Beton

Ich bin Polizist. Mein Name ist Jiří. Jiří Zmeškal. Für Freunde bin ich Jirka. Und, ja, dieser Text auf der Facebookseite Polizeipoesie Klatovy ist von mir:

Harter Beton
stoppte bei Kokšín
in dunkler Nacht
die trunkene Fahrt
eines Deutschen
der in der Kurve
zu bremsen versäumte

Warum der Deutsche gegen die Betoneinfassung der Eisenbahnunterführung zwischen Kokšín und Švihov gerast ist, blieb in jener Nacht vom 30. April auf den 1. Mai und auch in den folgenden Tagen noch unklar. Offensichtlich war an der Unfallstelle nur, dass der tödliche Aufprall ungebremst geschehen war, und wenige Stunden später herrschte Gewissheit darüber, dass der Mann unter erheblichem Alkoholeinfluss gestanden war. Man hätte also zum Beispiel vermuten können, dass er am Steuer schlichtweg eingeschlafen ist. Oder dass er das Bremsund Gaspedal miteinander verwechselt hat.

Im Suff können den Leuten die blödsinnigsten Dinge passieren. Genauso, wie sie auf die blödsinnigsten Ideen kommen. Als Polizist weiß man das am besten. Und außerdem, unsere Facebookseite Polizeipoesie Klatovy ist ja auch aus einer Suffidee entstanden. Am 1. Mai vor einem Jahr sind wir in unserer Stammkneipe gesessen, hier im U zlatého džbánu, und im Fernsehen haben sie, wie jedes Jahr zum 1. Mai, die Pärchen gezeigt, die in Prag den Laurenziberg bevölkern, sich küssen und zwischendurch für den Reporter das Maigedicht von Mácha aufsagen, die ersten Zeilen, die jeder auswendig kennt, weil man sie in der Schule lernt wie das Kinderlied vom Postmann, der mit Kutsche und Pferdchen nach Rokycany fährt:

Ein Abend spät – der erste Mai –
ein Abendmai – der Liebe Zeit.
Wo Föhren Düfte streuen weit,
das Täubchen ruft zur Lieb herbei …

Die Tragödie aber, die im Gedicht folgt, kann niemand auswendig.

Petr wollte sich das Geturtel auf dem Bildschirm nicht ansehen und ist zur Toilette gegangen. Verständlich. Im Mai vor einem Jahr war er gerade frisch geschieden. Dann kam er zurück an unseren Tisch, stellte sich wie ein Opernsänger in Pose und deklamierte:

An einem Maientage
war die Bahnhofstraße
am Kreisverkehr blockiert
ein Müllcontainer war‘s
dorthin vom Wind verweht

Damit war aus unserem letzten Einsatz vor Feierabend ein Gedicht geworden. Oder so etwas Ähnliches. Am meisten gelacht haben die Polizisten am Stammtisch, also außer Petr und mir noch Tomáš und Vlada. Vielleicht kann das nur jemand komisch finden, der Tag für Tag mit trockenen Berichten und Protokollen zu tun hat.

Ich hab auf das Gedicht eine Runde Beton ausgegeben. Der ist nicht so hart wie er klingt. Sechs Prozent Alkohol, höchstens sieben, Becherovka aufgegossen mit Tonic Water. Eher ein Longdrink als ein richtiger Cocktail. Aber man sollte sich in Klatovy einen Beton wirklich nur hier im U zlatého džbánu bestellen. Auf jeden Fall in einer Kneipe, wo sie ihr eigenes Tonic machen, und man sollte sich vorher vergewissern, dass es nicht zu süß ist. Gerade für Beton nicht. Michal sagt, selbst wenn er ein ganzes Kilo Zucker pro Liter reinschütten würde, wäre sein Tonic immer noch nicht so süß wie das, was die Industrie zusammenrührt.

Am nächsten Vormittag hab ich in meiner Jackentasche eine Handvoll bekritzelter Bierdeckel gefunden. Hätte mir die der Michal nicht eingesteckt, wäre es vielleicht nie zur Facebookseite Polizeipoesie Klatovy gekommen. Aber so war am nächsten Morgen alles noch da, und ich hab mir beim Kaffee alles durchgelesen. War nicht immer ganz einfach. Da müssen, den Handschriften nach, noch einige Betons in die besten Episoden unserer vergangenen Dienste geflossen sein. Dieses Gedicht hier stand auf einem Bierdeckel von der Pivovar Protivín und stammte aus einer Nachtschicht von Vlada und Tomáš:

Durch sogenannte
Musikerstraßen
die man benannte
nach bekannten
Komponisten
zog eine Gruppe des Nachts
als Musikterroristen

Ein anderes hatte Petr auf einen Bierdeckel der Böhmerwaldbrauerei Belveder geschrieben:

Als die Streife

des Morgens um drei

zurück zu ihrem Dienstwagen kam

geparkt in der Smetanastraße

da kniete am Auto ein Mann, hellwach

der mit Wonne die Reifen durchstach

Insgesamt war ungefähr ein Dutzend zusammengekommen, und einige fand ich auch nüchtern beim Kaffee noch gut. Zu schade, die Bierdeckel einfach wegzuschmeißen. Nur, was tun damit? An die Wand hängen? Wo? Daheim? Im Polizeibüro? In Michals Kneipe?

