LIROT & SCHLUETER
Die Luft am Tresen schien dicker zu sein als der Rauch aus Industrieschornsteinen. Die zwei Herren pafften ihre dritte kubanische Zigarre in Folge und machten auf die wenigen anderen Gäste der kleinen Hotelbar einen vielversprechenden Eindruck. Vielversprechend, weil sie innerhalb der nächsten Minuten von ihren Hockern zu rutschen drohten und der Barkeeper daraufhin endlich den Abtransport der beiden Schmauchenden veranlassen konnte. Aber noch war es nicht so weit.
»Na, wenn der Whiskeeyy jezz alle is, machn wer mitm Cocktail weida, hoast mi? Hihihiii.«
Der Stämmigere boxte seinem Trinkkumpan freundschaftlich in die Seite mit dem Ergebnis, dass der sich nur knapp auf dem Hocker halten konnte, indem er sich an dem Dekorationsdeckchen festkrallte, welches der Barkeeper geistesgegenwärtig durch beherzten Zugriff auf seiner Seite stabilisierte. So konnte er ein größeres Malheur verhindern.
»Was könnsn denn emfehln, Herr Oberförster? Hihihiiii.«
Der Barkeeper rollte mit den Augen. Dachte an die goldenen Kreditkarten der in feinen Zwirn gekleideten, trinkfreudigen Männer und reichte erneut die Getränkekarte. Den Herrn im dezenten dunklen Anzug und der weißen Lilie im Revers, der schräg gegenüber auf dem kleinen Eckbänkchen am Tresen Platz nahm, bemerkte zunächst niemand.
* * *
Wissen Sie, an sich ist allein der Ort eine Zumutung. Haben Sie den röhrenden Hirsch vorne am Eingang gesehen? Gleich bei der Rezeption? Ja, ich meine das lebensgroß nachgebaute Kunstunglück. Mag sein, dass der Innendekorateur, der dieses Haus verbrochen hat, so etwas originell findet. Ich finde es unsauber. Unhygienisch. Ich will gar nicht wissen, wie viel Ungeziefer sich im Laufe der Jahre in dem unechten Fell angesammelt hat. Wie viel Kleinkinderpopel, abgesondert von Händchen, die alles und jeden betatschen. Pfui! Sie ahnen, wie erleichtert ich war, mich auf meinem Zimmer nicht mit einer weiteren schmutzstarrenden Tierdekoration konfrontiert zu sehen. Kein Haus, das ich privat freiwillig betreten würde, wie gesagt. Schon allein der Name. »Deer & Ape«. Hirsch und Affe. Wie unelegant. Und plump. »King’s Arms«, »Crown & Fox«, so haben Hotels zu heißen.
Aber egal. Ich bin dienstlich hier. Wenn ich den Auftrag richtig interpretiert habe. Das ist manchmal gar nicht so einfach, wissen Sie. Manche Anweisungen werden so verklausuliert übermittelt, dass ich sie nur schwer entziffern kann. Und auch gar nicht weiß, woher sie überhaupt kommen.
Das macht aber nichts. Denn ich bin ein sehr gewissenhafter Mensch. Will sagen, dass es nicht schlimm ist, wenn zu Anfang mal etwas schiefläuft wegen der schwierigen übermittlung. Ich arbeite solange nach, bis der oder die Richtige tot ist.
* * *
Der Barkeeper, ein teigiger Bursche aus dem Ort, nahm es gelassen. Er stopfte sein schmuddeliges weißes Hemd in die Hose, das ihm beim Bücken nach dem Eiswürfel herausgerutscht war. Er ließ das mit Staubflusen bedeckte Eisstückchen ins Glas fallen – wenn keine Saison war, sparte die Geschäftsleitung am Putzpersonal – schüttete den abgestandenen Rest aus einer Martiniflasche darüber, stellte sich eine Olive dazu vor und trank. Es war nicht ungewöhnlich hier im Cotswolds Bezirk Gloucestershire im Südwesten Englands, sich schon vormittags an der Hotelbar einzufinden, wenn es draußen mal wieder cats and dogs regnete, so dass man auch mit Gummistiefeln knietief im Morast des Pfades versank, der ins Dorf hinab führte. Das Dorf mit dem Schloss aus dem zwölften Jahrhundert – und einer vermeintlichen neuen Touristenattraktion: ein großer Vergnügungspark namens »Oktoberfest«. Damit jeder Besucher gleich merkte, dass es themenmäßig nach »Bayern« ging. Diese spezielle Gegend im Land der Krauts. Deren Bewohner nicht nur lachten, weinten und fluchten wie jeder normale Erdenbürger, sondern auch jodelten. So hatte es der Barkeeper zumindest im Fernsehen gehört, zusammen mit seinem Hund, der daraufhin sofort den Bildschirm anbellte.
