THOMAS HOEPS
Das nennst du ›keine besonderen Vorkommnisse‹?« Meikels Gesicht färbte sich beim Blick auf das Smartphonedisplay tiefrot.
Bis eben war die Welt noch in Ordnung gewesen. In Ordnung wie niemals zuvor. Die Rückkehr seines Zwillingsbruders erwartend, hatte er auf der Außenterrasse der Kneipe die Zeitung gelesen, einen Latte geschlürft und sorgfältig die Seite Eins des Lokalteils herausgetrennt. Eine ganze Seite über ihren baldigen Vorgänger. Mit einem Riesenfoto des schelmischen Grinsemanns, der ständiger Gast in Imagefilmen und Fernsehberichten über das Städtchen war und dessen Gesicht auf allen Werbeflyern, Plakaten und Prospekten Möllns prangte. Nicht weniger als dreizehn Jahre lang hatte er als städtischer Angestellter den offiziellen Till Eulenspiegel gegeben, in seinem grünroten Wams Touristen und Einheimische bei Führungen und Hochzeiten bespaßt und schließlich sogar die Festspielbühne erklommen. Doch damit war jetzt Schluss, verriet die überschrift. Denn Till heißt künftig Sam.
Meikel hatte gerade beschlossen, dass dieser Artikel über das Ende einer Ära den Auftakt zu ihrem eigenen Pressearchiv bilden sollte, das die Karriere des neuen Till Eulenspiegel dokumentieren würde. Dann war sein Bruder gekommen und zeitgleich mit ihm die üble Nachricht.
Er starrte Fredo wütend an, der mit gesenktem Blick hochkonzentriert einen Fleck auf seinen giftgrünen Leggings bearbeitete.
»Business as usual, ja?«
»Ach, komm, Meikel. Sie übertreibt bestimmt wieder maßlos. Die SMS ist doch von der Müller, oder?«
»Du hast dem Bräutigam also nicht den Ring aus der Hand gerissen, als er ihn gerade der Braut anstecken wollte?«
»Ein ganz normaler Scherz! Alle haben gelacht!«
»Auch noch, als du den Ring in eine mannshohe Vase geworfen hast?«
»Das war Pech! Ich wollte doch nur so tun, aber dann hat eines der Blagen plötzlich aufgekreischt und er ist mir aus der Hand geflutscht. Entspann dich, Meikel, die Müller hat ihn ja wieder herausgefischt.«
»Ich hab die Nase so gestrichen voll von deinen Ausreden.«
»Lass mich mit der Müller reden. Ich hab sie schon letztes Mal um den Finger gewickelt.«
»Da hattest du der Braut aber nur ein Furzkissen auf den Sitz gelegt und …«
»Ich sag doch, die Dame ist etwas überempfindlich«, unterbrach ihn Fredo augenzwinkernd.
»… und nicht dem Brautpaar auf die weißen Lederpolster des Hochzeitsschlittens geschissen!«
Die wenigen Gäste auf der Terrasse, die das windige Aprilwetter längst in eine leichte Kältestarre versetzt hatte, schreckten auf.
Fredo beugte sich vor und flüsterte beschwörend. »Ich gebe es ja zu. Der Auftritt ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Aber daran sind einzig und allein die fiesen Patchworkgören dieses Brautpaars schuld. Ich sag dir, die wollten die Hochzeit in letzter Sekunde sabotieren. Und mich haben sie als ihr Werkzeug ausgewählt. Bis aufs Blut haben die mich getriezt, damit ich so richtig ausflippe. Du wärest stolz auf mich gewesen, wie lange ich cool geblieben bin, wirklich. Aber als sie nachher draußen ihren ganzen Frust an mir auslassen wollten, und als mich dann auch noch dieser idiotische und arrogante Bräutigam anschrie, ich solle die Ohren seiner wohlerzogenen Musterkinder in die Startposition zurückdrehen, Meikel, da ist einfach mein Temperament mit mir durchgegangen …«
»… und du hast deine Hose heruntergezogen und ihnen ins Cabrio geschissen«, vollendete Meikel resigniert, ehe er wieder losschrie: »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wie kommt man denn auf so was?«
Fredo zog eine Grimasse und wackelte mit dem Kopf, bis die Schellen an seiner Narrenkappe lustig klingelten. »Ich tue doch nichts anderes, als ihr mich geheißen habt«, sagte er mit merkwürdig hoher Stimme. »Bruder, in jeder zweiten Geschichte kackt Meister Till irgendwohin. Auf den Tisch, in die Pflaumen, wohin du willst. Da hab ich ihnen eben original den Eulenspiegel geliefert, ganz wie bestellt.«
Meikel senkte betreten vor so viel Dämlichkeit den Blick. Automatisch glitten seine Augen über die Zeilen der Zeitung vor ihm. Das war ein wirklich schöner Artikel über den scheidenden Inhaber des höchsten städtischen Narrenamtes. So überregional bekannt er auch war, lobte der Redakteur, nie nie nie habe er darüber geklagt, dass er in auftrittsfreien Zeiten als einfacher Briefbote und Grünflächenpfleger zu dienen hatte. Selbst die Häme, mit der Einheimische seine Arbeit im Beet regelmäßig zu kommentieren pflegten, habe der dereinst aus dem Osten Zugereiste stets tapfer ertragen. Was sie an diesem Till hatten, das würden die Neider spätestens im Sommer begreifen, wenn er bei den Karl-May-Spielen von Bad Segeberg niemand Geringeren als den ebenso berühmten wie allseits beliebten Westmann Sam Hawkens verkörpern werde.
