Mit den Dritten killt man besser

HEIDI FRIEDRICH & ARND RÜHLMANN

Frau Löffler, Frau Löffler! Wir dürfen nicht wieder unsere Digoxin Tabletten vergessen!«

Freudig jauchzend, eigentlich ganz und gar nicht seniorentypisch, applaudierten Henriette und Clara-Maria nach Ruth Löfflers Kurzauftritt. Sie liebten die Pflegepersonalparodien ihrer Altersfreundin. Als ihr Lieblingsopfer hatte sie Schwester Beate auserkoren.

»Ruth, du bist vom Original ja nicht zu unterscheiden! Schwester Beate wie sie leibt und lebt: Jeden Abend die gleiche Ermahnung, die gleiche Prozedur. Ich bin mir sicher, sie schaut nur kurz in unsere Zimmer, um sich zu vergewissern, dass wir noch unter den Lebenden weilen.«

»Und dann dieser fürsorgliche Ton! Als hätte sie es hier nur mit Deppen zu tun. Die würde auch gut eine perfekte Kindergartentante abgeben!«

»Genau, sie müsste nur das Wort Digoxin durch Ritalin ersetzen! Wir Alten bekommen etwas fürs Herz, die Jungen für die Nerven, nur damit alle weniger Arbeit machen.«

»Und diese Lieder Tag für Tag! Furchtbar! Bin ich wirklich 78 Jahre alt geworden, habe drei Kinder großgezogen und einen Handwerksbetrieb gemanagt, nur um jetzt im Stuhlkreis mit alten Leuten »Alle Vöglein sind schon da« zu singen?« Ruth Löffler hielt es während der Schimpftirade des Damenkränzchens nicht mehr auf ihrem Stuhl, als wollte sie unterstreichen, dass sie alle drei auch noch zu ganz anderen Dingen fähig waren.

Die drei Freundinnen empörten sich gern über ihre Situation, Abend für Abend. Sie entzogen sich regelmäßig diesen »seniorenoptimierten Freizeitaktivitäten«, da sie sie in ihren Augen intellektuell beleidigten.

»Freizeitaktivitäten?«, fragte Henriette in die Damenrunde. »Aus was besteht denn der Rest unseres Tages? Arbeit, Ansprache, Abenteuer? Doch wohl eher aus Freizeitpassivitäten.«

»Genau! Rumsitzen, Rumliegen, Rum trinken!« Erschrocken schlug die ansonsten stets um Contenance und Kultiviertheit bemühte Pianistin Clara-Maria Meyer-Wieland die Hand vor den Mund. Nein, stopp! Letzteres wurde in der Seniorenresidenz »Immergrün«, einem ehemaligen, sehr abgelegenen Landgut, nicht gerne gesehen.

»Seniorenoptimierte Freizeitaktivitäten!«, spottete Henriette Carstens in ihrer typisch hanseatisch unterkühlten Art. Für die ehemalige Apothekerin klangen die Werbeslogans in der Hochglanzbroschüre der Residenz wie der zynische Versuch, dieses SOS Seniorendorf nach außen als einen Club Med für Silver Surfer darzustellen. Man versuchte jeden Anschein von Siechtum und Tod dezent, aber energisch zu vermeiden. Schwester Beate durfte eigentlich nicht »Schwester« und schon gar nicht »Pflegerin« genannt werden, sondern nur »Beate«. Den Altachtundsechzigern unter den Bewohnern war das aus der guten alten Zeit vertraut, als die Kinder ihre Eltern ja auch nicht Vati oder Mutti nennen durften, sondern nur Ulrike und Andreas. Unser rüstiges Damentrio fand das lächerlich, ignorierte es stets, nur um Schwester Beate zu ärgern. Gab es überraschenderweise doch einen Todesfall, wurde der Bestatter erst nach 22 Uhr einbestellt, um den Bewohnern der Seniorenresidenz den Anblick eines Sarges zu ersparen, was nicht immer gelang, da einige der älteren Herrschaften nachtaktiver waren, als es der Heim-, Pardon, der Residenzleitung lieb war.

