ANGELA EßER
Blut. Immer wieder Blut. Jedes Mal, wenn Marie an den Tod dachte, sah sie Blut. Dabei gab es keine vernünftige Verbindung. Und auch keine Erklärung. Ihre Mutter war an Krebs gestorben, ihr Vater an einem Herzinfarkt, und ihre Großmutter vegetierte bis zu ihrem Tod mit Demenz in einem Pflegeheim. Wo war da Blut? Nirgendwo. Und selbst bei Kaschinski nicht. Damals.
Sie stieg aus dem Taxi und zog ihre Jacke aus. Strahlend blauer Himmel, ein leichter, warmer Wind und eine Wolke aus Teer, Kerosin und Autoabgasen. Vermischt mit einem zarten Geruch von Sonnenschutzmittel. Familien, die mit fröhlich quietschenden Kindern in das Münchner Flughafengebäude eilten. Pärchen mit Rucksäcken, dazwischen ältere Ehepaare, die sich noch mit Koffern ohne Rollen abquälten. Alle hasteten an ihr vorbei. Alle in Eile. In der Angst, irgendetwas zu verpassen, wo es nichts zu verpassen gab. Mit Sicherheit waren alle viel zu früh am Flughafen. Wie sie.
Der Unterschied war, dass sie nicht in einen Sommerurlaub flog. Langsam ging Marie zum Check-in-Schalter, erledigte die übliche Prozedur. Genoss jeden einzelnen Moment. Beobachtete die Frau der Fluggesellschaft, wie sie geschäftig die Computertastatur bediente. Sie war viel zu stark geschminkt und roch aufdringlich nach einem schweren Parfüm. Weniger wäre mehr gewesen, dachte Marie. Nein, einen Koffer hatte sie nicht. Wofür auch? Im Handgepäck war alles Notwendige.
Die Frau leierte mit einem aufgesetzten Lächeln die Anweisungen herunter, lachte ohne Vorwarnung laut auf. Ihre Kollegin hatte einen Witz erzählt. Marie wusste, dass sich die Frau mit keiner Sekunde ihr gewidmet hatte. Würde jemand sie in fünf Minuten fragen, wie der letzte Fluggast ausgesehen hat, den sie abgefertigt hatte, würde sie wahrscheinlich erstaunt schauen und vielleicht ein wenig schnippisch antworten, dass sie sich schließlich nicht jedes Gesicht merken könne.
»Abgefertigt ist hier wirklich das richtige Wort«, sagte Marie. So laut, dass es auch die Frau hinter dem Tresen verstehen konnte. Die Reaktion, wenn überhaupt, war ihr egal. Ohne Bedeutung. Sie wollte einfach nur kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Langsam beugte sie sich zu ihrem kleinen Koffer, schaute der Frau dabei in die Augen. Dann lächelte sie, blinzelte voller falschem Wohlwollen und drehte sich um. Stellte ihre Ohren auf Durchzug.
Auch als sie den vertrauten Klingelton von ihrem Handy hörte. Jan. Anscheinend hatte er jetzt ihren Brief gefunden und gelesen. Sie schaute auf das Display und auf das Foto von Jan. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wo und wann die Aufnahme entstanden war. Damals in Neapel. Vor einer Ewigkeit. Für einen kleinen Moment war sie da, die Erinnerung an eine andere Zeit. Unbeschwertheit, Glück, Liebe und dieser kleine wunderbare Schmerz, der wie selbstverständlich durch den Körper, durch das Herz geht, weil die Erinnerung so übermächtig ist.
Sie schaltete das Handy aus und ging in eine kleine Cafeteria, bestellte einen Cappuccino. Erinnerte sich an den wunderbaren Geschmack von frisch gemahlenen Arabica-Bohnen und den weichen Milchschaum, den sie immer mit Bergen von Zucker abgelöffelt hatte. Jetzt verursachte allein der Geruch schon übelkeit. Selbst das Wasser, das neben der Kaffeetasse stand, stank in ihrer Nase. Sie holte sich an der Theke noch einen Kamillentee, trank ihn in aller Ruhe und schaute dem Milchschaum zu, wie er langsam in sich zusammenfiel. Als sie die Cafeteria verließ, betrachtete sie ein letztes Mal die Tasse und überlegte, ob sie Jan doch noch einmal anrufen sollte. Von Zürich aus. Vielleicht.