Warum hatte dieser Narr da alles richtig gemacht, und sein Bruder machte alles falsch? Zum x-ten Male falsch. Und sah es dann noch nicht einmal ein. Den Mund hatte Meikel sich längst in Fransen geredet und so begann er unwillkürlich wieder mit Fredo zu sprechen wie mit einem kleinen Kind.
»Fredo, sind wir nicht jahrelang von Dorfmarkt zu Dorfmarkt gereist und haben Gemüsespiraldreher als Produkte aus der Weltraumforschung angepriesen, bis wir keine Stimme mehr hatten?«
Fredo nickte traurig.
»Und sind wir nicht monatelang als A-Hörnchen und B-Hörnchen verkleidet durch die Shoppingcenter dieser Republik gelaufen und haben uns von Grundschulkindern in den Bauch boxen lassen, bis wir kotzen mussten?«
Fredo seufzte.
»Haben wir denn nicht in beinahe jeder Provinzstadt beinahe alles getan, was nur mehr als einen Euro pro Stunde versprach? Und haben trotzdem dauernd Hunger gelitten, furchtbaren Hunger? Hast du das denn schon alles vergessen?«
Fredo schüttelte so vorsichtig den Kopf, dass die Glöckchen beinahe stumm blieben. Er sah Meikel an wie ein waidwundes Reh, das auf den Einschlag des finalen Schusses wartete. Und tatsächlich wurde Meikels trauriger Blick nun mit jedem Wort härter und der Ton seiner Stimme schärfer.
»Und jetzt, jetzt da der Öffentliche Dienst zum Greifen nahe ist – der Öffentliche Dienst, Fredo!!! Da wir die Probezeit so gut wie bestanden haben! Und wir nur noch am Montag rechtzeitig genug aufstehen müssen, um den Arbeitsvertrag zu unterschreiben, da scheißt du in einen gottverdammten Chevy!«
Zu jeder einzelnen Silbe hatte Meikel mit dem Zeigefinger auf die Zeitung eingehämmert, als wollte er sie durch die Plastikplatte bohren. Wo seine Fingerkuppe die meisten Abdrücke hinterlassen hatte, stand ein Interview mit dem Möllner Cheftouristiker, der Fragen zur Zukunft des personifizierten Wahrzeichens der Stadt beantwortete. »Unsere Lösung wird eine echte Eulenspiegelei sein. Sozusagen eine mit doppelgesichtigem Witz. Schon Mitte nächster Woche werden wir sie präsentieren.«
Meikel seufzte schwer auf, seine Stimme wurde wieder sanft.
»Fredo, seit Mamas Tod bringe ich uns beide nun schon durch. Das sind mehr als zehn Jahre. Und mindestens genau so viele Jobs haben wir verloren, nur weil du dich nicht im Griff hattest. Glaub mir, ich will dich nicht bestrafen. Du bist, wie du bist. Und du wirst immer mein Bruder bleiben. Aber von heute an kann ich nicht mehr für dich sorgen.«
Fredo wandte das Gesicht von Meikel ab, kaute an seinem Daumennagel und schaute verloren über den Marktplatz.
