SABINE TRINKAUS
Im letzten Moment gelang es Ludger Müller, den gewaltigen Schrei, der sich seiner Kehle zu entringen drohte, zu unterdrücken. Er war kein Mann der lauten Leidenschaften, und darum war ihm klar, dass er sowohl Emma, die eben ein frisches Pils über den Tresen schob, als auch Ralli, der wie an jedem Abend auf der anderen Seite hockte und eben dieses in Empfang nahm, mit einer derart ungezügelten emotionalen Äußerung tief verstört hätte. Er kompensierte die Aufwallung, indem er die Hochglanzzeitschrift auf den Tresen pfefferte, in den Eiswürfelbehälter griff und sich eine Handvoll Kälte auf die zornerhitzte Stirn presste.
»Chef?« Emmas Stimme klang besorgt. »Alles in Ordnung?« Eine rhetorische Frage war das, denn sie arbeitete lang genug als Servierhilfe im Halben Groschen, um zu erkennen, dass gar nichts in Ordnung war.
»Gib ihm einen Schnaps«, ließ sich Ralli vernehmen, der nach der von Ludger so angeekelt von sich geworfenen Wonderful World of Cocktails gegriffen hatte, und nun den Anstoß erregenden Artikel studierte. »Er braucht was Starkes. Er hat Schiss.«
»Hab ich nicht!«, behauptete Ludger. Er warf die Reste der Eiswürfel ins Spülbecken, griff nach einem Geschirrtuch und trocknete das von Schmelzwasser benetzte Gesicht ab.
»Ach du heilige …«, murmelte Emma, die Ralli die Zeitschrift aus der Hand genommen hatte. Sie schob ihre Brille ein Stück höher, schüttelte den Kopf. »Herrgott, Ludger. Das ist doch Quatsch. Fräuleinwunder als Favoritin …«, zitierte sie die fürchterliche überschrift. »Dass ich nicht lache. Und überhaupt – Berenike Berengin – was ist denn das für ein Name?« Sie kicherte, aber es klang künstlich.
Albern, dachte Ludger, ein prätentiöses Zerrbild eines Namens, gleichsam buchstaben- und leider auch fleischgewordene Bedrohung von allem, was ihm heilig war.
Das war nicht viel. Ludger war ein bescheidener Mann. Ganz sicher keiner, den es drängte, seinen Namen in einer solchen Postille zu lesen. Seit vielen Jahren betrieb er seine Kneipe, die nichts gemein hatte mit den in diesem Blatt bejubelten Cocktailbars, in denen gockelhafte Barmänner ihrer aufgetakelten Kundschaft allzu bunte Getränke reichten. Und das war gut so, denn Ludger mochte den Halben Groschen, den er einst von seinem Vater übernommen hatte. Ein solider Zufluchtsort, wo rechtschaffene Menschen wie Ralli nach ihrem Tagwerk ein Herrengedeck genossen. Das Geschäft nährte ihn bescheiden, aber stabil, größere Ambitionen hatte er nicht. Es gab in seinem Leben nur eine Sache, eine einzige, die ihm wichtig war. Eine Gabe, ein Talent, ein Geschenk des Schöpfers, wie er in seltenen, pathetischen Momenten dachte. Etwas, für das er brannte mit einer ihm sonst fremden Leidenschaft. Etwas, das er beherrschte wie kein Zweiter, das ihn besonders machte, einzigartig auf dieser Welt …
»Gin Fizz«, sagte Emma, »da macht dir keiner was vor.« Sie deutete hinauf zu dem Regal, auf dem sich glänzende Pokale aneinanderreihten. »Du bist der König«, fuhr sie fort. »Du bist der Kaiser, ach, du bist der Sonnengott des Gin Fizz!«
Normalerweise hätte Ludger widersprochen. Aus Bescheidenheit, weil es sich so gehörte. Aber der Blick auf die Trophäen schnürte ihm erneut die Kehle zu. Dabei hatte Emma ja recht. Sein Gin Fizz war einzigartig. Ein Kuss für den Gaumen. Eine Wohltat für Körper, Geist und Seele, er war perfekt, vollkommen. Niemand reichte an ihn heran, wenn es um Gin Fizz ging. Niemand! Und obwohl, oder gerade weil das in seinem Berufsalltag eine eher untergeordnete Rolle spielte, war es ihm wichtig, dass das wenigstens einmal im Jahr anerkannt wurde. Einmal im Jahr fuhr er darum nach Bielefeld, um an der Gin-Fizz-Spiration teilzunehmen. Jahr um Jahr errang er den Sieg. Denn er, Ludger Müller, begriff und durchdrang die Seele und das Wesen des edelsten aller Cocktails wahrhaft und in aller Tiefe. Er war der Beste.