Die Idee kam, als ich beim Scrollen durch Facebook ein Geburtstagsgedicht sah, das Jarda, ein Kumpel aus Strakonice, an die Pinnwand seiner neuen Flamme Lenka gepostet hatte. Mir wäre sowas zu privat. Besonders gut war das Gedicht auch nicht. Vielleicht kam mir deswegen der Gedanke, dass ich ja unsere Gedichte posten könnte. Ein paar Minuten später war ich schon dabei, die Seite Polizeipoesie Klatovy anzulegen. Damals hätte ich natürlich noch nicht gedacht, dass einmal etwas geschehen könnte, wofür uns die Worte fehlen. Eben die Sache mit dem Deutschen. An dem Abend, als Pepík vom Morddezernat Pilsen uns im U zlatého džbánu erzählte, was für eine Geschichte nach dem Unfall ans Tageslicht gekommen war, kam keiner von uns in die Laune, ein neues Gedicht zu verfassen. Obwohl es um Liebe ging. Liebe?

Aber der Reihe nach. Noch einmal zurück zu jener Nachtschicht vom 30. April auf den 1. Mai, in der Petr und ich kurz vor halb eins zur Bahnunterführung bei Kokšín beordert wurden. Schwerer Verkehrsunfall, hieß es, mit nur einem beteiligten Fahrzeug. Zufällig waren wir zu dem Zeitpunkt nur ein paar Kilometer entfernt in Švihov, um einen kleinen Streit im U Hradu zu schlichten, und sind noch vor der Ambulanz an der Unfallstelle eingetroffen.

Der Mann, der uns verständigt hatte, ein Musiklehrer namens Miroslav Vyskocil aus Preštice, kam auf uns zugelaufen und sagte, dass der Fahrer und einzige Insasse des Fahrzeugs nicht mehr am Leben sei. Wäre auch ein Wunder gewesen, wenn in dem Wrack jemand überlebt hätte. Der vordere Teil des Wagens war nur noch ein Metallklumpen, der eine deformierte, blutige Masse Mensch umschloss. Für die Sanitäter, die ein paar Minuten später aus Klatovy eintrafen, gab es nichts mehr zu retten. Umso mehr gab es für uns zu tun.

Es war kein Grund ersichtlich, warum der Škoda Octavia an dieser Stelle gegen die Brückeneinfassung geprallt war, und dies auch noch mit hoher Geschwindigkeit. Bremsspuren waren nicht zu erkennen, ebensowenig Anzeichen dafür, dass der Fahrer versucht hätte, durch Ausweichmanöver den Unfall zu verhindern. Im Gegenteil, es sah aus, als hätte er zielgerichtet die Linkskurve verlassen. Der Fahrer konnte einen Herzanfall erlitten haben. Ebenso gut konnte es aber auch Manipulation an den Bremsen gewesen sein. Wir mussten also einen Staatsanwalt vom Dauerdienst herbeordern, und eine halbe Stunde später traf ein missgelaunter Zdenek Beneš aus Pilsen ein, der den Unfallwagen zur Begutachtung nach Klatovy überführen ließ und den Toten ins Fakultätsklinikum Pilsen. Das Einzige, was wir in der Nacht noch feststellen konnten, war, dass der weiße Octavia auf die Prager Baufirma Mlynár & Tasch zugelassen war und der Tote gemäß den Papieren, die er bei sich trug, Stephan Särve hieß, 33 Jahre alt war, aus Deutschland stammte und seinen Hauptwohnsitz in Weiden sowie einen Zweitwohnsitz in der Kardinála Berana 23 in Pilsen hatte. Am Samstag schließlich wurde die Unfallakte an die Pilsener Kripokollegen weitergeleitet.

Einen Tag später, am 3. Mai, suchte am Vormittag eine Frau Marie Krtková unsere Dienststelle auf, weil sie sich Sorgen um ihre Tochter machte, Markéta Lukášová. Sie gab an, Markéta hätte am Freitag mit ihrem Mann in den Urlaub aufbrechen wollen, aber sie sei noch niemals verreist, ohne sich vorher von ihr zu verabschieden. Telefonisch erreichen könne sie sie nicht, und von ihrem Schwiegersohn, Markétas Ehemann Marek, habe sie die Auskunft bekommen, Markéta sei wahrscheinlich wieder bei diesem Nemec, diesem Deutschen, und wohl endgültig zu ihm gezogen.

Dass von einem Deutschen die Rede war, hat Ondrej, den Kollegen, der die Sache aufnahm, natürlich aufhorchen lassen. Klar, konnte Zufall sein – aber eben auch nicht. Gefragt, ob ihr der Name dieses Deutschen bekannt sei, antwortete die Krtková, dass sie bis dahin von einer Affäre oder einem Seitensprung ihrer Tochter nichts gewusst habe, dass sie, im Gegenteil, bislang keinen Anlass hatte, die Ehe ihrer Tochter für zerrüttet oder unglücklich zu halten, Marek und Markéta hätten doch an ihrem Haus in Kalište gebaut, wollten eine Familie gründen, Kinder haben.

