noch wollte, schlichtweg aus.

Jetzt war es so weit. Das dicke Ende war da. Nachdem er seit Monaten seine Miete nicht mehr bezahlt hatte, war er nun auch seine Wohnung los. Der Schriftsteller machte auf dem Absatz kehrt und ging. Auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht genau wusste, was es war, irrte er durch die Stadt. Wo sollte er schlafen? Wo konnte er eine Unterkunft bekommen? Freunde und Bekannte hatte er nur noch wenige bis gar keine mehr. Und außerdem. Man konnte doch nicht einfach so an die Tür klopfen und um Asyl bitten. Sein Stolz und seine Unfähigkeit, neben der Schriftstellerei irgendetwas auf die Reihe zu bringen, standen ihm im Weg. Schließlich schlief er unter einer Brücke, zusammengerollt auf einem Stück Pappe, das er in einem Müllcontainer gefunden hatte.

Zwei Tage lang schlug er sich auf der Straße durch, bettelte, lebte von der Hand in den Mund. Dann, aus heiterem Himmel, bekam er einen Anruf von seinem Verleger. Der Akku seines Handy war schwach, reichte aber noch aus, um das Gespräch zu führen. »Das neue Buch«, sagte der Verleger, »dieser Handy-Dandy macht sich. Wir haben bereits über zehntausend Exemplare verkauft.«

Der Schriftsteller nahm diesen Umstand zur Kenntnis und bat den Verleger um einen sofortigen Vorschuss. Angesichts der positiven Entwicklung stehe einer Vorabüberweisung von einigen Tausend Euro nichts im Wege, antwortete dieser, man könne das Ganze problemlos mit den jährlichen Tantiemen verrechnen. Der Verleger wünschte dem Schriftsteller weiterhin viel Erfolg. Der Schriftsteller bedankte und verabschiedete sich.

Bis das Geld eintraf, verbrachte der Schriftsteller seine Zeit in Bahnhofsvorhallen, Eingangsbereichen von Banken, Kaufhäusern und öffentlichen Bibliotheken. In einem zerfledderten Notizbuch, das er bei sich trug, hielt er seine Ideen fest, verfasste kleinere Texte, Konzepte für Romane und Erzählungen, die er zu einem späteren Zeitpunkt auszuarbeiten gedachte. Als das Geld endlich da war, mietete er sich in einem kleinen Hotel ein. Dies würde für die nächste Zeit reichen, dachte er. Wenn der Mord an seinen Eltern vollbracht wäre, würde er in deren leer stehendem Haus Obdach finden. Bis dahin musste er durchhalten.

Er las viel, durchstreifte die Stadt, ging in Cafés und beobachtete die Menschen, die ihm gänzlich fremd geworden waren. Auf einem seiner Spaziergänge passierte ihm etwas, was ihm nie zuvor geschehen war. Er wurde erkannt, nach seinem Äußeren. Eine Frau mittleren Alters sprach ihn an und fragte, ob er nicht der Autor des Handy-Dandy sei. Sie holte das Buch heraus und bat um eine persönliche Widmung. Der Schriftsteller, nicht wenig erstaunt, tat der Frau den Gefallen.

Als er in sein Hotelzimmer zurückkehrte, erinnerte er sich an sein Handy: Seit einer Ewigkeit hatte er es nicht mehr aufgeladen. Er selbst war das Gegenteil des Dandys, den er in seinem Buch beschrieb. Hätte er genug inneren Antrieb besessen, Technik und Fortschritt vollständig aus seinem Leben zu verbannen, hätte er das kleine Ding schon längst weggeworfen. Nun lud er also den Akku des Handys und schaltete es ein. Dreiundzwanzig unbeantwortete Anrufe, stellte er verdutzt fest. Etwa die Hälfte davon von seinem Verleger, die andere Hälfte von Anschlüssen, die ihm gänzlich unbekannt waren.

Der Schriftsteller rief seinen Verleger zurück. Schon nach dem ersten Läuten meldete sich selbiger.

»Ach, du weißt es noch gar nicht? Dein Buch geht gerade durch die Decke. Dreihunderttausend verkaufte Exemplare! Ohne Ende Interviewanfragen. Haben sich die Pressefritzen noch nicht bei dir gemeldet? Und die Typen von den Literaturfestivals? Außerdem Einladungen zu den großen Talkshows, ARD, ZDF, sogar die Privaten wollen dich haben im Eins-zu-Eins-Gespräch. Der Handy-Dandy wird übrigens übersetzt, ins Englische, Französische, Spanische und viele andere Sprachen, meistbietend, versteht sich. An den Filmrechten sind wir dran. Heute Nachmittag verhandeln wir mit Hollywood, nur die großen Studios, wir machen eine Auktion via Skype. Wenn das so weitergeht, kann ich mir bald eine Villa auf Barbados leisten.«

Wie ein Stein, dachte der Schriftsteller. Wie ein Stein hätte dieses Buch eigentlich untergehen müssen. War das noch die Realität? Ungläubig schaute er auf das Display. Dann rief er all die Leute an, die ihn nicht erreicht hatten.