Ruth Löffler machte es sich in ihrem Armlehnsessel am Fenster bequem, nachdem Henriette und Clara-Maria auf ihre Zimmer gegangen waren. Sie blickte hinaus in den weitläufigen Park mit seinem alten Baumbestand. Dieser lästige Husten. Verursachten ihn die Herzmedikamente oder die trockene Zimmerluft? Egal, Ruth lächelte. Heute bekam sie noch Besuch, wie an jedem Dienstagabend. Von ihrem Neffen Alexander.

»Alexander. Wie gut, dass wenigstens er in der Nähe wohnt und mich mit dem Nötigsten, nein, mit dem Allernötigsten versorgt!«

Alexander Löffler war ein junger Mann, auf den seine Tante mit Fug und Recht stolz sein konnte, auch wenn Ruth sich für seine akademischen Erfolge weit weniger begeisterte als für seine Leistungen auf anderem Gebiet.

Die meisten anderen Insassen, pardon: Residenten, die in den seltensten Fällen regelmäßigen Besuch von ihren Angehörigen bekamen, betrachteten seine allwöchentlichen Gastspiele mit Neid und Missgunst, kommentierten seinen Auftritt mit abfälligen Bemerkungen über seinen legeren Kleidungsstil oder die nachlässigen Manieren der heutigen Jugend und wünschten sich heimlich selbst einen solchen Neffen oder Enkel. Und mehr als einmal musste Ruth ihren Neffen aus den verschrumpelten Klauen der 94-jährigen Frau Morgenthaler befreien, die nur sehr schwer davon zu überzeugen war, dass es sich bei dem attraktiven jungen Herrn nicht um ihren endlich aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten ersten Gatten handelte.

Aufmerksame Beobachter hätten sich vielleicht darüber gewundert, dass die Damen Carstens und Meyer-Wieland über Alexanders Besuche fast genauso entzückt waren wie seine eigene Tante. Und diese aufmerksamen Beobachter hätten möglicherweise auch bemerkt, wie eine freudige Nervosität eben jene Damen befiel, die sich erst am nächsten Nachmittag wieder legen sollte. Aber wer kann schon aufmerksame Beobachtung erwarten vom überlasteten Pflegepersonal einer Seniorenresidenz, die sich verzweifelt um den Anschein bemüht, kein Altersheim zu sein. Alles, was den Betreuern auffiel, war die nicht zu überhörende Tatsache, dass es ungewöhnlich lustig zuging, wenn Ruth Löffler jeden Mittwochnachmittag ihre beiden Freundinnen zum Tee auf ihr Zimmer einlud.

Einmal hatte das vergnügte Gackern des Mittwochskränzchens derartig laut durch die Korridore der ehrwürdigen Residenz gehallt, dass Beate sich gezwungen sah, zu kontrollieren, ob die Damen sich nicht an schnapshaltigen Pralinen berauschten. Aber Fehlanzeige. Nur eine Schachtel edler Schokotrüffel und eine Plastikflasche mit billigem Supermarkt-Eistee standen auf dem festlich gedeckten Tischlein. Die Augen der drei Damen allerdings leuchteten, und ihre Wangen glühten rosig.

Beate (ob nun »Schwester« oder nicht) konnte ja nicht ahnen, dass Ruths Neffe sich bereits seit einiger Zeit neben seinem Architekturstudium etwas Geld dazuverdiente – als Barkeeper in einer der gefragtesten Cocktailbars der nahegelegenen Stadt. Und dort hatte sich alsbald herausgestellt, dass er beim Mixen von alkoholischen Getränken ein erhebliches Talent besaß. Und so befand sich in der Flasche, die er alldienstäglich seiner Lieblingstante überreichte mitnichten ganz normaler, billiger Eistee, sondern vielmehr feinster Long Island Iced Tea.

Der Long Island Iced Tea – laut Clara-Marias Urteil »das einzig Gute, dass die amerikanische Kultur seit den 70er Jahren hervorgebracht hat« – ist eine wohlschmeckende Mischung aus Wodka, Gin, Rum, Tequila, Cointreau, Zitronensaft, Zuckersirup und Cola. Mischt ein Anfänger diesen Cocktail, ergibt das eine unattraktive trübbraune Suppe mit terpentinähnlichem Geschmack, den wohl ausschließlich die Besucher von Flatrate-Saufgelagen ertragen. Hingegen von einem Fachmann gemixt, sieht er nicht nur exakt so aus wie Eistee, er schmeckt sogar ganz ähnlich.