Ondrej nahm die persönlichen Daten von Markéta Lukášová auf, und als ich das Blatt in Händen hielt, sprang mir sofort der Name Mlynár & Tasch ins Auge. Dort war sie, den Angaben nach, als Dozentin beschäftigt, für innerbetriebliche Schulungen offenbar. Ich rief in Pilsen an, um den Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Unfalltod des Deutschen und dem Verschwinden von Markéta Lukášová durchzugeben, und erfuhr, dass Inspektor Jozef Poslušný in der Sache ermittelte. Pepík also, unser alter Schulkamerad, der mit Petr und mir das Gymnasium in Klatovy besucht hatte. Im Büro war er an jenem Sonntag nicht, aber ich habe seine private Mobilnummer.

Für Pepík kam mein Anruf genau zu dem Zeitpunkt, an dem er so ziemlich alles getan hatte, was ein guter Kriminaler tun konnte. Am Freitag, so sagte er, hatte er über die deutsch-tschechische Dienststelle in Schwandorf darum ersucht, dass bei Familie Särve in Weiden zwecks DNa-Abgleich ein persönlicher Gegenstand von Stephan Särve besorgt wird. Der Tote am Steuer des weißen Octavia konnte ja alle möglichen Papiere bei sich getragen haben. Doch erwiesen sich die DNA-Proben aus Weiden mit denjenigen vom Toten als identisch; der Verunglückte war also zweifelsfrei Stephan Särve und hinterließ in Weiden eine Frau und zwei Kinder im Grundschulalter. Hinweise auf gesundheitliche Probleme gab es nicht, so Pepík weiter; eine Herzattacke oder ein epileptischer Anfall konnten mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden; blieb einzig die Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit durch über zwei Promille Alkohol. Anzeichen für Manipulationen am Wagen konnten nicht gefunden werden; Kfz-Gutachter Homolka stellte fest, dass die Bremsen funktioniert hätten, wenn Särve das Bremspedal betätigt hätte. Aus dem persönlichen Umfeld in Weiden war zu erfahren, dass die Ehe sich in eine Art Wochenendbeziehung verwandelt hatte und auf die Scheidung zusteuerte, weil »Stephan sich in eine andere verliebt« hatte, eine unbekannte Andere, eine Tschechin. Nur sei »verliebt«, konstatierte Pepík abschließend, bekanntlich eher nicht der Zustand, in dem ein Mensch daran denkt, seinem Leben ein Ende zu setzen, es sei denn, die geliebte Person ist nicht zu haben; und er bat mich, ihm einen persönlichen Gegenstand von Markéta Lukášová zu besorgen und nach Pilsen zu bringen.

Unmittelbar nach dem Gespräch mit Pepík versuchte ich, Marek Lukáš zu erreichen. Vergeblich. Doch auch Marie Krtková konnte mit einem persönlichen Gegenstand dienen, ein Kamm, den Markéta bei ihrem letzten Besuch hatte liegenlassen. Ich nahm ihn an mich und fuhr damit zu Pepík. Der hatte unterdessen beim Staatsanwalt die Berechtigung erwirkt, Särves Wohnung in der Beranstraße zu öffnen, ob dort Spuren von Markéta nachzuweisen waren. Im Badezimmer. Oder am besten im Bett.

Dann herrschte eine Weile Funkstille zwischen Pilsen und Klatovy. Entweder war Pepík noch immer keinen entscheidenden Schritt weitergekommen, oder aber, im Gegenteil, er war so damit beschäftigt, Puzzleteil für Puzzleteil einzusammeln und zusammenzufügen, dass er uns darüber ganz vergaß. Bei uns herrschte unterdessen Normalbetrieb, der am Tisch der Verrückten in Gedichte floss.

Er gab es zu

er habe ihm

dem Freund aus Měcholupy

die Güllegrube geleert

den Inhalt dann aber

um der Geldersparnis willen

ausgekippt

und das in Klatovy

der Stadt voll Nelkenduft

Aber hatten wir in Klatovy wirklich noch Normalbetrieb? Bei uns hatte sich im Lauf des letzten Jahres die Welt verändert. Wegen unserer Facebookseite Polizeipoesie Klatovy. Zunächst war sie eine ganze Weile, vielleicht ein Vierteljahr lang, fast unbeachtet geblieben. Dann aber stiegen die »Gefällt mir«-Klicks stetig an, und ein weiteres Vierteljahr später bemerkten wir, dass jeder einzelne von ihnen zu einer fast unmerklichen Entwicklung beigetragen hatte: Wir wurden zu Polizisten mit Witz und Charme, ganz anders als die Dumpfbacken in den Polizistenwitzen.

Dabei konnten die Leute ja gar nicht sicher sein, dass die Polizeipoesie Klatovy wirklich von Polizisten geschrieben wird. Jeder kann so eine Facebookseite anlegen. Trotzdem, es war, als ginge ein gewisser atmosphärischer Druck zurück. Passanten grüßten uns, einfach so, und meist mit einem Lächeln, als säßen in den Streifenwagen gute Bekannte. Es war uns offenbar gelungen, mit Worten die Welt zu verändern. Wie unserem Nationaldichter Mácha, der den 1. Mai unwiderruflich zum Tag der Liebe machte. Und manchmal, wenn wir abends hier am Stammtisch saßen, auf dem Michal mittlerweile eine hölzerne Tafel mit der Aufschrift Stůl bláznů, »Tisch der Verrückten«, plaziert hatte, wenn wir uns trafen und bei Bier und Beton unsere Dienstepisoden in Gedichte verwandelten, redeten wir uns im Suff ein, dass es Leute gab, die den Wunsch hatten, einmal im Leben in Poesie verwandelt zu werden und dafür bereit waren, irgendeinen Blödsinn zu inszenieren.