Vielleicht hätte der Investor des Parks mit der Einrichtung desselben aber lieber jemanden betrauen sollen, für den Neuschwanstein nicht das finstere Märchenschloss aus einer deutschen Vampirsaga war, in der sich der dunkle König Ludwigula seinen Opfern als Schwan getarnt vom See her näherte. Und selbst er, obwohl er nur ein Barkeeper war, hätte gewusst, dass das Hofbräuhaus nicht Sitz der bayerischen Landesregierung war. Auch wenn deren Vertreter zuweilen durchaus wie Stammgäste einer Erlebnisbrauerei wirkten, wie der Yellow Press zu entnehmen war.
Auf Facebook war der Park jedenfalls die Lachnummer schlechthin. Wobei einige der Spötter sicher bereit wären, sich das Desaster auch mal live anzusehen. Aber nicht zu einem Eintrittspreis von hundert Pfund. Und schon gar nicht in der Winterzeit bei Schnee oder ständigem Regen und erkältungsfreundlichen fünf Grad.
Egal, nicht sein Problem. Obwohl …, irgendwie ja schon. Denn wenn der Park floppte, blieb auch das Hotel leer, in dem er arbeitete. Sein Vater und Chef war da weniger gelassen, wünschte diesem Investor, ein Schulkamerad des alten Herrn, fast täglich die Pest an den Hals. Sogar von Auftragskillern war schon die Rede gewesen. Er zuckte dann nur die Achseln und reichte den Tee. So wie dem Herrn hier, der auf dem Eckbänkchen hockte, und für den er gerade eine geblümte Tasse mit seinem gebrauchten Wischlappen notdürftig polierte. Er wandte den Kopf und sah nach den zwei Schluckspechten im Bankerlook, die noch immer über der Cocktail-Karte brüteten. Deutsche. Womöglich am Vergnügungspark Beteiligte, die sich die desaströse Bilanz schön tranken.
»Do, i hoabs! Desisses!«, krakeelte es aus der Zigarrenrauchwolke heraus. »Woas willst?«, nuschelte der zweite Mann, dessen Kopf auf dem Tresen lag. Wie frisch zum Enthaupten unter dem Schafott platziert.
»Dös bestelln mir, hihi. Wemmer so weida saufa, simmer ruckzuck hinüba, hihihiiiii.«
Der nun wieder halb aufrecht sitzende Trunkenbold starrte auf die Karte, dorthin, wo der Zeigefinger seines Kumpels klebte. »Wosn dös füra Zeuch?«
»Zwoa moi Death in the Afternoon, Herr Oberförster! Hihihiiii!«, krakeelte sein Kumpan in Richtung Barkeeper.
Dass der Herr mit dem blassen Gesicht und der weißen Lilie im Revers in diesem Moment ebenfalls aufhorchte, bemerkte niemand.
* * *
Oha! Da fällt mir doch beinahe der Teebeutel aus der Hand. Death in the Afternoon? Die vereinbarte Tatzeit? Woher weiß dieser alkoholisierte Mensch davon? Ist das ein weiterer Hinweis? Durch meinen Auftraggeber, der sich, als Trunkenbold getarnt, ebenfalls am Tatort aufhält? Um meine Arbeit zu überwachen?
Das wäre aber sehr leichtsinnig. Finden Sie nicht auch? Keine Zeugen. So lautet das wichtigste Gesetz in meiner Branche. Und da ich grundsätzlich nur gegen Vorkasse arbeite …
Nein. So dumm kann mein Klient nicht sein. Der hat schließlich nicht irgendeinen dahergelaufenen Kleinstadtmörder, sondern einen Profi wie mich beauftragt. Einen Profi mit Adelstitel, wohlgemerkt. Verliehen vom Boulevard höchstselbst, der regelmäßig über meine Arbeit Bericht erstattet, und sich bei der Namensgebung für meine anonyme Person von dem einzigen Hinweis inspirieren ließ, den ich grundsätzlich an meinen Tatorten hinterlasse. Einen Teebeutel. Den ich mir selbst mitbringe. Denn manchmal werde ich auch an Orten tätig, an denen es garantiert keinen Tee gibt. So wie letztens, beim Auftrag dieser exzentrischen Dame, deren Gatte unbedingt bei einem seiner Reitausflüge vom Tod ereilt zu werden hatte. Und was soll ich Ihnen sagen, erwartungsgemäß gab es in dem Etablissement zwar alles, was das Trinkerherz begehrt, aber sogar das Aufbrühen von Wasser stellte für das dort zuständige Personal ein echtes Problem dar. Ich musste in der Tat erst mehrere Exempel statuieren, um der kurz darauf ebenfalls verblichenen Servicekraft – keine Zeugen, Sie erinnern sich – klarzumachen, dass meine Forderung nach einer Tasse, gefüllt mit heißem Wasser, durchaus ernst zu nehmen sei. Nein, Sie brauchen sich keine Sorgen machen, für derartige Kollateralmorde berechne ich selbstverständlich keine zusätzliche Gebühr. Meinen Teebeutel ließ ich dann, wie immer, exakt drei Minuten ziehen und verbrachte weitere drei mit dem Genuss des Getränks, während mein eigentliches Opfer sich ein letztes Mal mit einem der Pferdchen aus dem horizontalen Gewerbe vergnügen durfte. Dann weidete ich mich noch kurz an den überraschten Gesichtern, die wenige Augenblicke später nie wieder auch nur irgendeinen Ausdruck annehmen konnten. Den gebrauchten Teebeutel dekorierte ich gut sichtbar in der Blutlache neben dem Lotterbett. »Earl Grey schlug wieder zu«, las ich tags darauf erfreut in der Zeitung.