Weit hinten standen ein paar Touristen um den Eulenspiegelbrunnen herum und rubbelten vom glänzenden Zeigefinger des Narren ihr persönliches Stück Glück ab. Ein kräftiger fuchsfarbener Kater, um dessen Hals ein rotes Piratentuch geknüpft war, trat aus einer Seitengasse auf den Platz. Mit der selbstzufriedenen Ruhe eines langjährigen Herrschers wartete er, bis alle seine Erscheinung gewürdigt hatten, ehe er gemächlich eine Runde durch sein Revier antrat. Fredo lockte ihn mit einem Fingerschnipsen an und tatsächlich näherte sich der Kater ihm, doch zwei Meter entfernt stoppte er, drehte Fredo das Hinterteil zu und hob den buschigen Schwanz verächtlich in die Höhe.
Fredo begann unwillkürlich die Armlehnen seines Stuhls zu kneten. All diese Niederlagen, all diese Schmach. Seine Wangen brannten, sein Herz klopfte gegen einen tiefen Schmerz an, seine Augen glühten dunkel. Gepresstes Schwarzpulver, das sich plötzlich gegen Meikel richtete.
»Du hast immer für mich gesorgt? Du bist mein kleiner Bruder, Meikel! Es wäre an mir gewesen, für uns zu sorgen. Aber du hast mich einfach übergangen und die Führung übernommen. Ich erwarte Respekt, Meikel, Respekt!«
»Hör auf, Fredo! Ich kann diesen Paten-Scheiß nicht mehr ertragen! Das einzige, das ich häufiger getan habe, als dich aus der Klemme zu holen, war, mit dir den Paten Eins bis Drei anzuschauen und mir tagtäglich deine Lieblingszitate anzuhören.«
»Okay, Meikel, okay. Wenn es dir hilft, beleidige mich. Kleine Brüder dürfen das. Aber beleidige niemals unseren Vater! Den Paten zu schmähen, heißt Paps Erbe zu verspotten. Er war es, der unsere Namen in dieser Tradition wählte. Und er gab uns auf dem Totenbett den Auftrag, niemals die Fehler der Corleone-Brüder zu wiederholen.«
»Ja, und das war absolut krank! Ich hab es ihm gesagt, ich sag es dir – und zwar zum letzten Mal: Papa war nicht aus Sizilien und nicht aus New York, sondern aus Würzburg-Grombühl. Und er war weder Don noch Godfather, sondern Edeka-Marktleiter. Und du bist gerade einmal fünf Minuten älter als ich, Fredo, fünf Minuten. Also vergiss endlich diesen Quatsch!«
Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
»Was hast du vor?«, fragte Fredo.
»Ich muss los. Vielleicht erwische ich die Müller noch.«
»Ja genau, gehen wir! Vielleicht können wir ihr ja ein Angebot machen, dass sie nicht ablehnen kann.«
»Fredo, verdammt, ich habe gesagt, du sollst den Zitatescheiß lassen! Außerdem hatten wir ihr schon ein Angebot gemacht, dass sie nicht ablehnen konnte: zwei Narren zum Tarifgehalt von einem! Eineiige Narren! Ein unablehnbareres Angebot kann man ihr nicht machen.«
Er schwieg eine Weile. »Aber wenn ich die richtigen Worte fände, es geschickt anstellte, mit Charme und Witz und dem nötigen Quäntchen Selbstzerknirschung, vielleicht würde sie dann deine Entschuldigung annehmen.«
»Okay, absolut einverstanden, ich halte den Mund, nur du sprichst.«
»Du verstehst mich nicht. Am besten gehe ich als Fredo zu ihr. Und wenn sie dir verzeiht, werde ich ihr noch eine Zeitlang vorspielen, dass wir beide uns brav abwechseln. Aber sobald sie sicher ist, mit uns das große Los gezogen zu haben, wird ›Fredo‹ aus persönlichen Gründen kündigen und ich übernehme deinen Anteil am Job auch offiziell.«
»Du willst mich nicht nur im Stich lassen, sondern auch noch so tun, als wärest du ich? Das ist nicht fair, Meikel, wirklich nicht fair.«
»Fredo, du solltest nicht von Fairness sprechen, oder? Erinnerst du dich, was du mir beim letzten Mal versprochen hast, bevor ich dir diese letzte Chance gab?«
Fredo starrte auf die marmorierte Plastik-Tischplatte. »Noch ein Mal Scheiß, dann Tschüß – ohne Jammern.«
Meikel legte die Hand auf Fredos Schulter. »Du hast heute gezeigt, dass du den Eulenspiegel genau gelesen hast. Dann weißt du auch: Zwei Narren in einem Haus tun selten gut.«
Fredos Augen wurden feucht.