Es weigerte sich

ein Mann von fünfzig Jahren

einer Dame die Zahnprothese zurückzugeben

die sie bei ihm

den Abend zuvor

vergessen hatte

Hinter dem Unfall des Deutschen bei Kokšín aber steckte eine Geschichte, aus der wir, wie Mácha, ein ganzes Epos hätten machen müssen, ein Epos, in dem die Liebe ein verschlingendes Feuer ist, das grausame Schatten wirft, rachedurstige, eifersüchtige.

Am späten Mittwochnachmittag rief uns Pepík an, um sich mit uns zu verabreden. Wir hatten am Busbahnhof gerade mit einem Taschendieb zu tun, der einen mitreisenden Fahrgast beklaut hatte, und als er uns seine Version des Vorfalls schilderte, wussten wir, dass auch er seinen Weg auf einen Bierdeckel und auf Facebook finden würde. Pepík klang ungewohnt mitgenommen. Seine Stimme schwankte zwischen Erschöpfung und Erregung. Der Fall der verschwundenen Markéta Lukášová sei geklärt, erfuhr ich von ihm, und im selben Atemzug fragte er, ob wir uns auf ein Bier treffen könnten, heute abend, am Tisch der Verrückten, nein, er fragte nicht, sondern sagte, wir müssten uns unbedingt treffen, und als ich ihn daran erinnerte, dass das U zlatého džbánu am Mittwoch Ruhetag hat, meinte er, »das ist ja das Gute. Sorgt dafür, dass wir trotzdem reinkönnen. Ihr kennt doch den Michal gut genug. Außer euch soll die Geschichte keiner hören, aber woanders als am Tisch der Verrückten kann ich sie euch nicht erzählen. In zwei Stunden bin ich in Klatovy. Und besorgt uns eine Grundlage beim Metzger Můůů. Ich hab seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«

Also fuhren wir noch während unserer Schicht beim Můůů vorbei, der von der Innung den Titel »Bester Metzger im Kreis Klatovy« bekommen hat und stets den Eindruck macht, als lächle er jedes Kalb und jedes Schwein, bevor er es schlachtet und zerlegt, mit einem ebenso freundlichen »dobrý den« an wie seine Kundschaft. Später dann den Lokalschlüssel zu bekommen, war kein Problem. Michal wohnt im selben Haus, direkt über seinem Lokal, und er weiß, wer für ihn da ist, wenn er einmal eine Parkkralle an seinem Wagen haben sollte.

Vorher vielleicht noch ein Wort zu Pepík. Wenn wir an unsere Schulzeit zurückdenken, Petr und ich, sagen wir uns jedes Mal, dass ihm jahrelang niemand das Abitur zugetraut hätte, und dann, als er in den Polizeidienst eintrat, niemand, dass er die Polizeiakademie in Prag-Hrdlorezy absolvieren würde. Nicht, weil Pepík zu dämlich gewesen wäre. Er war nur einer von denen, die bei Klassenarbeiten gern mal versehentlich »Name, Klasse« auf ihr Blatt geschrieben haben – statt eben »Jozef Poslušný, 10a«. Und er hat auch schon immer eine Menge gewusst – nur zu selten das, was er nach Ansicht der Lehrer hätte wissen sollen. Erst in der Abschlussklasse hat er sich zusammengerissen. Eigentlich hätte er permanent der Klassenbeste sein können, weil er sich wirklich alles merkt, was er irgendwann irgendwo gelesen hat. Deswegen kann er mit jedem ins Gespräch kommen. Ich hab‘s selbst oft genug erlebt. über die Jahre haben wir uns nie ganz aus den Augen verloren, sind immer wieder einmal auf irgendeiner Feier zusammengetroffen. Da konnte ein Archäologe vor ihm stehen, und er hat prompt über die Ausgrabungen zwischen Radnice und Rokycany referiert, als hätte er persönlich in der Erde gewühlt und prähistorische Knochen ausgebuddelt. Und daraus hat er seine Methode entwickelt. Pepík ist keiner von diesen scharfsinnigen Analytikern, wie sie in Krimis reihenweise vorkommen, aber bei Vernehmungen genial. Er hat noch jeden, der ihm gegenübersaß, geknackt, weil er mit jedem ein gemeinsames Thema findet.

Auch mit Marek Lukáš, dem Mann der verschwundenen Markéta Lukášová. Das heißt, mit ihm hatte er sogar zwei Themen. Beide hießen »Beton«, aber Pepík kann sich über Cocktails genauso unterhalten wie über Baumaßnahmen.