Und nun bin ich also hier. In diesem schäbigen Hotel. Den Zielort habe ich anhand zweier als Artikelnummern getarnten Zahlenreihen ermittelt, die mein Auftrag unter anderem enthielt: 51.6433 und -2.2033. Die Punkte und das Minuszeichen musste ich mir selbst zusammenreimen, da der auftrag in Form einer Quittung übermittelt war. Raffiniert, nicht wahr? Aber kein Problem für mich, da ich nicht nur Menschen um die Ecke bringe, sondern auch so denke. Also quer, um die Ecke, wenn mir das Wortspiel erlaubt ist. »Der alte Mann und das Meer«, lautete ein weiterer Hinweis. Passte auch gleich. Ich habe recherchiert, dass der Chef dieses Hauses bereits 64 Jahre alt ist. Um das »Meer« muss ich mich allerdings noch kümmern. Bis vor Minutenfrist hatte ich es ja so interpretiert, dass mein Opfer der Hotelbesitzer sein soll, dessen Leiche ich im nächstbesten Meer zu entsorgen habe, das heißt im Atlantik. Dass der zweite aus Worten bestehende Hinweis »Death in the Aternoon« schlicht bedeutete, mein Opfer am Nachmittag zu töten, bedurfte keiner weiteren Auslegung, da stimmen Sie mir sicher zu.
Hinsichtlich des Opfers bin ich nun aber etwas verunsichert. Womöglich war ich ein wenig voreilig, und meine Zielperson ist gar nicht der Hotelbesitzer, sondern eine Person aus dieser Bar. Wie sonst wäre es erklärbar, dass der betrunkene Mann dort drüben von der vereinbarten Tatzeit weiß?
Sehen Sie, das meine ich doch auch. Wirklich sehr umsichtig von meinem Auftraggeber, das Opfer entsprechend zu instruieren, damit auf jeden Fall der Richtige sein Leben aushaucht. Ich schätze Menschen, die mitdenken.
* * *
Der Barkeeper angelte nach der Flasche Absinth, entkorkte einen Champagner und begab sich in den Untiefen des schlecht beleuchteten Kühlschranks auf die Suche nach etwas Eis, das er zerstoßen konnte. Die schluckten was weg, diese beiden Deutschen, alle Achtung. Er verteilte die kärglichen Eisreste in den gebrauchten Whiskygläsern, kippte jeweils einen ordentlichen Schuss Absinth drüber und füllte großzügig mit Champagner auf, dessen Schaum über die Glasränder quoll, wie es auch bei zu viel Spülmittel im Becken passiert, wenn der Wasserhahn läuft. Ohne weitere Dekoration schob er die giftgrünen Gebräue seinen beiden Gästen hin, die nach den neuen Drinks griffen, sie auf ex in sich hineinschütteten und vernehmlich rülpsten. Wegen der Kohlensäure. Das Geräusch erinnerte den Barkeeper an die Laute in den Fahrgeschäften im Pleite-Oktoberfestpark. Nach einem Monat waren die Gäste ausgeblieben. Das Bier, die fettigen Schweinshaxen und die hohen Drehzahlen des Karussells passten einfach nicht zusammen. Vor der Presse hatten die Investoren irgendetwas gefaselt von »deutscher Spitzentechnik« und »fremdländischen Inkompatibilitäten.« Darüber hatte er nur den Kopf schütteln können. Als ob es irgendwo ein Land gäbe, dessen Bewohner Vergnügen dabei empfanden, in der Achterbahn vom Hintermann mit kaum verdauten Weißwurstbrocken bespuckt zu werden.