Und Alexander war zweifelsohne ein Fachmann!

Und so deckte Ruth Löffler jeden Mittwochnachmittag ihren kleinen Tisch mit dem zarten Meißner Teeservice, das ihre Mutter damals aus Ostpreußen in den Westen geschmuggelt hatte, und füllte in die Tassen den harten Long Island Iced Tea, den ihr Neffe ins »Immergrün« geschmuggelt hatte. Selbstverständlich achtete sie dabei peinlich darauf, dass sie die Tasse mit dem kleinen Sprung sich selbst und keiner ihrer Freundinnen hinstellte. Anschließend drapierte sie noch die köstlichen Schokotrüffel, die Alexander auch niemals vergaß mitzubringen, auf ihrer kleinen silbernen Etagere. Die Plastikflasche, die inmitten dieses geschmackvollen Tee-Arrangements stand, störte zwar Ruths Stilempfinden ganz empfindlich, war jedoch zu Tarnungszwecken unentbehrlich. Und pünktlich um 16 Uhr standen Henriette und Clara-Maria in der Tür, bereit für ein weiteres Damenkränzchen, das erst zu Ende sein würde, wenn der letzte Tropfen aus der Schwindelflasche geleert war und jede der drei gehörig einen im Tee hatte.

»Gestatten Sie, Justus von Ahrens.« Vierzig Augenpaare starrten auf den eleganten Herrn, der plötzlich im Türrahmen des Speisesaals stand. Sechsunddreißig weiblichen Augenpaaren war in diesem Moment der fleischgewordene Traum eines späten, nie wirklich erhofften Glücks erschienen, die drei männlichen augenpaare blickten einem Gegner ins Gesicht, vor dem sie bereits in der ersten Sekunde kapitulierten. Ruth Löffler ahnte augenblicklich, dass mit dem Erscheinen dieses grauen Stars die ruhige, unaufgeregte Harmonie, die Freundschaft und der Frieden in ihrem Damentrio beendet sein würden.

»Herr von Ahrens ist ab heute unser neuer Mitbewohner in unserer wunderschönen Residenz, bitte empfangen Sie ihn recht herzlich!« Schwester Beate neigte grundsätzlich zu überflüssigen Bemerkungen, aber diese war sicher die überflüssigste ihrer gesamten Pflegerinnenkarriere.

»Herr von Ahrens ist nicht ihr Mitbewohner, sondern unserer!«

»Gott sei Dank! Im Gegensatz zu Schwester Beate haben wir ihn Tag und Nacht!«

Henriette und Clara-Maria erröteten und schielten verlegen zu Ruth Löffler hinüber. Kaum war dieser Mann auf dem Parkett erschienen, mutierten ihre Freundinnen zu frivol kichernden Backfischen. Wo blieb Clara-Marias Kultiviertheit? Henriettes scharfer Verstand? Ruth sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Eines hatte sie in ihrem 78-jährigen Leben gelernt: Je attraktiver ein Mann lächelte, umso mehr Ärger bedeutete er.

Ein erwartungsfrohes Stühlerücken begann, als der Grand Senior sich anschickte, einen freien Platz zu suchen. Justus von Ahrens ging nach einem leichten Schlaganfall am Stock, was seine Eleganz nicht schmälerte, im Gegenteil. Es verlieh ihm eine preußische Haltung, die Aura der »guten alten Zeit«, die keiner der Bewohner wirklich gekannt hatte, der aber alle nachtrauerten. Die 94-jährige Frau Morgenthaler wurde von einem solch immensen Enthusiasmus für den alten Adel übermannt, der ihr die Kraft verlieh, den Rollstuhl ihres langjährigen Tischnachbarn Herrn Jungbauer an den Nachbartisch zu schubsen, um sich auf ihre alten Tage eine bessere Hälfte zu sichern. Ruth blickte demonstrativ gelangweilt aus dem Fenster. Genau dieses Verhalten schien Justus von Ahrens zu reizen, und er steuerte gezielt den Tisch des trinkfreudigen Trios an.