Als er gegen halb acht im U zlatého džbánu eintraf, sichtlich erschöpft, hatten Petr und ich schon alles vorbereitet. Auf dem Tisch der Verrückten wartete Presssack in Essig, mit Zwiebelchen und Petersilie – und der Essig, den sie bei Můůů verwenden, hat noch jeden wieder zum Leben erweckt, nur aufpassen muss man, dass man nicht zu tief einatmet, wenn man die Gabel zum Mund führt. Außerdem gab es utopencí, die bei Můůů eine Extradosis Knoblauch und Chili bekommen, Blutwurst, Leberwurst und eingelegten Bierkäse. Ich hab die ersten Biere gezapft, ein leichtes helles Lager aus einer Kleinbrauerei in Chudenice. Pepík hat sein Glas auf einen Zug geleert und uns dann die Geschichte mit den Worten angekündigt, dass er nach dem Geständnis, das er heute gehört hat, nicht weiß, wer ihm mehr leid tun soll – der Täter oder das Opfer.

»Aber erst einmal zurück zum Sonntag. In der Pilsener Wohnung von Särve hatte tatsächlich Markéta Lukášová ihre Spuren hinterlassen. Auch solche, die ganz eindeutige Rückschlüsse auf ihr Verhältnis zu ihm erlaubten. Bei Mlynár & Tasch wurde übrigens keiner der beiden an seinem Arbeitsplatz vermisst – beide hatten sich ab Montag, 4. Mai, Urlaub genommen, und man kann vermuten, dass sie es nicht anders gemacht hätten als jeder andere – nämlich den Feiertag schon als ersten Urlaubstag nutzen, vielleicht schon am Donnerstagabend aufbrechen, also genau in der Nacht, in der Särve verunglückte. An jenem Abend könnte also etwas passiert sein, was den Urlaubsplan durchkreuzt hat, und damit war klar, dass wir uns im Kreis derjenigen, die Markéta Lukášová zum letzten Mal gesehen haben könnten, um denjenigen kümmern müssen, dem das Urlaubsglück ein Dorn im Auge gewesen sein könnte, um Marek Lukáš. Wann er seine Frau zum letzten Mal gesehen hat, hab ich ihn gefragt. Er: ^Am Mittwoch.‹ – ›Wann genau am Mittwoch?‹ – ›Irgendwann am Abend.‹ – ›Und wo?‹ – ›In unserer Wohnung.‹ – ›Sie ist also nicht über Nacht geblieben?‹ – ›Nein.‹ – ›Warum nicht?‹ – Also, man musste ihm jedes Wort aus der Nase ziehen, und das fand ich komisch. Hätte er nicht aufgeregter, aufgebrachter sein müssen? über seine Frau, die ihn verlässt oder verlassen will? über Weiber im allgemeinen? Oder sich Sorgen machen, dass ihr etwas zugestoßen ist? Aber so kam er mir ziemlich schnell vor wie einer, der sich vorgenommen hat, so wenig wie möglich zu sagen, damit ihm nichts herausrutscht. Gleichzeitig hatte er eine Miene aufgesetzt, so starr wie in Marmor gemeißelt.

Ich hab also erst einmal nicht weitergefragt, wo er am Donnerstagabend gewesen ist und so fort, sondern hab gesagt: ›Sie haben bestimmt gut zusammengepasst. Ich hab mal gelesen, dass Paare, deren Vornamen mit denselben Buchstaben beginnen, die besten und langlebigs ten Beziehungen haben. Und Sie haben gleich drei gemeinsam. Marek, Markéta. Sind Sie schon lange zusammen?‹ Doch, das hab ich wirklich mal in irgendeiner Zeitschrift gelesen. Wahrscheinlich so ein amerikanischer Blödsinn. Aber ich hatte bei ihm damit einen Nerv getroffen, das war zu spüren. Er beantworte nur Fragen zur Sache, hat er gesagt. Im Klartext also, er will etwas herunterbeten, was er sich vorher zurechtgelegt hat.

Man hätte jetzt natürlich anfangen können, ihn in die Enge zu treiben, in Widersprüche zu verstricken. Ihn fragen, ob er einen gewissen Stephan Särve kennt. Wenn ja, wann er ihn zuletzt gesehen hat. Und so weiter. Aber ich hab mich dafür entschieden, ihn vorerst in Ruhe zu lassen, so zu tun, als ermittelte ich nur im Fall der Vermissten und müsse noch ein paar Fakten zusammentragen.

Als erstes bin ich zur alten Krtková, um mir ein bisschen was über ihre verschwundene Tochter erzählen zu lassen. Markéta und Marek, habe ich erfahren, kannten sich schon aus dem Kindergarten und gingen seit ihrer Gymnasiumszeit miteinander. Nach dem Abitur haben beide studiert, Marek Bauingenieur, Markéta Anglistik und Germanistik. Marek landete dann nach ein paar Umwegen als Projektleiter bei Mlynár & Tasch. Markéta, die eigentlich Gymnasiallehrerin werden wollte, hat sich freiberuflich als Dozentin für Englisch und Deutsch durchgeschlagen und war seit einem Jahr ebenfalls bei Mlynár & Tasch beschäftigt. Allerdings nicht in Festanstellung, sondern auf Honorarbasis. Als Tschechischlehrerin für ausländische Mitarbeiter, insbesondere Deutsche. Und einer ihrer Kursteilnehmer war eben jener Stephan Särve, der Unfalltote von Kokšín. Von dem wusste die Krtková nichts, aber vom Haus hat sie mir noch erzählt, das Marek und Markéta sich gekauft haben, ein zweihundert Jahre altes Bauernhaus, renovierungsbedürftig, in Kalište. Doch heuer im Frühjahr hätten sie richtig Pech gehabt, so viel Arbeit hatten sie schon reingesteckt, und dann hat es ihnen wegen der heftigen Regenfälle einen Teil des Fundaments unterspült.