»Wir brauchen nur ein wenig Abstand voneinander, Fredo. Ich werde dich immer lieben. Und wenn sich die Dinge hier in unserem Sinne entwickelt haben, eines Tages, dann hole ich dich zurück, okay?«
»Das wäre schön«, sagte Fredo leise. »Solange du mich dann nicht mit Al Neri zum Angeln auf den See raus schickst.« Er hielt sich den Zeigefinger wie einen Pistolenlauf an die Schläfe, zwinkerte Meikel zu und drückte mit traurigem Lächeln ab. »Bämm.«
»Ach, Fredo, mein Bester. Wie Papa gesagt hat: Wir machen es besser als die Corleone-Brüder. Hast du eine Idee, wo du hingehen könntest?«
»Ich weiß nicht, nach Bottrop vielleicht. Im Moviepark suchen sie einen Two Face für die neue Batman-Show.«
»Das ist eine gute Idee, Fredo, wirklich eine sehr gute Idee. Wenn du dich mit dem Packen beeilst, bekommst du noch den 14:37er. Ich kann dich leider nicht zum Bahnhof bringen, ich muss die Müller suchen.«
Im selben Augenblick durchzuckten Angst, Wut und Panik Fredos Gesicht, ein beinahe epileptisches Schauspiel, das Meikel zum Wegsehen zwang. Als er erneut einen Blick wagte, wich gerade eine letzte Grimasse des Hasses aus Fredos Gesicht und wurde von einem bettelnden Lächeln ersetzt.
»Meikel, es ist schon Viertel vor eins und wir haben Freitag! Du glaubst doch nicht, dass die Müller jetzt noch arbeitet. Gönnen wir uns noch einen letzten Drink, ja? Ich lad dich ein.«
Meikel rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Lass uns keinen großen Abschied draus machen.«
»Mir zuliebe, ja? Ich kann mich doch gar nicht mehr an den Tag erinnern, an dem ich zuletzt ohne dich war.« Fredo winkte nach der Kellnerin. »Elke? Zwei Banana Daiquiri.«
»Fredo! Du – sollst – mit – dem – Paten-Scheiß aufhören! Fredo Corleone hat das Zeug getrunken, weil er eine Memme war und es nicht besser wusste. Du Fredo Köbler, du bist anders, du musst so etwas nicht trinken. Nicht mal Papa zuliebe.«
»Nein, ich mag ihn wirklich. Hemingway war auch ein Banana Daiquiri-Fan, das wusstest du nicht, was?«
»Sorry, Fredo, Hemingway hat den Daiquiri immer doppelt und ziemlich sauer getrunken, mit Grapefruitsaft, um genau zu sein.«
»Du hast schon immer alles besser gewusst, Meikel, was? Nur nicht, dass es meistens mehr als nur eine Wahrheit gibt. Fredo Corleone war keine Memme. Er war nur total unverstanden. Die Familie hat ihm nie eine Chance gegeben, sein wahres Talent zu finden.«
Meikel seufzte. »Mir war nicht klar, wie viel du über diesen Film nachgedacht hast. Okay, bleiben wir also noch etwas und trinken Banana Daiquiri.«
Fredo sprang auf, die Glocken an seinem Narrenkostüm klingelten wild. »Der wird uns guttun. Ich geh mal schauen, warum es so lange dauert.«
Meikel sah ihn fassungslos an. »Bleib doch, Fredo. Erst willst du unbedingt unseren Abschied herauszögern, dann geht dir plötzlich alles nicht mehr schnell genug.«
»Unsinn, Meikel. Ich will doch nur sichergehen, dass Elke nicht den Billig-Rum nimmt. Außerdem muss ich mal für kleine Königsnarren.«
Fredo verschwand mit einigen galanten Verbeugungen und kuriosen Sprüngen unter dem Lachen und Beifall der anderen Gäste in der Kneipe. Meikel nahm schnell sein Smartphone und tippte behände eine SMS an Ulrike Müller. »Liebe Ulli, alles klar, dauert nur was länger. Deine Neffen sollten Schauspieler werden, er war superwütend! :-)«
»Ich bin für Elke eingesprungen, die hat gerade Telefon«, erklärte Fredo, als er nach einer Weile ein Tablett mit zwei Banana Daiquiri herbeijonglierte und die Gläser servierte. Er nahm Platz, zog sich die Narrenkappe vom Kopf und hielt Meikel den Cocktail zum Anstoßen entgegen.