»Gestatten Sie meine Damen, darf ich mich heute Abend Ihrer Gesellschaft erfreuen?«

Henriette und Clara schmolzen dahin. Ja, sie würden sich seiner Gesellschaft erfreuen, während sich Ruth Löffler den ganzen Abend betont spröde gab. Justus betrachtete diese Attitüde scheinbar als Herausforderung, widmete sich ihr zunächst mit besonderer Aufmerksamkeit und gab den Witwenflüsterer.

»Es gab ja bei Ihnen sicher auch ein Leben vor der Residenz, ach ja, da hat man noch viel von der Welt gesehen …« Clara-Maria schmiss sich regelrecht an ihn heran.

Er kannte diese Art, sie langweilte ihn. Mit Henriette ging es ihm ebenso. Justus wusste um seine Wirkung und blieb den beiden gegenüber höflich, aber zurückhaltend. »Natürlich. Gereist bin auch ich sehr viel, meist geschäftlich. Aber jetzt … Das Alter, und mein Herz will auch nicht mehr so recht … Mein Gott, ja, Singapur, Hongkong, Sydney, herrliche Städte, aber Europa bleibt halt doch …«

»Wie recht Sie haben, alleine die Kultur …«

»Ich habe ja lange in Florenz gelebt …«

Ruth zog erstaunt ihre Augenbrauen hoch. »Henriette? Lange in Florenz? Sind zwei Wochen lang?« Schweigend stocherte sie in ihrem Waldorfsalat herum.

»Florenz? Meine Familie besitzt dort ein Haus … Nein, was für ein Zufall, da finde ich direkt am ersten Abend eine Art Seelenverwandte. Darf ich Sie, meine liebe Henriette, demnächst einmal auf ein Glas Port einladen? Wie gerne unterhalte ich mich über …, ach Florenz!«

Clara-Maria holte tief Luft und warf Henriette einen vernichtenden Blick zu. Ruth gab sich weiterhin betont desinteressiert.

Justus hatte seine Strategie geändert. Da Ruth Löffler auf seine Zuwendung nicht reagierte, spielte er seine Trumpfkarte aus, die Eifersucht. Sie wirkte fast immer. Ein wenig Schmeichelei, ein wenig Komplizenschaft, schon gewann er Menschen im Handumdrehen für sich und jahrelange Frauenfreundschaften zerbrachen innerhalb von Sekunden. Justus war trotz seines Alters immer noch darüber erstaunt.

Am nächsten Tag, es war ein Mittwoch, erschien Clara-Maria nicht zum Tee. In den folgenden Tagen machte auch Henriette sich zunehmend rar. Und bereits am Samstag saß Ruth alleine beim Frühstück an ihrem Tisch im Speisesaal, weil ihre beiden Freundinnen es vorzogen, ihre Mahlzeiten auf den Zimmern einzunehmen.

Als sie am Nachmittag Clara-Maria in der Teeküche traf, tat die zwar, als ob nichts wäre und sie plauschten ein wenig, doch Ruths Aufforderung zu einer Partie Rommé schlug sie aus, da sie angeblich einen wichtigen Anruf einer entfernten Kusine erwartete.

Kurzentschlossen klopfte Ruth daraufhin an Henriettes Zimmer, um sie zu einem gemeinsamen Spaziergang einzuladen, doch die öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und erklärte ihr in kühlem Hanseatenton, sie fühle sich unpässlich.

Wenn Herr von Ahrens ihr jedoch zufällig begegnete, war er stets bester Laune und grüßte sie mit einem breiten Lächeln und galantem Diener. Einmal schien es Ruth sogar, als habe er ihr bei einer solchen Gelegenheit frech zugezwinkert, aber da sie dummerweise ihre Brille nicht aufhatte, konnte sie sich nicht ganz sicher sein.

Zum Beginn der nächsten Woche geschah es dann, dass Ruth Zeugin wurde, wie ihre beiden besten Freundinnen sich unter den denkbar ungünstigsten Umständen begegneten. Montags besuchte nämlich eine Friseurin die Seniorenresidenz und verwandelte die Cafeteria in einen Frisiersalon. Ruth hatte sich eigentlich nur eine Tasse Kaffee holen wollen und musste mitansehen, wie Henriette mit geröteten Wangen eiligen Schrittes in den improvisierten Salon huschte, wo ihr Clara-Maria entgegentrat, die offenbar gerade ihren Termin beendet hatte: Mit dramatischem Make-up und einer auftoupierten Föhnwelle nebst frischer Blauspülung wirkte sie, als sei sie geradewegs auf dem Weg zum Opernball.