Plötzlich rauschte es in ihren Ohren, das Atmen wurde schwer. Sie ließ ihre Tasche fallen. Alles um sie herum bewegte sich, die Schaufenster, der Boden, die Treppen.
Menschen rempelten sie an, entschuldigten sich zwar, aber man merkte, dass Marie ein ärgerliches, vermeidbares Hindernis für sie war. Freundliches Lächeln auf den Lippen und gleichzeitig ein genervtes Kopfschütteln. Ihr Puls raste, sie sah sich schwer keuchend nach einer Sitzgelegenheit um. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Langsam, so als hätte sie schwere Gewichte an den Füßen, bewegte sie sich auf die Bänke in der Halle zu. Holte mit zitternden Händen ihre Tabletten aus der Tasche, schluckte ein paar davon und trank gierig aus der Wasserflasche. Nahm aus ihrer Jackentasche noch ein Fläschchen und tropfte sich die Flüssigkeit direkt auf die Zunge.
Ich hasse diese Scheiße. Ich hasse das und ich will das nicht, dachte sie. Ich will einfach nur meine Ruhe. Wenn Schluss sein soll, dann ist das eben so. Aber ich will nicht elendig wie ein Hund verrecken. Sie lachte kurz auf. Und woher, tönte es in ihrem Kopf, woher weißt du eigentlich, wie ein Hund verreckt. Woher? Die meisten werden doch irgendwann bei irgendeinem Tierarzt friedlich eingeschläfert. Richtig, fast hättest du es ja vergessen, für Tiere hatte man eine würdige Lösung gefunden. Selbst in Deutschland. Aber bei Menschen, da muss …
Die Stimme im Kopf verstummte, als sie die Durchsage hörte, dass der Flug nach Zürich Verspätung haben würde. Technische Probleme. Die Passagiere sollten sich am Schalter der Fluggesellschaft melden.
»Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn bei mir mal irgendwas glatt läuft«, flüsterte sie.
Der ältere Mann neben ihr schaute sie erstaunt an.
»Jammern hilft auch nicht«, sagte er ruhig und machte eine Pause. »Glauben Sie mir, alles hat immer einen Grund. Auch das Warten.«
Blödmann. Was wusste der denn schon?
»Was halten Sie davon«, fuhr der Mann fort, »wenn wir gemeinsam zum Schalter gehen und schauen, was sich die Fluggesellschaft für uns einfallen lässt? Was meinen Sie? Bekommen wir einen Gutschein für ein exquisites Fünf-Gänge-Menü mit passender Weinbegleitung oder lauwarmen Kaffee aus Pappbechern? Ich wette: das Fünf-Gänge-Menü. Dürfte ich Sie dann an meinen Tisch einladen?«
Marie musste unwillkürlich lächeln. Der Typ war unmöglich, aber warum nicht? Sie hatte nichts anderes vor.
Am Schalter der Fluggesellschaft standen nur wenige Menschen und es gab tatsächlich Gutscheine, aber nicht für ein Fünf-Gänge-Menü, sondern für ein »nicht alkoholisches Kaltgetränk Ihrer Wahl«. Dazu wurde ihnen eine knallbunte Tüte überreicht, in der ein blasses, mitleiderregendes Sandwich und eine Packung Gummibärchen steckte.
Der Flieger stände leider noch in Zürich. Es täte ihnen alles furchtbar leid, aber … und die überschminkte Frau redete und redete.
»Oskar«, stellte sich der Mann Marie vor und streckte ihr seine Hand entgegen. »Die Wette habe ich leider verloren, aber darf ich Sie dennoch einladen?«
Sie nickte und schüttelte seine Hand. »Ja, Sie dürfen. Und ich heiße Marie.«
»Also dann, gnädige Frau …«, sagte er und bot ihr dabei seinen Arm an, »dann entführe ich Sie jetzt in eine schicke Bar.«
Verrückt, dachte sie. Alles komplett verrückt. Ich will nach Zürich, um meine letzte Reise anzutreten. Will allein und in Würde sterben, und jetzt laufe ich mit einem Wildfremden quer durch diesen Flughafen, um in eine Bar zu gehen.