»Du bist der Beste«, sagte Ralli. »Du musst keinen Schiss vor dieser Berenike haben.«
»Ich hab keinen Schiss«, wiederholte Ludger. Es klang noch immer nicht überzeugt. Er dachte an das Gefühl, das ihn durchströmte, wenn er Gin, Zitronensaft, zuckersirup und Soda in feinster Abstimmung vermengte. Wenn seine Hände den Cocktailshaker umfassten, schüttelten, sanft und gefühlvoll, nicht zu kurz, nicht zu lang. Nahm irritiert zur Kenntnis, dass seine Hände in diesem Moment genau das taten. Eine übersprunghandlung, ein Reflex, aber es tat ihm gut. Er konzentrierte sich auf das Glücksgefühl, das ihn nun durchströmte, als er die Gläser mit seidiger Trübe und zarter Schaumkrone füllte.
Emma und Ralli griffen danach. Tranken. Aus Freundlichkeit, wie Ludger genau wusste, denn beide waren eigentlich nicht wirklich Cocktail-Typen, ihnen war ein Pils lieber. Umso dankbarer war er für ihr wohliges Seufzen, das theatralisch schwärmerische Rollen der Augen.
»Die rauchst du in der Pfeife«, sagte Ralli. »Das hier, das ist unübertrefflich!« Er griff nach seinem Pilsglas, spülte verstohlen nach. »Du musst keinen Schiss haben, echt nicht. Den Pott hast du sicher!«
»Absolut sicher«, bekräftigte Emma.
»Obwohl …«, sagte Ralli.
»Nichts obwohl!« Emma warf Ralli einen warnenden Blick zu. Sie wusste aus Erfahrung, dass sein Feingefühl im Nebel der Pilseinwirkung zuweilen ein wenig die Orientierung verlor.
»Obwohl was?« Ludger sah Ralli an.
»Nichts.« Ralli wiegte das trunkene Haupt. »Nichts, nur, ich dachte. Wegen Fräuleinwunder und so …«
»Fräuleinwunder, lächerlich!« Emma schüttelte das ondulierte Haupt. »Die ist kein Fräuleinwunder. Die ist eine Planschkuh!«
Ludger schämte sich ein wenig, weil ihn die Worte beruhigten. Als Kneipenwirt hatte er mehr als einmal Männer zu stammelnden Idioten mutieren sehen, unfähig der klaren Urteilsfindung angesichts des hemmungslos verströmten Liebreizes des angeblich so schwachen Geschlechts. Es war gut, dass Emma seine heimliche Einschätzung bestätigte.
Sie wirkte recht grob, die Berengin, ungeschlacht und plump. Keine, die die ausschließlich männliche Jury in Bielefeld dazu veranlassen konnte, die Freuden des Auges mit den Freuden des Gaumens zu vermengen.
»Planschkuh hin oder her, das macht es ja nicht besser.« Ralli hob sein Glas, trank einen großen Schluck. »Das Problem liegt ja ganz woanders. In der Gesellschaft, versteht ihr, das ist doch ein Politikum«, schwadronierte er weiter. »Gender und so. Liest man doch überall. Wenn man heute keine Frau ist, hat man ja gleich verloren. Schwul geht gerade noch, aber so Männer jetzt, also, solche wie Ludger und ich, da hat man doch keine Chance. Bei gleicher Qualifikation bevorzugt, Quotenregelung, da machste doch nix, da guckste doch in die Röhre. Frauenministerium gibt es, Männerministerium nicht, mehr muss man da doch gar nicht mehr sagen. Ich hab nix gegen Frauen, echt nicht, aber wenn es politisch korrekt ist, dass immer die Mädchen gewinnen, dann stimmt da doch was nicht, das ist doch so auch nicht gerecht, sag ich mal, jetzt.« Ermattet von der ebenso zusammenhanglosen wie für seine Verhältnisse langen Rede rülpste Ralli leise. »Machste mir noch eins?« Er hob sein Pilsglas.
»Nur, wenn du aufhörst, so einen Schwachsinn zu reden!«, sagte Emma spitz. Sie warf Ludger einen besorgten Blick zu, den er nicht recht deuten konnte. »Mach dir keine Sorgen, Chef«, sagte sie dann. »Du bist der Beste!«
Ludger nickte.
Sie hatte völlig Recht.
Er war der Beste. So war das. So musste es sein. So musste es bleiben.