Die beiden Rivalinnen hielten kurz in der Bewegung inne, in ihren Augen blitzte unverhohlene Feindseligkeit. Dann sahen sie durch die jeweils andere hindurch und stöckelten wortlos aneinander vorbei.

Ruth wusste nun, sie hatte tatsächlich verloren, Justus von Ahrens hatte gewonnen. Auf dem Absatz machte sie kehrt und stürzte in ihr Zimmer. Entschlossen griff sie zum Telefon und tippte mit zitternden Fingern auf den extragroßen Tasten Alexanders Nummer. Diesmal hatte sie eine besondere Einkaufsliste, die sie ihm durchgeben wollte. Und den Long Island Iced Tea, den durfte er dieses Mal ruhig noch ein bisschen stärker machen. Sie konnte einen guten Schluck dringend vertragen.

Wie erwartet saß Ruth am folgenden Mittwoch alleine beim »Tee«, den sie nur vorsichtig in kleinen Schlucken genoss, da Alexander diesmal tatsächlich eine Mischung zusammengebraut hatte, die den stärksten Seemann zum Schwanken gebracht hätte. Aber noch brauchte sie einen klaren Kopf und sichere Hände. Nach getaner Arbeit, da würde sie sich hemmungslos über den Rest in der Flasche hermachen.

Als Justus von Ahrens nach dem Abendessen den Speisesaal verließ, sah er am anderen Ende des Ganges, wie Ruth Löffler sich unsicher am Treppengeländer festklammerte und zu straucheln drohte.

Sofort stürzte er auf sie zu und griff ihr sanft stützend unter den Arm. »Um Himmels willen, Frau Löffler! Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Oh, ich fühle mich pudelwohl! Nur meine Beine wollen nicht mehr, so wie ich will«, keckerte Ruth.

Von Ahrens’ besorgter Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem breiten Grinsen. »Also, Frau Löffler, wenn ich nicht wüsste, dass es in diesem Hause eigentlich nicht sein kann, dann würde ich sagen, Sie haben einen Schwips!«

»Psst! Nichts verraten!« Kichernd legte sie den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich hatte ein bisschen zu viel Eistee!«

Aus der Ferne hörte man das leise Quietschen orthopädischer Schuhe auf dem Linoleum.

»Dann gestatten Sie mir bitte, Sie schleunigst hier wegzuschaffen, bevor Schwester Beate Sie in diesem Zustand erwischt, meine Liebe«, raunte von Ahrens ihr ins Ohr und hakte sich beherzt bei ihr ein.

»Gute Idee!« Ruth nickte und ließ sich von dem grauen Charmeur bereitwillig die Treppe hinaufführen. Sie bogen um eine Ecke, und noch bevor Ruth protestieren konnte, öffnete von Ahrens eine Tür und bugsierte sie sachte in sein Zimmer. »Hier hinein! Der Drache ist uns auf den Fersen.« Schnell schloss er die Tür hinter ihnen.

Wie zwei Schulkinder, die ein Lehrer beinahe beim Rauchen erwischt hatte, fühlten sich die beiden, als sie sich nun gegenüberstanden. Nach wenigen Sekunden des Schweigens brachen beide in schallendes Gelächter aus.

Als sie sich wieder beruhigt hatten, ließ Ruth ihren Blick durch von Ahrens’ Zimmer schweifen. Anscheinend hatte er nicht, wie sie selbst, eigene Möbel mitgebracht, sondern die Standardeinrichtung der Residenz übernommen. Im Regal stand eine beeindruckende Anzahl Bücher, auch wenn sie nicht in der Lage war, die Titel auf den Rücken zu entziffern. Und an der Wand neben dem Kleiderschrank hing eine Unmenge gerahmter Fotografien, die allesamt einen deutlich jüngeren Justus von Ahrens, manchmal auch in Begleitung anderer Personen, an den verschiedensten Orten der Welt zeigten. Vermutlich Souvenirs von seinen Reisen, dachte Ruth. Doch dann bekam sie eine Gänsehaut. Auf von Ahrens’ Schreibtisch erkannte sie ein altes Autogrammfoto von Clara-Maria mit Widmung – vor einigen Jahren hatte sie ihr selbst auch so eines geschenkt. Und am Garderobenständer entdeckte Ruth ein Seidentuch, das sie eindeutig von Henriette kannte.