Sie stopften die knallbunten Tüten der Fluggesellschaft gleichzeitig in den nächsten Mülleiner. Alberten dabei wie zwei Teenager herum und hielten beim Werbestand einer Spirituosenmarke an. Nickten sich zu. Marie glaubte zwar aus diesem roten Monstrum von Sessel, das zu einer künstlichen Strandbar mit Sandlandschaft gehörte, niemals mehr ohne fremde Hilfe aufstehen zu können, aber da war ja dieser Oskar. Der hatte sicher eine Lösung dafür.
»Stellen wir uns einfach vor, der Flug würde nicht eine Stunde, sondern drei dauern«, sagte er, »und wir wären Sitznachbarn, die sich die Zeit vertreiben.«
Sie nickte, und als der Kellner kam, gaben sie ihm die Gutscheine und bestellten beide gleichzeitig wie aus einem Mund Tomatensaft. Sie unterdrückten ein Lachen und sahen in das verständnislose Gesicht des Kellners.
»Doch, doch«, sagte Oscar und versuchte dabei ernsthaft zu bleiben, »bringen Sie uns bitte zweimal Tomatensaft. Und Erdnüsse, wir brauchen ja erst einmal eine Grundlage.«
»Eigentlich schmeckt der ja nur im Flugzeug«, sagte Marie, schob eine Handvoll Nüsse in den Mund und trank einen Schluck. »Angeblich liegt das an dem Niederdruck, da nehmen die Geschmacksnerven alles anders wahr. Schon komisch. Gehört wohl irgendwie zum Fliegen dazu, so ein Tomatensaft. Trinkt sonst doch im normalen Leben kein Mensch.«
»Der Saft schmeckt grauenvoll hier unten am Boden, wie kalte Tomatensoße von gestern, nur ohne alles«, sagte Oskar und stellte das Glas ab. »Es wird Zeit für etwas Richtiges.«
Und dann bekam der Barkeeper, der schon den ganzen Tag aus Langeweile alle Gläser von außen, von innen und am Stiel poliert hatte, endlich etwas tun. Und er staunte nicht schlecht, als die Bestellung hereinkam.
Swimming Pool, Cuba Libre, Mojito, Negroni, Brandy Alexander, Piña Colada, Mai Tai, Planters Punch, Tequila Sunrise. Er suchte die roten Sessel ab, sah aber nur die beiden Gäste, die vor kurzem Tomatensaft geordert hatten. Schaute fragend den Kellner an, der auch nur mit den Schultern zuckte.
Auf dem kleinen Beistelltischchen war alles aufgereiht. Ein Regenbogen aus Cocktailschalen, Tumblern und Highballs für die Longdrinks, in allen möglichen Farben.
»Also, welchen nehmen Sie?«
»Wie jetzt?«, fragte Marie, »Ich habe doch gar keinen bestellt. Ich glaube nicht, dass ich …«
»Doch«, unterbrach sie Oskar, »Sie werden eine Entscheidung treffen müssen.«
Marie schaute ihn erstaunt an. »Ich …?«
»Ja, Sie, Marie.« Oskar beugte sich zu ihr vor. »Die Ärzte haben mit Ihnen sicher alles besprochen, oder? Man wird Ihnen doch gesagt haben, wie der Todescocktail schmeckt, und dass Sie am besten Alkohol dazu trinken sollten. Gegen den bitteren Geschmack.«
Marie starrte ihn an.
»Wie kommen Sie …?«
»Die Medikamente. Ich kenne sie alle. Meine Frau …«, er hielt kurz inne, »meine Frau ist mit den Kindern schon in der Schweiz. Sie wollte ein paar Tage mit ihnen allein sein, bevor …, ich fliege jetzt hinterher. Haben Sie jemanden, der sie begleitet?«
Marie schwieg.
»Sie sollten jemanden dabei haben, Marie«, fuhr er fort, »eine Freundin oder einen Freund. Jemanden, der sie stützt, wenn Sie im Stehen diesen Cocktail trinken müssen. Weil ihr Körper sich wehren wird. Gegen die tödlichen Medikamente. Alles wird in Ihnen rebellieren, sich dagegen auflehnen. Das ist normal. Deswegen ja Zuerst das Magenmittel. Aber glauben Sie mir, Sie brauchen ein Gesicht, in das Sie schauen möchten. In diesem letzten Augenblick. Jemanden, der Ihnen hilft, diese Minuten zu überstehen, bis sie sich langsam hinlegen dürfen. Und dann dauert es noch mindestens …«
»Hören Sie auf! Ich will das nicht hören!« Marie schnappte nach Luft.