Ich hab mir die Adresse von dem Anwesen geben lassen und bin gleich nach dem Gespräch hingefahren. Bestimmt eine Stunde lang hab ich mich dann auf dem Grundstück herumgetrieben, hab mich im Haus und in der Scheune umgesehen und bin sogar in den alten Brunnenschacht hinuntergestiegen.

Aber die einzigen frischen Spuren befanden sich an der Grundstückszufahrt und an der Hauswand, die man mit einer Holzkonstruktion unterfangen hatte, um einen Teil des Fundaments freizulegen und mit Beton zu verfüllen, Reifenspuren von einem LKW, ein Betonlaster wahrscheinlich, und Stiefelabdrücke. Die Arbeiten mussten erst vor wenigen Tagen stattgefunden haben. Von einem Nachbarn, einem Rentner, der ein paar Hundert Meter weiter unten am Zufahrtsweg wohnt, hab ich erfahren: am Donnerstag. Am Donnerstagspätnachmittag vor einer Woche ist ein Betonmischer zum Bauernhaus hochgefahren. Den ganzen Weg rückwärts, weil man da oben nicht wenden kann. ›Sicher Donnerstag?‹ hab ich den Alten gefragt, Navrátil hieß er. ›Ja, sicher.‹ Weil er noch genau wusste, dass er die Talkshow Všechnoparty geguckt hat und plötzlich wegen dem Motorenlärm kein Wort mehr verstanden hat.«

»Apropos Betonmischer«, hat Petr an der Stelle bemerkt, »du kennst Michals hauseigenes Tonic noch nicht. Warst ja schon lange nicht mehr hier. Hat er extra für Beton ausgetüftelt. So einen hast du noch nicht getrunken.« Ist aufgestanden, hinter die Theke gegangen und hat angefangen, uns drei Beton zu mixen. »Ausgerechnet Beton.« Pepík hat sein Bierglas angestarrt. »Mit Beton hat Marek den Särve abgefüllt am letzten Donnerstag. Nachdem er … nein, ich kann‘s euch jetzt noch nicht sagen. Schenk mir zum Beton noch ein Helles ein!«

Petr schenkte jedem von uns zum Beton noch ein Helles ein, und Pepík fuhr fort, uns von weiteren Zeugenaussagen zu erzählen, Aussagen von Mareks und Markétas Wohnungsnachbarn in der Hammerschmiedtova ulice in Klatovy, die meinten, sie hätten eine Auseinandersetzung zweier Männer zu später Stunde mitbekommen, die immer heftiger wurde, schließlich Schritte auf der Treppe, schnelle Schritte, von einer Person nur, wie auf der Flucht; kurz danach noch einmal Schritte treppab. »Um es kurz zu machen: Wenn man alle Aussagen verglich, konnte man als relativ gesichert ansehen, dass am späten Donnerstagabend kurz nach Mitternacht zwei Männer die Wohnung der Lukášs verlassen hatten, beide in Eile und mit einem gewissen Abstand voneinander, manche sprachen von ein bis zwei Minuten, manche von fünf. Manche sprachen von zwei abfahrenden Autos, manche nur von einem. Aber immerhin blieben genug übereinstimmungen, dass ich mir eine Hypothese vom Verlauf des Nachmittags und Abends basteln konnte, und auf dieser Grundlage habe ich Marek zur Vernehmung vorführen lassen. Es war klar, dass der neuralgische Punkt die Baustelle ist. Dort musste sich auch Markétas Wagen erst in den letzten Tagen noch einmal befunden haben. Der einzige Ort, an dem Marek und Markéta noch einmal gleichzeitig gewesen sein könnten, wo fernab von Augen- und Ohrenzeugen etwas geschehen sein könnte. – übrigens, genial, das Zeug! – Was hat Michal da bloß für ein Tonic gebraut? So einen Beton hab ich noch nicht getrunken.« Pepík nahm noch einen Schluck und schmeckte nach. »Wacholder … Ingwer …« – »Nicht Ingwer. Galgant.« – »Galgant? Thai-Galgant? Nein, echter Galgant wahrscheinlich … aber da muss noch was anderes drin sein … Gewürznelke könnte es sein … und als ob er noch ein paar Teeblätter mitkochen würde … wenig Zucker … großartig. – Beim Marek hat es am letzten Donnerstag auch Beton gegeben, als er den Särve abgefüllt hat. Aber anders gemischt. Mehr Becherovka. Weniger Tonic. Sonst wäre der Särve nicht dermaßen dicht gewesen. Und natürlich nicht mit einem solch hochwertigen Tonic.«

Wir registrierten beide, dass Pepík begann, sprunghaft zu werden. Fragten uns, ob er vielleicht schon zuviel erwischt hatte, was nach drei Bier und einem Beton eigentlich nicht sein konnte. Erst am Ende der Geschichte wussten wir, dass das Problem woanders lag. Es gibt Dinge, die man nur schwer über die Lippen bringt – selbst dann, wenn man sie unbedingt loswerden will und extra von Pilsen nach Klatovy gefahren ist, um sie den Kollegen zu erzählen.