Meikel lächelte gequält, das Lächeln wich einem verblüfften Ausdruck, ehe sich über der Nasenwurzel plötzlich zwei tiefe, senkrechte Furchen bildeten.
»Na, so schlimm wird er schon nicht schmecken. Auf dein Wohl!«, sagte Fredo.
»Ich habe nur gerade gesehen, dass dein Glas voller ist als meins. Wie ich dich kenne, wirst du dir als perfekter Gastgeber jahrelang Selbstvorwürfe machen, wenn du das erst beim Trinken bemerkst. Das will ich nicht, lass uns tauschen!« Meikel lächelte maliziös und schob sein Glas über den Tisch.
Fredo überreichte Meikel seinen Cocktail mit einem Lächeln, in dem sich überraschung mit Ironie mischte. »Meikel! Ich kann’s nicht fassen. Jetzt zitierst du! Der Pate III Don Altobelli. Da waren zwar Cannoli das Geschenk, aber ich begreif’s trotzdem: Du glaubst wirklich, ich will dich vergiften?« Er lachte bitter auf, nahm Meikels Glas und trank den Banana Daiquiri in einem Zug.
Meikel lächelte fein, bevor er an dem Cocktail nippte. »Schmeckt gar nicht mal so schlecht. Aber wie auch immer, wir sollten jetzt aufbrechen.« Er leerte das Glas ebenso schnell wie sein Bruder und stellte es auf dem Tablett ab. Forschend sah er Fredo an. »Junge, du bist so blass. Ist dir vielleicht schlecht?«
»Nein, ich musste gerade nur an Pap denken, wie er da auf dem Sterbebett lag und sich quälte.«
Meikel nickte. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Ihm war etwas schwindlig zumute.
»Und wie du und Mutter mit diesem Typen vom Heuchelhof in unserem Wohnzimmer hockten und Paps Edeka an ihn verscherbelten, obwohl Pap noch nicht mal unter der Erde war«, fuhr Fredo zornig fort.
»Fängst du wieder mit dieser Geschichte an? Wir wollten doch im Guten auseinandergehen.« Der ganze Hickhack machte Meikel immer nervöser, er zog ein Taschentuch aus der Hose und tupfte sich die Stirn ab. »Mama konnte den Edeka nicht alleine weiterführen. Punkt. Aus. Ende.«
»Aber Pap wollte, dass ich ihn später übernehme.«
»Du, Fredo? Du halluzinierst! War da doch was in deinem Cocktail?« Meikel sah ihn lauernd an, obwohl es ihm selbst immer schwerer fiel, den Blick scharf zu stellen. »Du hättest den Laden doch innerhalb eines halben Jahres in die Pleite getrieben.«
»Das sagst du? Wo ihr nur vier Monate brauchtet, um die komplette Kohle in Mutters schickem neuem Strickladen zu verbrennen? Aber so machst du es ja immer. Weil ich angeblich der Dümmere bin, konntest du immer mir die Schuld in die Schuhe schieben, wenn wieder einer deiner ach so grandiosen Pläne scheiterte.«
Meikel lockerte den Knoten seiner Krawatte und nestelte an seinem oberen Hemdknopf herum.
»Und kaum funktioniert einmal etwas, willst du mich zum Teufel jagen. Mit der Müller gemeinsame Sache zu machen … Die Idee ist dir zwar nur gekommen, weil du auf propere Frauen in engen Kostümen stehst, trotzdem: Respekt! Ich habe es erst heute endlich gecheckt. Aber diese Blagen und ihr Vater waren einfach viel zu weit drüber. Das und die heimlichen aufhetzenden Blicke der Müller. Da riecht selbst der blöde Fredo Lunte. Also habe ich brav getan, was man von mir erwartet hat. Aber danach habe ich das angeblich frischgebackene Ehepaar im Internet gegoogelt. Dumm, dass sie auf ihrem Facebookprofil aller Welt Bilder von ihrem romantischen Dinner zum fünften Hochzeitstag zeigen. Und dass die Müller die beste Freundin der sogenannten Braut ist. Meikel, was habe ich dir angetan, dass du ein komplettes Schauspiel aufführst, um mich loszuwerden?«
»Es war nur ein Test.« Meikel atmete schwer. »Wärest du cool geblieben, hätte ich dich nicht rausgeworfen. Ich musste herausfinden, ob ich mich endlich auf dich verlassen kann. Geht aber nicht. Du bist so voller Wut und Hass. Das ist mir jetzt klar und auch, was du mit ›es anders machen als die Corleone-Brüder‹ meinst. Nicht das, was Papa meinte. Er meinte Frieden, du Krieg. Ein Krieg, in dem endlich einmal Fredo Meikel besiegen soll.«
Fredo lachte bitter.