Und darum gab es nur eine Möglichkeit.
Ludger würde gewinnen.
Alles andere war schlicht undenkbar.
* * *
Berenike Berengin starrte auf den Artikel, glänzendes, dickes Papier, bunte Bilder. Peinlich war das, ärgerlich sogar. »Fräuleinwunder der Cocktailszene« – Herrgott!
Sie blickte in den Spiegel, der an der Wand ihres Wohnzimmers hing. Sah eine gestandene Frau mittleren Alters. Kein Fräulein, schon gar kein Wunder. Sie hatte ihn so satt, diesen sexistischen Müll, der leider der Stachel war, der so tief in ihrem Fleisch saß. Sie dachte an die zahllosen Vorstellungsgespräche in all den schicken Bars und Hotels. An all die fadenscheinig begründeten Absagen. Daran, dass jede der von ihr anvisierten Stellen entweder an einen Mann oder – schlimmer noch – an ein schönes Fräulein von zuckrigem Liebreiz vergeben worden war, das halb so viel konnte wie sie, dafür aber doppelt so viel Holz vor der Hütte hatte.
Dabei war sie gut. Sie war sogar herausragend gut, und darum hatten Wut und Frustration sie derart angespornt, dass sie nun die zweifelhafte Ehre dieses Artikels genoss. Berenike hatte eine Mission – sie hatte beschlossen, es der Cocktailwelt zu zeigen. Das war kein Spaziergang, es bedeutete vielmehr, auf den Kriegspfad zu gehen. Aber sie war weit gekommen, sie hatte es fast geschafft.
Berenike hatte den diesjährigen Piña-Colada-Contest in London gewonnen und gleich darauf die Sex-on-the-Beach-Challenge in Helsinki für sich entschieden. Es folgte der Mojito-Concours in Paris, der Caipirinha-Campeonato in Madrid. Mit dem Sieg beim Martini-Mash in Bern hatte sie den vorletzten Schritt getan. Noch ein Sieg und er gehörte ihr. Der sagenhafte Doppel-Hattrick der Cocktailkampfszene.
Das war noch nie jemandem gelungen. Wenn das vollbracht war, dann würde man sich reißen um Berenike Berengin. Dann stand ihr die Cocktail-Welt offen.
Und sie war so nah dran!
Leider gab es ein Problem. Eines, das den Namen Ludger Müller trug, dieser komische Kauz, ein unscheinbarer kleiner Mann, der auf den wenigen Bildern, die es von ihm gab, genau so langweilig aussah wie sein Name klang. Ein Mann, der eine schäbige Eckkneipe in der Provinz betrieb, ganz sicher nicht wirkte wie einer, der ihr das Wasser oder gar den Gin Fizz reichen konnte. Leider wusste sie, dass dieser Eindruck trog, denn Müller hatte in den letzten Jahren jede, aber auch jede Gin-Fizz-Spiration für sich entschieden.
Berenike mangelte es nicht an Selbstvertrauen. Sie wusste, was sie konnte. Aber sie kannte auch ihre Schwächen. Und Gin Fizz war immer ihre Achillesferse se gewesen.
Ihr Gin Fizz war gut, keine Frage. Ein Kuss für den Gaumen, eine Wohltat für Körper, Geist und Seele. Er war herausragend. Großartig.
Aber er war nicht genial.
Und das lag daran, dass es ihr bis heute nicht wirklich gelungen war, das innerste Wesen des edelsten aller Cocktails wahrlich und in aller Tiefe zu begreifen oder gar zu durchdringen.
Und darum war da dieses Gefühl … ein schreckliches Gefühl. Denn so glorios ihr Triumph wäre, wenn sie den Doppel-Hattrick wider Erwarten schaffen würde, so furchtbar wäre andererseits das Scheitern auf der zielgeraden. Sie mochte kaum daran denken, wie all die Neider ihr Versagen öffentlich zelebrieren würden. Ein tiefer Sturz, der sie genau an den Punkt zurück bringen würde, an dem sie nie wieder sein wollte.
Die Frau, die es fast geschafft hatte. Fast.
Ein unerträglicher Gedanke.
Und darum gab es nur eine Möglichkeit.
Berenike würde gewinnen.
Alles andere war schlicht undenkbar.