Irgendwie haben wir Pepík wieder in die Spur gebracht, aber als er endlich von Mareks Vernehmung erzählte, waren wir immer noch eine halbe Stunde – oder zwei Bier und einen Beton – entfernt von der eigentlichen Geschichte. Weil Pepík noch einmal das Baustellengespräch rekapitulierte, das er mit Marek geführt hatte, und wir wurden über die Aushärtungszeiten diverser Betonmischungen – »Beton ist ja nicht gleich Beton!« – aufgeklärt, über die Unterschiede zwischen einhäuptigen und doppelhäuptigen Schalungen, oder vielmehr, in welchen Fällen, so auch auf Mareks Baustelle, eine einhäuptige Schalung verwendet wird, und über die Probleme, die ein Kollege von Pepík, ein gewisser Bohouš, beim Bau seines Wochenendhauses mit dem nicht tragfähigen Untergrund hatte, »kurz, ich habe über alles geredet, was mir zu Beton eingefallen ist, über Betonkorrosion und Betonaggressivität, habe Marek fortwährend Fragen zu seiner Hausrenovierung gestellt, zum Fundament, zur Expositionsklasse des Betons, den er verwendet hat, zur Nachbehandlung des jungen Betons, damit seine Gedanken nicht wegkommen von der Baustelle. Bis er vom Beton ganz weichgeklopft war.«

Marek habe, so Pepík, Markéta an jenem Tag gebeten, ihn von der Arbeit zum Haus in Kalište zu fahren, die Fundamentverschalung werde heute ausgegossen, gegen vier komme der Lastwagen, sein eigenes Auto aber sei in der Werkstatt. – »Was nicht stimmte. Er wollte Markéta nur dazu bringen, noch einmal mit ihm zu reden, dort, wo ihre gemeinsame Zukunft hätte liegen sollen. Er liebte sie ja immer noch. Wollte nichts unversucht lassen. Was in der Situation natürlich völlige Idiotie war. Markéta hatte ihr Herz längst an den anderen verloren. Natürlich kam es zum Streit. Der Streit eskalierte. Markéta wollte fahren, wollte Marek allein auf der Baustelle zurücklassen, er wollte sie festhalten, es kam zu einem Handgemenge, und entweder Markéta rutschte aus oder sie bekam einen Stoß versetzt – auf jeden Fall stürzte sie in die verschalte Grube, schlug so unglücklich auf, dass sie das Bewusstsein verlor. Vom Zufahrtsweg her näherte sich unterdessen schon der Lastwagen.«

Marek soll an dieser Stelle seinen Zustand als »völlig außer sich« bezeichnet haben, außer sich vor Wut und Angst, Wut auf die Frau, die er noch immer liebte, nicht mehr lieben konnte, die nun endgültig alle Zukunftspläne zerstört hatte, und aus Angst davor, er könnte sie getötet haben, während sich dröhnend der Lastwagen heranmahlte. »Aber dann, als er mir schilderte, wie er kurzerhand, als der LKW in Position stand, den Beton dort hineinlaufen ließ, in die Grube, auf deren Grund Markéta lag, fast wie ausruhend, mit dem Kopf gegen den Stein gelehnt, fing er an, Rotz und Wasser zu heulen. Dabei hatten wir den schlimmsten Punkt noch immer nicht erreicht.« Pepík griff nach seinem halbvollen Glas und trank es aus. Ich schenkte ihm ein neues Bier ein. Das fünfte? Das sechste?

Das Schlimmste sei gewesen, so erzählte uns Pepík weiter, dass Markéta, als sie schon dem Tod geweiht war, als nur noch Hals und Kopf aus der Masse herausragten, noch einmal zu Bewusstsein kam, die Augen aufschlug, einen Schrei ausstoßen wollte und nur ein Stöhnen aus dem fest umschlossenen Körper hervorbrachte – und das Marek so rasch erstickte, wie er nur konnte, indem er das Werk vollendete und Markéta unter dem nachlaufenden Beton verschwinden ließ, nachdem sie ihren unwiderruflich letzten Blick getauscht hatten. »Und das muss ein Moment gewesen sein wie … wie …«

Pepík brach ab. Ich glaube, wir alle drei wünschten uns in diesem Moment einen vollen Gastraum mit einem Gewirr von Stimmen, Gesprächen, in dem man sich verlieren kann; so aber blieb uns nichts übrig, als gegen die Stille anzutrinken. Nach Beton war allerdings keinem von uns zumute. Petr inspizierte das Schnapssortiment. »Birne«, sagte er schließlich. »Michal hat wieder diesen phantastischen Birnenschnaps da. Von dem Bauern aus Radkovice.« Es wurde ein doppelter für jeden.