»Armer Meikel. Ich wollte dich auch nur testen. Wir sind halt eineiige Zwilinge, was? Mir war klar, dass du fürchten würdest, ich könnte dich vergiften. Aber in deinem Glas war nichts als Banana Daiquiri. Hättest du es doch einfach nur abgelehnt, ich hätte meines mit dem Gift umgestoßen und wir wären in Frieden auseinandergegangen. Aber du hast es mir eiskalt herübergeschoben und geradezu gebettelt, meins mit dem Gift zu bekommen. Ich tu doch immer, was du willst.«
»Ich brauche einen Arzt«, ächzte Meikel.
»Nein, du brauchst nur das Gegenmittel.« Fredo zog aus einer Seitentasche seines Kostüms ein Fläschchen hervor. »Glaubst du wirklich, ich lasse dich sterben, Bruder? Schaffst du es bis zum Waschraum? Du musst dazu viel Wasser trinken.«
Meikel nickte dankbar, Fredo hatte eben doch ein zu weiches Herz, um es bis zum Äußersten kommen zu lassen. Er riss sich zusammen und gelangte, ohne zu schwanken, in die Kneipe.
Auf der Toilette half ihm Fredo, Jacke und Hemd auszuziehen, es war Meikel so furchtbar heiß. Er sank zu Boden. »Das Gegenmittel«, stöhnte er.
»Ach Meikel, was ist Mittel, was Gegenmittel? Wer ist Fredo, wer Meikel? Wie du gesagt hast, wir brauchen wohl Abstand voneinander, um das zu erkennen.«
»Du hast mir versprochen …«
»Ich halte mein Versprechen. Ich lasse Meikel nicht sterben. Ich lasse mich sterben. Ganz wie im Paten, Fredo stirbt, Meikel lebt.«
Fredo streifte seinem mittlerweile ganz und gar wehrlosen Bruder die Hose ab und ersetzte sie durch seine grünen Leggings. Den Wams seines Narrenkostüms legte er daneben.
»Wie sehe ich aus?«, fragte er, nachdem er Meikels Kleidung angezogen hatte.
Meikel hechelte hektisch.
Fredo beugte sich zu ihm herunter und tätschelte ihm die Wange.
»Ja, ich habe meinen Till gelesen. ›Es ist besser, dass dich die Raben fressen, als dass sie mich gefressen hätten.‹ Kennst du, oder? Und auf die Müller werden die Raben bestimmt auch schon ganz scharf sein.«
Meikels Atmung setzte aus, ein plötzlicher Krampf, der den Körper nach oben warf, noch ein letztes Röcheln, das sich wie Geröll aus den tiefsten Tiefen seines Körpers erbrach, dann endlich Stille.
Fredo richtete sich auf, schaute in den Spiegel und probierte einige Grimassen aus, bis er eine gefunden hatte, die ihm passend erschien. Er riss die Tür auf.
»Einen Arzt, schnell einen Arzt, Fredo ist zusammengebrochen.«
Die Tränen kamen wie von selbst, als er sich neben seinen Bruder hockte. Er legte vorsichtig seine Fingerspitzen auf Meikels Handgelenk.
Der Narr war tot.
Banana Daiquiri
5 cl Rum (weiß)
cl Bananensirup
cl Limettensaft
1/2 gut gereifte Banane
Alles ergänzt um hinreichend Crushed Ice in einem ordentlichen Elektromixer auf höchster Stufe verwirbeln, bis sich eine sündhaft cremige, feinpürierte Konsistenz ergibt. Serviert wird der Banana Daiquiri in einem Cocktailglas. Spielkinder dürfen zur Deko eine Bananenscheibe auf den Rand setzen. Variationsfreudige versuchen es mit mittelaltem braunem Rum und warum davon nicht auch gleich mal 6 cl.