* * *
Natürlich war Ludger ein Ehrenmann. Aber er war kein Idiot. Er wusste, dass verzweifelte Situationen zuweilen verzweifelte Maßnahmen erforderten. Und die Situation war verzweifelt. Das war ihm in den Tagen und Nächten, die er gegrübelt hatte, klar geworden. Die Tage hatte er damit verbracht, ein wenig zu recherchieren. Denn natürlich nahm er das, was Ralli des Abends so von sich gab, nicht ungeprüft für bare Münze. Seine Recherchen hinsichtlich der Gender-Debatte hatten allerdings Erschreckendes zutage gefördert und ließen letztlich nur einen Schluss zu. Ralli hatte Recht. Die Berengin würde ihm möglicherweise seinen verdienten Sieg rauben, aus Gründen, die nichts, aber auch gar nichts mit Gin Fizz zu tun hatten. Eine Erkenntnis, die ihn mit tiefer Empörung erfüllte, himmelschreiend ungerecht war das, konnte nicht hingenommen werden.
Ludger war ein Ehrenmann, ganz sicher, aber er würde sich nicht kampflos das nehmen lassen, was ihm zustand. Ganz genau die verzweifelte Situation somit, die die verzweifelte Maßnahme nach sich zog, jetzt, in diesem Moment, in diesem Raum, in dem morgen der Wettbewerb stattfinden würde. Er war allein. Er stand da, an diesem Tisch, der nicht sein Tisch war, vor Flaschen, die ihm nicht gehörten. Er sah sich um, lauschte in die Stille. Griff dann mit zitternden Händen nach dem Sirup der Berengin. Er schraubte den Deckel ab, ließ aus der Phiole, die er in der Tasche trug, ein paar Tropfen hineinfallen. Der Sud der grauzackigen Wiesenwagenwicke verschmolz unsichtbar mit der Flüssigkeit. Ein paar Tropfen nur. Ein paar Sekunden.
Dann war es geschafft.
* * *
Berenike mochte das traditionelle gemütliche Beisammensein am Vorabend des Wettbewerbs nicht. Sie hasste die verlogene Freundlichkeit, zu der die Kontrahenten sich untereinander zwangen, während die Jurymitglieder sich in joviale Gesten und Phrasen hüllten, genüsslich in ihrer Macht badeten und sich prächtig amüsierten. Eben darum war die Teilnahme leider unerlässlich, ein Fernbleiben wurde als Akt äußerster Arroganz und Feindseligkeit gewertet.
An diesem Abend fühlte sie sich noch ein bisschen schlechter als sonst aus Gründen, über die nachzudenken sie sich verbat. Lieber konzentrierte sie sich auf die Gewissheit, dass alles in Ordnung war. Sie würde gewinnen. Sie würde ihren Doppel-Hattrick bekommen.
Der Jurysekretär kam auf sie zu. Begrüßte sie strahlend, fasste sie dann am Ärmel und zerrte sie durch die Menge. Es dauerte zu lange, bis Berenike verstand, wen oder was er ansteuerte. Diesen kleinen Mann nämlich, in diesem grauen Pullunder, der in der Ecke stand, ein wenig verloren wirkte. Es war zu spät, sich zu wehren, als sie begriff, dass der Sekretär sie nun Ludger Müller vorstellen würde. Vermutlich hoffte er heimlich, dass sie aufeinander losgingen, wenigstens verbal, der Favorit und die einzig ernstzunehmende Herausforderin. Dass sie sich kleine Giftigkeiten mit ätzender Höflichkeit um die Ohren schlagen würden. Genau das, erkannte sie, genau das musste sie daher tun.
»Darf ich vorstellen …« Der Sekretär klang glücklich und gespannt. »Herr Müller – Frau Berengin … der berüchtigte Müller, die berüchtigte Berengin – aber Sie haben ja sicher schon viel voneinander gehört.«
Der Satz, den Berenike sich eben zurecht gelegt hatte – »Nein, tut mir leid, wie war noch gleich der Name …?« – erstarb, als sie in Müllers Gesicht sah. Eine Sekunde fürchtete sie, ohnmächtig zu werden.
Aber das wurde sie glücklicherweise nicht.
* * *
Ludger mochte das traditionelle gemütliche Beisammensein am Vorabend des Wettbewerbs nicht. Er hasste die verlogene Freundlichkeit, die angespannte Stimmung. Er hasste es zu plaudern, so zu tun, als sei er irgendwem hier freundlich gesinnt. Heute fühlte er sich noch ein bisschen schlechter als sonst aus Gründen, über die nachzudenken er sich verbat. Es war zu spät, sich den Kopf über verschüttete Milch zu zerbrechen. Oder über Tropfen der grauzackigen Wiesenwagenwicke, über diese Flasche, die im nunmehr verschlossenen Raum des Wettbewerbs darauf harrte, ihm zum verdienten Sieg zu verhelfen.