»Na, Ernstl, gneehm … *hicks* … poackma noch so a Pfütz’n? Hihihiiii!«
* * *
Oha! Ernstl? Habe ich richtig gehört? Ist das der Name eines der beiden Trunkenbolde? Das macht mich erneut stutzig. Laut meines Auftrages heißt mein Opfer nämlich auch Ernst. Ernest, um das Gebrabbel des Alkoholisierten mit der schweren Zunge zu präzisieren. Der Trinker, der die Tatzeit kennt, Sie erinnern sich. Und dessen Saufkumpan also Ernest heißt. Interessant.
Das verwirrt mich jetzt. Sehr. Gebucht war nämlich ein Einzelmord. Aber wie soll ich nun wissen, welche der zwei Schnapsdrosseln über die Klinge springen soll? Oder handelt es sich bei den beiden um Mitarbeiter meines Auftraggebers, die mich zum richtigen Opfer leiten sollen? Wer könnte dann das ziel sein? Der Barkeeper etwa? Oder doch der alte Mann, dem das Hotel gehört? Schwierig.
Gut, dass ich den Auftrag dabei habe. Einen Moment, bitte, ich sehe noch einmal nach …
… Verdammt! So etwas ist mir ja noch nie passiert! Das ist gar nicht mein Auftrag. Das ist tatsächlich eine Quittung. Die aus dem Buchladen neulich, in dem ich mir an meinem freien Tag ein wenig die Zeit vertrieben hatte. Auch wir Killer müssen mal ausspannen, wissen Sie. Ich kam ins Gespräch mit der Besitzerin, eine feine Dame mit Brille und Pagenfrisur, sehr belesen und sehr eloquent. Sie schwärmte mir von ihrem Lieblingsautor vor, setzte mich ins Bild über Leben und Wirken und schwatzte mir dessen berühmte Novelle auf: »Der alte Mann und das Meer«. Den Essay »Death in the Afternoon«, den sie zufällig auch gerade im Sortiment hatte, ließ ich mir ebenfalls einpacken. Die Arbeitsmoral dieses Ernest Hemingway hatte es mir angetan. Angeblich soll es ihm gelungen sein, in beiden Weltkriegen über hundert Soldaten zu töten. Eine schöne Bilanz für einen Schriftsteller, nicht wahr? Von dem kann ich sicher noch was lernen.
Aber nicht jetzt.
Es tut mir leid. Bitte glauben Sie mir das. Es ist mir wirklich schrecklich peinlich, dass ich offenbar meinen Auftrag verbummelt habe, schließlich haben Sie sich schon so darauf gefreut, mir bei der Arbeit zuzusehen. Doch keine Sorge, Sie sollen auf Ihre Kosten kommen. Ich werde improvisieren. Ein wenig übung schadet auch in meiner Branche nicht. Mal sehen, was ich hier tun kann. Lassen wir die beiden betrunkenen Hunnen vom Kontinent noch ihre grüne Brühe austrinken, dann geht es los. Meinen Tee habe ich bereits, die drei Minuten zum Ziehen des Beutels sind gleich um. Der Barkeeper ist nirgends zu sehen, anscheinend hat er schon Feierabend gemacht. Das wäre sein Glück. Sie erinnern sich: keine Zeugen.
* * *
Wenige Tage später auf der Titelseite der »Cotswolds Times«:
Schon mussten wir befürchten, dass unseren Cotswolds die Besucher nach der Saison ausbleiben. Der Oktoberfest-Park floppte wie einst Maggie Thatchers Charmeoffensive in Schottland. Jetzt aber haben wir eine neue Attraktion! Das »Deer & Ape« hat nach einer Blitzrenovierung seine Türen wieder geöffnet. Und ist spannender als je zuvor. Besuchen Sie das Hotel noch heute! Bewundern Sie das Ambiente! Lassen Sie sich vom alten Rupert das »Horrorzimmer« zeigen!
In britischer Tradition hat der Besitzer senior die Schankstube neu gestaltet: Auf dem königlichen Hirsch am Eingang reiten jetzt zwei Affen im Anzug. Fast möchte man zwei menschliche Gesichter wahrnehmen, aus denen die Augen förmlich herausquellen. Menschliche Gesichter, die den Schrecken des Todes widerspiegeln, die Münder weit geöffnet wie zum Schrei …
Death in the Afternoon
4,5 cl Absinth
gekühlter Champagner zum Auffüllen.
Hemingways Originalanweisung: »Gebe einen Jigger Absinthe in ein Champagnerglas und fülle mit eiskaltem Champagner auf, bis der Cocktail im Glas milchig durchscheinend schimmert. Trinke drei bis fünf davon bedächtig.«