Es war tatsächlich so, wie es ihm sein Verleger angekündigt hatte. Eine Stunde später hatte er jede Menge dichtgedrängte Termine. Interviews, Lesungen, Auftritte im Fernsehen. Nun denn, er sträubte sich nicht, bereiste das In- und Ausland, stellte seinen Handy-Dandy in voll besetzten Theatern, Stadthallen und sogar in einem Fußballstadion auf Großleinwand vor.

Als er eines Abends nach einem weiteren umjubelten Auftritt nach Hause kam – inzwischen wohnte er in dem einzigen Fünf-Sterne-Hotel seiner Heimatstadt – fiel ihm ein, was er vor ein paar Wochen in Gang gesetzt hatte. Etwas, das ihm mit einem Mal ebenso unwirklich erschien, wie die Glitzerwelt, in der er seit Kurzem lebte. Der Weißrusse. Vladimir Abarnikov. Er hatte ihn beauftragt, seine Eltern zu töten. Des Geldes wegen. Ein Auftrag, der mittlerweile völlig obsolet geworden war. Inzwischen war er mehrfacher Millionär. Da brauchte man keine Eltern mehr umzubringen, dachte er. Eltern, die nun endlich erkennen mussten, wie sehr sie ihn unterschätzt hatten. Er schaute in seinen Kalender. Morgen. Morgen wäre der Tag, an dem der Weißrusse die Tat zur Ausführung bringen wollte.

Das musste er verhindern. Unbedingt. Er erinnerte sich an die Adresse, unter der er den Weißrussen getroffen hatte, rief ein Taxi und fuhr hin. Doch in der Wohnung war kein Weißrusse anzutreffen. Stattdessen öffnete ihm ein Ehepaar die Wohnungstür. Sie seien vor zwei Wochen eingezogen. Über den Vormieter wussten sie nicht viel, aber dass es sich um einen Ausländer namens Abarnikov handelte, war ausgeschlossen. In der Wohnung hatte eine alleinerziehende Mutter mit ihrem sechsjährigen Sohn gewohnt. Wenn er wolle, könne man ihm deren neue Anschrift geben.

Der Schriftsteller wehrte ab. Er begriff, dass seine Unternehmung keinen Sinn hatte. Ein Profi wie der Weißrusse hatte sich natürlich abgesichert. Keine Spur würde zu ihm führen.

Wie war er überhaupt an den Weißrussen herangekommen? Also rief er den Freund an, mit dem alles begonnen hatte. Von diesem wurde er verwiesen an einen Freund des Freundes, an dessen Bekannten, der den Weißrussen kannte. Als er den Letzten in der Reihe am Apparat hatte, wurde es problematisch. Der Bekannte sah sich nicht mehr imstande, einen Kontakt zu Abarnikov herzustellen. Die Handynummer, die dieser hatte, war in der Zwischenzeit ungültig geworden.

»Aber vor drei Wochen hat es doch noch funktioniert!«, insistierte der Schriftsteller.

»Das war vor drei Wochen«, antwortete sein Gesprächspartner. »Jetzt sieht es anders aus.«

»Aber gibt es nicht noch irgendeine Möglichkeit, an den Weißrussen heranzukommen?«

»Sorry. No chance.«

Die folgende Nacht war schrecklich. Diese Ungewissheit. Er tat kein Auge zu. Als er wie gerädert erwachte, warf er routinemäßig einen Blick auf seinen Kalender. Abends hatte er eine Lesung in einer kleinen Buchhandlung ganz in der Nähe. Nun ja, ein bisschen Bodenhaftung zu signalisieren, war sicher nicht verkehrt. Man musste auch an seine Wurzeln denken. Und er hatte den Tag über frei.

Nach dem Frühstück rief er sofort bei seinen Eltern an. Doch niemand nahm ab. Nur der Anrufbeantworter lief. Er sprach eine kurze Nachricht auf, Rückruf dringend erbeten.

Mit seinem neuen Jaguar fuhr er zum Haus seiner Eltern. Es war verschlossen. Er überlegte. Vielleicht waren sie ja im Urlaub. Vielleicht auch nur einkaufen.

Er ging zu einer Nachbarin, von der er wusste, dass sie seinen Eltern relativ nahestand. Die Frau konnte ihm tatsächlich Auskunft geben. Sie erklärte dem Schriftsteller, dass seine Eltern einen Tag im Heilbad verbrachten. Sauna, Wellness, Massagen. Halt alles, was dazugehört.

Der Schriftsteller dachte nach. Ob Abarnikov klar war, wo seine Eltern den Tag verlebten? Würde er nicht vielmehr hier, zu Hause auf sie warten? Es gab im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: Entweder bekam er noch irgendwie Kontakt zu dem Weißrussen, um ihn im Vorfeld der Mordaktion von seiner Tat abzuhalten, oder er musste seine Eltern warnen und beschützen.