Außerdem ging etwas zutiefst Seltsames in ihm vor, Das hier war zweifellos der merkwürdigste Moment seines Lebens. Sein Gehirn fühlte sich an, als bestände es aus Butter. Ein durchaus angenehmes Gefühl, wie er verwirrt zur Kenntnis nahm, vor allem in Verbindung mit den wilden, gleichsam irgendwie zarten Hüpfern, die sein Herz in der Brust zu vollführen schien, während im Bauchraum allerhand umherflatterte.
Er räusperte sich. Versuchte, sich zu fassen, dem zu folgen, was der Jurysekretär gerade sagte. »So spannend war es wohl noch nie … große Ehre … ein Kampf der Titanen … ungeheuer aufregend für uns als Jury …«, hörte er und nickte. Während sein Blick auf diesem Geschöpf ruhte – grob und ungeschlacht, plump, hallten Gedanken aus einer anderen Zeit und Welt in seinem Kopf. Planschkuh? Oh Gott!
Es war nicht einmal so, dass er sich für diese abfälligen Gedanken schämte. Sie schienen ihm in dieser Sekunde einfach nur absurd, sinn- und haltlos. Denn über die Maßen verzückt starrte er in ihr Gesicht. Auf den Mund, diese bildschöne, perfekt geschwungene Oberlippe. Er lauschte dem Nachhall ihrer Worte, belanglose Worte, »Freut mich sehr«, verbunden mit dem Gefühl, das ihre Hand in seiner Hand entfesselte, eine zarte, weiße Hand, ein angenehmer Druck, dazu diese Stimme, wie tausend silbrige Glocken.
»Na, dann lasse ich Sie mal allein«, drang abermals die Stimme des Sekretärs zu ihm durch. Er klang irgendwie enttäuscht. »Sie haben ja gewiss allerhand zu fachsimpeln.«
Ludger nickte abwesend. Zwang sich, den Mann kurz anzusehen, sogar ein Lächeln brachte er zustande, bevor sein Blick zurückkehrte zu dem, was er den Rest seines Lebens immerzu und ununterbrochen ansehen wollte.
Berenike Berengin schien zum Glück ebenso wenig eloquent zu sein wie er. Auch sie starrte ihn einfach an, machte keine Anstalten, etwas zu sagen. Stattdessen kroch ein zartes Rot an ihrem Schwanenhals nach oben, huschte hinauf über die milchweißen Wangen bis zu den Augen, graue Augen mit grünen Sprenkeln, aus denen tausend winzige Sterne zu funkeln schienen.
Ludger versuchte, sich zusammenzureißen. Er fühlte sich wie ein Idiot. Er benahm sich wie einer. Und das wollte er nicht, auf keinen Fall, nicht jetzt, denn jetzt galt es, das Richtige zu tun. Aber das war schwer, es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn man mit jemandem sprechen sollte, um dessen Kopf rosa Schmetterlinge schwebten, die strahlend lächelten und mit Blumensträußen winkten.
Sie öffnete den Mund.
Unwillkürlich ruckte Ludgers Kopf ein Stück nach vorn, voll Entzücken vernahm sein heiß brennendes Ohr etwas, das ihm wie der Klang von Silberglöckchen erschien.
»Wir sollten von hier verschwinden«, hauchte Berenike. »Haben Sie Lust auf einen Spaziergang?«
Er griff nach ihrer Hand.
* * *
Berenike erwachte unter dem Schock totaler Orientierungslosigkeit, der sich allerdings umgehend in ein Gefühl ungläubiger Glückseligkeit verwandelte, als ihr Blick auf das mausbraune Haupt fiel, das neben ihr auf dem Kissen ruhte.
Sie unterdrückte den Juchzer, der in ihr aufstieg, als sie begriff, dass all das real war. Sie war hier. Mit ihm. Es war kein Traum gewesen.
Noch nie hatte sie so etwas erlebt. Noch nie hatte sie sich so gefühlt. Sie erinnerte sich dunkel daran, wie sie gemeinsam den Empfang verlassen hatten, eine Weile sprachlos herumgelaufen waren, sich fest an der Hand haltend. Wie sie sich irgendwann, ermattet vom überschwang des irrationalen Glücks, auf eine Parkbank hatten fallen lassen. Wie er sich geräuspert, sie angesehen hatte. »Ich liebe Sie«, hatte er ihr eröffnet. »Ich weiß, das klingt sehr albern, und es ist vielleicht ein bisschen zu früh, das zu sagen, aber …«
Sie hatte ihn unterbrochen. »Ich liebe Sie auch.« Und: »Sollen wir uns nicht lieber duzen?«
Dann hatten sie gelacht, und sie hatten sich geküsst, und die Lähmung von Zunge, Herz und Gedanken überwunden. Sie hatten auf der Bank gesessen, Stunde um Stunde, hatten geredet, über das Leben, über das Universum, über alles was zählte, und natürlich über Gin Fizz. Waren irgendwann, ermattet von der Größe des Gefühls, gemeinsam in sein Hotelbett gesunken.