»Warum? Sie haben sich doch entschieden. Und wissen genau, wie dieser Weg aussieht, den Sie gewählt haben. Hospiz kam für Sie ja nicht infrage, oder?«
»Ich habe einen Menschen umgebracht.«
Was erzählte sie diesem völlig unbekannten Typen hier eigentlich? »Kaschinsky. Er hieß Kaschinsky. Ist lange her. Ich war sechzehn. Man entschied auf Notwehr. Aber verstehen Sie, ich wollte das. Ich wollte ihn …«
»Und?« Oskar unterbrach sie. »Spielt das noch eine Rolle? Das liegt weit in der Vergangenheit. Vorbei. Jetzt geht es doch nur noch um Sie. Ins Reine kommen mit sich selbst, das ist doch das Einzige, was jetzt noch zählt?« Er schaute sich suchend um. »Aber …, Sie werden jetzt bestimmt lachen, ich glaube, mir ist der passende Drink für Sie eingefallen. Was halten Sie von einer Bloody Mary? Trinkt man zwar normalerweise morgens nach einem feuchtfröhlichen Abend, aber ich finde, das passt zu Ihnen. Tabasco, Zitronensaft und ein ordentlicher Schuss Wodka in den Tomatensaft. Ja, diese Mischung überdeckt noch das stärkste Gift. Bunte Schirmchencocktails sind nichts für Sie, stimmt’s? Hallo, Herr Kellner?«
Marie wollte widersprechen, aufschreien, die Flucht ergreifen, aber die Zunge klebte an ihrem Gaumen. Sie rollte sich aus dem Sessel, stöhnte, kniete irgendwann auf allen Vieren im Sand und versuchte hochzukommen. Aber es gab nichts, woran sie sich festklammern konnte. Während sie fluchte, spürte sie, wie Oskar ihr behutsam unter die Arme griff und sie hochhob. Mit aller Kraft versuchte sie, ihm einen gezielten Schlag an den Kehlkopf zu versetzen, wie damals bei Kaschinsky, aber diesmal wurde es nur eine schlaffe Geste, ohne jede Wirkung.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie sich alleine auf den Beinen halten konnte, ließ er sie los.
Nach Luft ringend wandte sie sich von ihm ab und ging.
Der Kellner nahm die Scheine von dem Tischchen. Eine Schande, dachte er. Keinen einzigen Cocktail haben die getrunken. Totale Verschwendung. Irgendwie auch ein komisches Pärchen. Aber wahrscheinlich nur der typische Vorurlaubsstreit. Immer dasselbe. Dann stellte er die vollen Gläser auf sein Tablett und schaute noch kurz dem Mann hinterher, der auf seinem Handy herumtippte.
»Wenn der Flieger keine Verspätung gehabt hätte, wäre es knapp geworden. Sie steigt gerade in ein Taxi und wird jetzt nach Hause fahren. Gib ihr Zeit, Jan.« Oskar blieb stehen und grüßte jemanden vom Schalterpersonal, der vorbeiging. »Flöße ihr zur Beruhigung erst mal einen großen Cognac ein, oder einen Obstler. Irgendwas Klares, aber auf gar keinen Fall einen Cocktail. Vor allem keine Bloody Mary.«
Nein, Marie wusste nicht, dass Jan einen alten Schulfreund beim Sicherheitsdienst am Flughafen hatte: Oskar. Dass Jan ihn sofort angerufen hatte, als er den Brief gelesen hatte. Dass er ihr Vertrauen gewinnen und sie auf die Probe stellen sollte, ob sie an ihrer Entscheidung wirklich festhielt.
Man musste den letzten Weg nicht allein gehen.
Bloody Mary
4 cl Wodka
10 cl Tomatensaft
2 cl Zitronensaft
2 Spritzer Worcestershire
1 Spritzer Tabasco
etwas Salz und Pfeffer aus der Mühle
Eiswürfel
Sämtliche Zutaten mit einigen Eiswürfeln im Shaker kräftig mixen. In ein Longdrinkglas oder einen Tumbler mit einigen Eiswürfeln abseihen.