Er fuhr zu der Therme. Kaufte vor Ort Badesachen. Betrat das Areal. Es dauerte nicht lange, und er hatte seine Eltern gefunden. Die beiden entspannten gerade in einem 36 Grad heißen Solebecken. Der Schriftsteller erklärte, dass sie sofort hier raus müssten, etwas Schlimmes, durchaus Gefährliches, ja Lebensbedrohliches würde geschehen, wenn sie hier weiterhin blieben. Er bot ihnen an, mit zu ihm ins Hotel zu kommen, wo man den Rest des Tages in seiner geräumigen Suite verbringen konnte.

Der Vater sah seinen Sohn an, als habe er es mit einem Wahnsinnigen zu tun. »Nimmst du jetzt etwa zu allem Überfluss auch noch Drogen?«, fragte er und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, seiner Frau zu: »Lass uns in den Außenbereich gehen, Schatz.«

»Tut das nicht! Auf keinen Fall!«, rief der Schriftsteller.

Völlig unbeeindruckt verließen die Eltern das Becken. Der Schriftsteller lief ihnen hinterher.

Als der Vater knietief im Wasser eines Whirlpools stand, fiel ein Schuss. Der Vater hob seinen Arm, an dem das Blut herunter rann. Rot und weiß, dachte der Schriftsteller. White Russian. Wenn man das Ganze umrührte, würde das Rot verschwinden.

Die Mutter stand immer noch am Rand des Beckens. Sie hatte zu schreien begonnen. Der Schriftsteller ging zu ihr. Er stellte sich vor die Frau und blickte auf eine Anhöhe, die sich um das Gelände herum erhob. Von hier aus musste der Weißrusse geschossen haben.

»Abarnikov!«, brüllte er, so laut er konnte. »Hör auf! Es ist vorbei! Es gibt keinen Auftrag mehr!«

Ein zweiter Schuss. Dann ein dritter. Das Schreien der Mutter hörte auf. Der Schriftsteller aber hatte den Eindruck, als habe ihn ein Schlag getroffen. Er sah an sich herunter, erkannte ein Loch in seinem Bademantel, dann kam das Blut, schwärzlich. Tat richtig weh.

Der Schriftsteller begriff wenig von dem, was um ihn herum geschah. Der Tumult blieb rasch hinter ihm zurück. Er ging geradeaus, am Kaltwasserbecken vorbei, über die Liegewiese, hinter die Umkleiden. Ein Sanitäter hielt ihn auf, doch er ging weiter. Er nahm sich ein Taxi. »Wohin?«, fragte der Fahrer. Der Schriftsteller überlegte. Aber er kannte nur ein Ziel: den Lesungsort. Er war Schriftsteller, mit seinem Buch aufzutreten, das war sein einziger Grund, sein Antrieb. So traf er schließlich, mit einer viertel Stunde Verspätung, in der Buchhandlung ein.«

Jöran Rackmann sah hoch. Und blickte in irritierte Gesichter. Es dauerte eine Weile, bis seine Zuhörerschaft begriff, dass die Geschichte zu Ende war. Auf einigen Plätzen begannen die Leute verhalten zu klatschen. Schließlich stimmte das gesamte Publikum in den Applaus ein. Als der Beifall verebbt war, bedankte sich Rackmann. Unerbittlich fraß sich der Schmerz durch seine Eingeweide, er ließ sich nicht mehr länger verdrängen.

Er forderte sein Publikum auf, Fragen zu stellen.

Eine Frau meldete sich.

»Ja bitte?«

»Herr Rackmann, mich würde einmal interessieren, inwieweit Ihr Schreiben autobiographisch ist.«

»Eine gute Frage«, sagte Rackmann und blickte über die Leute hinweg zu der Glastür, durch die er vor einer Dreiviertelstunde den Raum betreten hatte. Dort standen jetzt zwei Polizisten, die an die Scheibe klopften.

»Glauben Sie mir«, begann der Schriftsteller, »Mein Schreiben hat nichts, aber auch gar nichts mit meinem eigenen Leben zu tun. Eine zu große Identifikation mit dem Stoff hätte nur zur Folge, dass die Phantasie, dass der Schreibfluss gehemmt wird. Es würde nichts Gescheites dabei herauskommen. Autobiographisch ist an meiner Geschichte nicht das Geringste.«

Der Buchhändler ließ die beiden Beamten eintreten. Ein kurzes Gespräch. Dann schoben sich die Polizisten zum Schriftsteller durch.

»Noch eine Frage?«, wollte Rackmann wissen. Zu seinen Füßen bildete sich eine Blutlache. Fast verlor er das Bewusstsein. Aber er musste diese Lesung unbedingt zu einem Ende beringen, Profi, der er inzwischen war. Um seinen Fans etwas zu bieten. Aus diesem einzigen Grund.

Bevor die Uniformierten den Schriftsteller abführten, griff der nach seinem White Russian. Er leerte den Cocktail in einem einzigen Zug.

White Russian

3 cl Wodka

3 cl Kaffeelikör

5 cl Sahne

Eiswürfel

Wodka, Kaffeelikör und einige Eiswürfel in ein Glas geben und gut vermischen. Sahne leicht anschlagen und vorsichtig über den Drink geben.