Gin Fizz! Nun fiel ihr auch der Rest ein. Der Wettbewerb, der gleich stattfinden sollte, verdammt, die Gin-Fizz-Spiration. Sie erinnerte sich an ihren Siegeswillen, an das, was ihr am Tag zuvor noch so wichtig erschienen war. Weil alles anders gewesen war, und darum, nur darum bohrte sich nun ein glühender Speer in ihre Gedanken. Das fliedrige Federbohnenkraut, verdammt, die Sirupflasche, die nicht ihr gehörte, niedrig, heimtückisch, verdammt, wie hatte sie das tun können?
Sie musste es ihm sagen. Jetzt, jetzt sofort. Zumal er nun die Augen öffnete und sie ansah, kurz irritiert, dann mit einem Blick, der ihr zeigte, dass er genauso fühlte wie sie.
Einem Blick, der sich dann wandelte. Für eine Sekunde hätte sie schwören können, dass er ihre Gedanken las. Meinte, ihre Scham und ihre Angst in seinen Augen gespiegelt zu sehen.
Wenn er wüsste, dachte sie, wenn er wüsste, wozu sie imstande war … Wie konnte er sie dann lieben?
Gar nicht, begriff sie. Ein undenkbarer Gedanke, ganz und gar unerträglich.
Sie schluckte. Besann sich darauf, dass sie nie zuvor etwas derart Schäbiges getan hatte. Ganz sicher nie wieder so tief sinken würde. Und darum war es möglicherweise nicht nur akzeptabel, es war sogar vernünftig, ihm die Sache zu verschweigen.
Allerdings musste sie es in Ordnung bringen. Leider hatte sie keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollte. Der Raum mit Tischen und Flaschen war bis zum Beginn des Wettbewerbs verschlossen. Es war unmöglich, unbemerkt an Ludgers Sirupflasche zu kommen. Sie konnte versuchen, das Ding im Vorbeigehen vom Tisch zu fegen und zu zerschlagen. Aber wenn das nicht gelang, war alles verloren.
Berenikes Hirn raste. Formte und verwarf Gedanken.
Bis es ihr einfiel.
Es gab nur eine Lösung.
Er würde nicht gewinnen. Das war schändlich und furchtbar, es war nicht gerecht, aber es ließ sich nicht ändern.
Sie allerdings, sie würde auch nicht gewinnen. Das war kein Problem. Es war ganz einfach.
Fast hätte sie vor Erleichterung aufgeschluchzt.
Fast meinte sie, ihn erleichtert aufschluchzen zu hören.
Was für ein Gleichklang! Es war unheimlich. Aber unheimlich schön. Und kein Moment, solche Gefühle zu hinterfragen. Darum küsste sie ihn. Und er küsste sie. Dann küssten sie sich. Und dann brachen sie auf.
* * *
Sie würde nicht gewinnen.
Ludger stand an seinem Tisch, nestelte nervös an seinen Flaschen herum. Spürte dem Schmerz des Gedankens nach, der Verzweiflung, weil er das, was er angerichtet hatte, nicht mehr ändern konnte. Klammerte sich an den festen Vorsatz, es wieder gut zu machen. Den Rest seines Lebens würde er alles tun, um diese wunderbare Frau glücklich zu machen. So glücklich, dass am Ende nicht mehr zählte, was er ihr in einem Moment der unwissenden, egozentrischen Verblendung, gestern, als er noch ein anderer, ein halber und unvollständiger Mensch gewesen war, angetan hatte.
Ihre Nervosität zerriss ihm das Herz. Als sie den Raum betreten und zu ihrem Tisch gegangen war, war ihr Gang sonderbar schwankend gewesen. Um ein Haar hätte sie mit ihrer Handtasche seine Sirupflasche vom Tisch gefegt. Immer wieder warf sie verzweifelte Blicke in seine Richtung. Alles hätte Ludger gegeben, alles, um ihr den Sieg zu schenken. Aber es war zu spät.