Mit einem Schlag fühlte sie sich ernüchtert.

»Ich darf nicht hier sein.« Sie schüttelte energisch den Kopf und kniff entschlossen ihren schmalen Mund zusammen. »Henriette und Clara-Maria … Sie sind meine besten Freundinnen. Sie wären schrecklich böse auf mich.«

In von Ahrens’ Augen funkelte es verwegen, als er sie spitzbübisch anlächelte. »Wir brauchen es ihnen ja nicht zu erzählen.«

Nun schmolzen auch Ruths Lippen zu einem Lächeln dahin. »Ach du!«, hauchte sie und legte zärtlich ihre Hand auf seine Wange.

Die Seniorenresidenz lag bereits in tiefer Dunkelheit, nur aus dem Zimmer der Nachtschwester drang ein schmaler Streifen Licht, als es noch einmal an von Ahrens’ Tür klopfte. Es dauerte ein paar Minuten, bis er öffnete und vor sich Ruth Löffler erblickte, die ihn aus großen, traurigen Augen ansah.

»Entschuldige die späte Störung, Justus. Wir müssen reden.« Sie blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um, dann huschte sie hinein. Mit ernstem Blick fixierte sie den attraktiven, grauhaarigen Mann, der in seinem Flanellpyjama ein wenig an den in die Jahre gekommenen Cary Grant erinnerte. »Es tut mir leid, wahrscheinlich hältst du mich jetzt für eine alberne Gans. Aber so etwas wie heute darf sich nicht wiederholen.«

Von Ahrens schmunzelte. »Das wäre Aber jammerschade.«

»Mag sein.« Ruth seufzte. »aber es geht um meine Freundinnen. Ich darf sie nicht verletzen. Deshalb möchte ich, dass wir so tun, als hätte es den heutigen Abend nie gegeben.«

»Aber Ruth«, gab von Ahrens zurück, »glaubst du denn nicht, deine Freundinnen würden verstehen, dass das zwischen uns etwas ganz Besonderes ist? Und das du die einzige Frau hier bist, die mich interessiert?«

Sie senkte den Blick zu Boden. »Nein, Justus, das würden sie nicht. Deshalb darf das mit uns nicht sein.« Mit einem verlegenen Lächeln zog sie einen kleinen Teddybär hervor, den sie in den Falten ihres wallenden Morgenrocks verborgen gehalten hatte. »Aber ich möchte, dass du den hier als Andenken behältst. Auch wenn ich nicht bei dir liegen kann, der Teddy ist an deiner Seite.« Vorsichtig setzte sie ihn auf das Bett. »Und wenn du ihn nachts streichelst, dann weißt du, dass ich an dich denke.« Ruth kicherte nervös. »Ach du meine Güte, du musst mich ja jetzt für eine schrecklich sentimentale Kuh halten …«

»Ganz und gar nicht. Ich halte dich für eine wunderbare Frau,« wisperte von Ahrens und versuchte Ruth in seine Arme zu ziehen, doch die entwand sich seinem Griff.

»Bitte nicht, Justus. Leb wohl.«

Und beinahe geräuschlos schwebte sie auf ihren Pantoffeln davon.

Als Ruth Löffler am nächsten Morgen den Speisesaal betrat, saßen Henriette und Clara-Maria bereits an ihrem Frühstückstisch. Wie in alten Zeiten, bevor unser munteres Damenkränzchen auf Grund peripherer Reize entdreit worden war, dachte Ruth. Sie wollte den plötzlichen Gesinnungswandel der beiden schon mit einer spöttischen Bemerkung kommentieren, als sie die verweinten Augen, die zitternden Lippen und die Erschütterung in ihren Gesichtern bemerkte.

»Hat dich die schreckliche Nachricht auch schon erreicht?« Henriette versuchte, angestrengt Haltung zu bewahren.