»Völliger Wahnsinn«, sagte Pepík schließlich. »Ich meine, das Motiv kennt man ja: Wenn die Geliebte nicht mehr zu haben ist, dann soll auch kein anderer sie bekommen. Nach diesem Motiv sind schon unzählige Eifersuchtstaten begangen worden. Aber hier perfekt und dabei wie aus Versehen, in einem Anfall von Raserei: Die Geliebte als erstarrtes Wesen, an das keiner mehr herankommt, in Beton eingegossen.«

»Aber was war mit dem Deutschen? Warum ist der besoffen gegen die Mauer geknallt?«

»Ach ja, der Särve … auch das hab ich natürlich noch erfahren. Dass Stephan Särve an jenem Abend bei Marek gewesen war, konnte man sich ohnehin zusammenreimen. Er wollte, wie verabredet, Markéta mit ihrem gepackten Koffer abholen. Marek hat ihm gesagt, sie sei noch immer zu Besuch bei ihrer Mutter, und er hatte sogar vorher schon daran gedacht, von Markétas Handy eine SMS an Särve zu schicken mit der Botschaft, dass es später werden könnte. Sie könnten doch unterdessen so eine Art Versöhnungsbier zusammen trinken, ein Vorschlag, den Särve nicht ablehnen konnte, außer mit dem Hinweis darauf, dass er noch Auto fahren müsse – aber er konnte ja damit rechnen, dass Markéta nachher das Steuer übernehmen würde. Gut. Also tranken sie.

Särve war mir als ein besonnener Mensch beschrieben worden, bei dem es selten vorkam, dass er eins über den Durst erwischte, aber aus dieser Nummer kam er schlecht raus. Es sprach ja auch nichts dagegen, mit dem Ex seiner Geliebten friedlich bei einem Bier zusammenzusitzen und gut Wetter zu machen. Marek hatte unterdessen keinen anderen Plan, als ihn irgendwie hinzuhalten und ihn abzufüllen, in der vagen Hoffnung, dass sich irgendwas ergeben würde. Sich selbst hat er dabei mit abgefüllt. Die Situation ist eskaliert, als Särve, während Marek auf der Toilette war, Markéta anrief und plötzlich ihr Handy in der Wohnung klingeln hörte. Marek, der zwar daran gedacht hatte, von Markétas Handy aus die SMS zu schicken, hatte schlichtweg vergessen, das Ding außer Hörweite zu verstecken. Särve wollte immer dringlicher von Marek wissen, was mit Markéta ist. Es kam zum Streit und schließlich zum zweiten Wahnsinn an jenem Donnerstag. Der besoffene Marek hat dem besoffenen Särve, besoffen von Beton, den er mit immer mehr Becherovka und immer weniger Tonic gemixt hat, gesagt, dass er seine geliebte Markéta niemals bekommen wird. Hat ihm haarklein erzählt, warum er sie niemals bekommen wird. Dass Särve sie sich eigenhändig aus dem Fundament in Kalište herausmeißeln kann, wenn er sie wiedersehen möchte.«

Für den Rest der Geschichte brauchte Pepík nicht mehr lang. Die äußeren Umstände ließen sich schnell berichten: Nach einer Rangelei, bei der Marek zu Boden geht, verlässt Särve die Wohnung, rennt zu seinem Wagen und fährt los – mutmaßlich mit Ziel Kalište, um festzustellen, ob dieser Alptraum wahr sein kann. Ob er dort wirklich ein frisch eingegossenes Fundament vorfindet. Marek folgt ihm mit relativ kurzem zeitlichen Abstand, holt auf, weil er die Strecke besser kennt. Aber was geschieht dann an der Linkskurve in Kokšín? Sieht Särve keinen Anderen ausweg, seinem Verfolger zu entkommen, von dem er ja annehmen muss, dass der ihn zum Schweigen bringen will? Passiert ihm in diesem unvorstellbaren inneren Zustand schlichtweg ein Fahrfehler – weil sich ihm das innere Bild von der einbetonierten Markéta vor Augen schiebt? Beschließt er, ihr in den Tod zu folgen? Das wird kein Mensch jemals wissen.

Und nun sitze ich drei Abende später wieder hier, im U zlatého džbánu, am Tisch der Verrückten. Von den Kollegen ist noch keiner da. Ich denke über ein neues Gedicht nach. Nein, nicht über Marek, Markéta und den Deutschen. Der Taschendieb fällt mir wieder ein, den wir am Mittwochnachmittag am Busbahnhof verhaftet hatten, als Pepík anrief. Ein Bier nur, dann ist es fertig:

In genau dem Moment
so sagte er
sei er erwacht
als seine Hand
sich in der Tasche
des anderen befand

Für das Gedicht über die Liebe und den Wahnsinn müsste ich Beton trinken. Aber den bringe ich nicht mehr hinunter. Auch mit dem besten Tonic von Michal nicht.

Beton

4 cl Becherovka

Tonic Water

Crushed Ice

Becherovka (tschechischer Kräuterbitterschnaps) in ein Longdrinkglas oder einen großen Tumbler geben. Mit Tonic und Chrushed Ice auffüllen und umrühren. Je nach Geschmack eine Zitronenscheibe oder Zitronensaft hinzufügen.