Sie würde es nie erfahren. Hoffnungsvoll hämmerte der Gedanke in seinem Kopf. Nie im Leben würde sie ahnen, was für ein verabscheuungswürdiger Mensch er gewesen war, bevor sie in sein Leben getreten war
Sein Plan war nicht gerade genial, aber es gab keine andere Möglichkeit. Er warf einen Blick hinüber zu ihr. Sie hielt ihre Sirupflasche in der Hand, nestelte und fummelte daran herum. Er schluckte. Griff dann unauffällig nach seinem eigenen Sirup. Er sah sich um. Die Herren der Jury waren damit befasst, sich umständlich auf die bereitgestellten Stühle zu setzen und dabei verschwörerisch zu tuscheln. Berenike hatte sich weit vorgebeugt, machte sich an ihren Flaschen zu schaffen. Jetzt, dachte er, jetzt oder nie. Er ging in die Hocke, verschwand unter dem Tisch. Hektisch schraubte er seinen Sirup auf, träufelte mit zitternden Fingern das, was er träufeln musste. Eben noch rechtzeitig tauchte er wieder auf, denn nun erhob sich der Jurysekretär.
»Meine Damen und Herren«, sprach dieser gewichtig. »Mögen die Spiele beginnen.«
Ludger warf einen letzten Blick hinüber zu Berenike, die nun vollkommen ruhig wirkte. Dann griff er nach den Flaschen. Vermengte Gin, Zitronensaft, Zuckersirup und Soda in feinster Abstimmung. Er versuchte, sich weniger Mühe zu geben als sonst, aber es gelang nicht. Das spielte glücklicherweise keine Rolle, dachte er, als er den Cocktailshaker umfasste, ihn schüttelte, ein wenig sanfter und gefühlvoller als sonst, weil er an die vergangene Nacht dachte. Er füllte die für die Jury bestimmten Gläser mit seidiger Trübe und zarter Schaumkrone. Betrachtete sein Werk mit einer Mischung aus Wehmut und Scham, entschuldigte sich still und heimlich beim Gin Fizz, der all das natürlich nicht verdient hatte. Dann trug er seine Kreation auf einem Tablett zu den Herren hinüber, genau wie Berenike. Er mied ihren Blick, und sie den seinen.
Die Herren erhoben sich. Griffen nacheinander zu, um die Schöpfungen der beiden Teilnehmer zu verkosten. Gläser wurden gehoben, an die Lippen geführt, die Herren tranken, schluckten, einmal, zweimal, und Ludger, der wusste, was nun kommen würde, stockte für einen Moment der Atem. Er schloss die Augen. Dachte daran, dass alles bald vorbei sein würde.
Die Herren begannen zu stöhnen. Nicht lustvoll und genüsslich, sondern elend. Ludger riss die Augen auf, sah in grüne, verzerrte Gesichter. Er sah Schweiß, der von Stirnen perlte. Hörte erste Ausrufe des Schmerzes und der Qual.
Sonderbar war das, erschreckend, viel zu viel, denn der Sud der grauzackigen Wiesenwagenwicke löste zwar zuverlässig einen starken Brechreiz aus, bewirkte aber in keiner noch so starken Dosierung das, was sich nun vor seinen ungläubigen Augen abspielte. Die Herren wurden grüner und grüner. über ihre Gesichter floss der Schweiß nun in Strömen, sie fassten sich an die gerundeten Bäuche, röchelten. Dann gingen sie zu Boden, einer nach dem anderem, wanden sich in Krämpfen, zuckten, schnappten nach Luft.
»Notarzt!«, hörte Ludger Berenike kreischen. »Wir brauchen sofort einen Krankenwagen!«
* * *
Friedemann Wagner war seit vielen Jahren Richter. Er war außerdem strikter Anti-Alkoholiker, ein glühender Anhänger der Guttempler-Bewegung, denn ihm war hinlänglich bekannt, dass Alkohol die Wurzel allen übels war und den Geist der Menschen verwirrte.
In diesem Fall sogar seinen, wie der Prozess deutlich zeigte. Obwohl er natürlich stocknüchtern war, so wie seiner Kenntnis nach auch alle anderen Anwesenden. Trotzdem dauerte es einige Verhandlungstage, die verworrenen und fast fatalen Ereignisse, die sich auf der fragwürdigen Veranstaltung abgespielt hatten, zu sortieren und zu klären.