»Ich begreife das nicht, gestern Nachmittag war doch alles noch so wundersch…!«

Clara-Marias Satz wurde durch das Eintreten Schwester Beates abrupt unterbrochen. Deren Miene verriet, dass sie keine frohe Botschaft verkünden würde.

» …muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Justus von Ahrens uns für immer verlassen hat. Er ist jetzt in einer besseren Welt!« Bestürzte Ausrufe, leises Weinen und Fassungslosigkeit erfüllten den Speisesaal der Seniorenresidenz. Auch wenn der Tod ein häufiger Gast war, selbst hier gab es keine Sterberoutine. Bevor Henriette und Clara-Maria endgültig die Fassung zu verlieren drohten, verließen beide überstürzt den Raum, um auf ihren Zimmern alleine um Justus zu trauern.

»Ja, ja, in unserem Alter steht man wirklich jeden Tag mit einem Fuß im Grab«, seufzte Ruth Löffler in Richtung Schwester Beate. Die nickte ihr wissend zu, obwohl sie in diesem besonderen Fall nichts wusste, gar nichts. Ruth Löffler allein kannte die wahre Todesursache. Es war nicht das Alter, das Justus von Ahrens dahingerafft hatte, sondern ihr Teddy. Der süße kleine Teddy, den sie im Morgengrauen, nach seinem offensichtlich erfolgreichen Einsatz, aus Justus’ Zimmer entfernt hatte. Eigentlich war auch nicht der Teddy die Tatwaffe, sondern der kleine Elektromagnet, den sie in sein abgewetztes Bäuchlein eingenäht hatte. Kinderleicht zu basteln. Man benötigte nur einen magnetischen Nagel, etwas Kupferlackdraht und eine 4,5 Volt Batterie. Die Bauanleitung hatte sie sich aus dem Internet besorgt. Sehr praktisch. Dort wird einem ja alles ganz genau erklärt, fast schon seniorengerecht: Bomben basteln, Ikebana-Blumenstecken, Origami-Serviettenfalten für ihre Tee Party. Und eben ein Elektromagnet. Ein kleiner Aufwand mit großer Wirkung, denn Justus Herzschrittmacher wurde von diesem Magneten, den er wohl idealerweise ganz nah an sein Herz gedrückt hatte, aus dem Takt gebracht. Etwas zu sehr aus dem Takt.

»Herrlich! Den ganzen Tag freue ich mich schon auf deinen Long Island Iced Tea! Ohne ihn würde ich hier ja keine zwei Wochen überstehen!« Henriette strahlte, Clara-Maria nickte beipflichtend und Ruth Löffler wusste, dass diese Ansicht von beiden nicht immer so konsequent vertreten worden war. Ein paar Wochen nach Justus überraschendem Ableben, das bei niemandem auch nur den leisesten Verdacht geweckt hatte, schließlich hatte der Arzt eine natürliche Todesursache attestiert, war wieder die gute alte Zeit eingekehrt. Die gemeinsamen Spaziergänge, die Rommé-Runden und natürlich als Höhepunkt der Woche, ihre Ice Tea Party. Entspannt nahm Ruth Löffler einen Schluck aus ihrer Meißner Tasse mit dem kleinen Sprung.

Plötzlich stand Schwester Beate im Türrahmen, in Begleitung eines etwa achtzigjährigen Doppelgängers von George Clooney.

»Darf ich vorstellen, Friedrich Satorius, unser neuer Mitbewohner!«

Clara-Maria und Henriette waren ihm bereits verfallen, bevor Schwester Beate ihren Satz beendet hatte.

Ruth Löffler seufzte – und streichelte zärtlich ihren Teddy.

Long Island Iced Tea

1,5 cl Tequila (weiß)

1,5 cl Wodka

1,5 cl Rum (weiß)

1,5 cl Triple Sec (oder Cointreau)

1,5 cl Gin

2,5 cl Zitronensaft

3 cl Zuckersirup

1 Spritzer Cola

Alle Zutaten außer der Cola mit ein paar Eiswürfeln kräftig im Shaker schütteln. In ein Longdrinkglas geben und nach Geschmack mit Cola auffüllen. Eine Orangen- oder Zitronenscheibe ist als Dekoration denkbar.