Dass letztlich keiner der Herren die Sache mit dem Leben bezahlt hatte, war, wie Richter Wagner in seiner Urteilsbegründung hervorhob, zunächst dem Umstand geschuldet, dass beide Beschuldigten umgehend und ohne jede Selbstschonung ihre Schuld eingestanden und vor dem eilig herbeigerufenen Notarzt ein umfassendes Geständnis abgelegt hatten. Als besonders glücklicher Umstand hatte hierbei zu gelten, dass besagter Notarzt über eine außerordentlich fundierte Sachkenntnis im Bereich der Giftkräuter verfügte.
Nicht jedem war schließlich geläufig, dass sowohl das fliedrige Federbohnenkraut als auch die grauzackige Wiesenwagenwicke allein und für sich genommen bei einem gesunden Erwachsenen lediglich ein kurzes, wenn auch hochgradig unangenehmes Unwohlsein zur Folge hatte. Dass beide Substanzen allerdings in Kombination zu einem letalen Gemisch verschmolzen, das mit Sicherheit zum Ableben der gesamten Jury geführt hätte, war den Wenigsten bekannt. Der Notarzt spielte den Umstand, dass der gute Ausgang letztlich nur seiner Sachkenntnis und seinem umsichtigen Handeln zu verdanken war, bescheiden herunter. Es sei, so erklärte er, nun einmal sein Beruf, Leben zu retten. Dennoch hob Richter Wagner deutlich hervor, dass es allein ihm zu verdanken war, dass es keine Toten gegeben hatte.
Eine Tatsache, die das milde Urteil, das Wagner letztlich fällte, durchaus beeinflusste. Er war allerdings auch lange genug Richter, um aufrichtige Reue zu erkennen, wenn sie ihm begegnete. Und dass die beiden Beklagten gänzlich frei jeder schädlichen Neigung waren, blieb niemandem im Saal verborgen. Die innige Verbundenheit des Paares, das sich während des gesamten Prozesses an den Händen hielt, der Umstand, dass jeder von ihnen unermüdlich versuchte, die ganze Schuld auf sich zu nehmen, rührte den Richter ebenso wie den Staatsanwalt und die Zuschauer, die sich erhoben und applaudierten, nachdem Wagner sein Urteil gesprochen und die beiden wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt hatte.
Als Friedemann Wagner wenige Wochen nach dem Prozess pensioniert wurde, überraschte er seine Gattin, die im Unterschied zu ihm keinerlei grundsätzliche Abneigung gegen Alkohol hegte, mit dem Vorschlag, doch einmal das von der Fachwelt gepriesene neue Mekka der Cocktailwelt zu besuchen. Es lag überraschenderweise mitten in der Provinz, trug den wenig glamourösen Namen Halber Groschen und verfügte selbstverständlich auch über ein reichhaltiges Angebot an alkoholfreien Cocktails.
Es sollte der erste von vielen Besuchen werden. Es war nicht nur der Gin Fizz – ein Kuss für den Gaumen, eine Wohltat für Körper, Geist und Seele, wie die Gattin des Richters nicht müde wurde zu schwärmen. Es war nicht nur die zauberhaft rustikale Umgebung. Nicht nur der nette Herr namens Ralli, mit dem Wagners Frau leicht angeduselt gern und leidenschaftlich über Gender-Fragen diskutierte, unterstützt von der reizenden Servierhilfe Emma, sofern es deren Zeit erlaubte. Ganz sicher war es mehr als der Alkohol, der den Geist der Anwesenden auf angenehme Weise verwirrte. Das, was den Aufenthalt im Halben Groschen so einzigartig machte, war rational nicht zu begreifen. Es hatte mit diesen beiden Menschen zu tun, die da hinter dem Tresen standen und unermüdlich Cocktails mixten. Mit einem Strahlen, wenn sie sich ansahen, einem Strahlen, das sich auszudehnen schien, sich unsichtbar und doch unübersehbar im Raum ausbreitete. Das dazu führte, dass Wagner den Impuls verspürte, nach der Hand seiner Gattin zu greifen und sie zärtlich zu drücken.
Es war, so dachte er zuweilen mit einem leisen Schauder zarter Romantik, es war so viel mehr als ein Gin Fizz.
Gin Fizz
4 cl Gin
2 cl Zitronensaft
1 cl Zuckersirup
10 cl Soda Water bzw. Mineralwasser mit viel Kohlensäure Eiswürfel (oder grobes Crushed Ice)
Die Zutaten mit einigen Eiswürfeln in den Shaker geben und kräftig schütteln. Die Mischung durch das Barsieb in ein Longdrinkglas abgießen und je nach Geschmack mit Schweppes Soda Water auffüllen. Mit Trinkhalm servieren.