THOMAS KASTURA
Einmal im Jahr, bevorzugt an Herbstabenden, an denen regenschwere Nebelschwaden sich über die Stadt legten wie der Mantelwurf eines fernen Zeitalters und die Melancholie zu zähflüssigen Tropfen gerann, zog es Staatsanwalt Brandeisen ins Ungewisse. Er bekam Hummeln im Hintern oder – wie die Engländer es ausdrücken – ants in the pants. Dann beschloss er, Pfade zu beschreiten, die wenig jenen gleichen, die man den Alltag nennt oder das Erwartbare, mithin das »Reale«. Sogar einer literarischen Figur, fand er, stand es gelegentlich zu, ihre angestammte Sphäre zu verlassen. Warum nicht auch ihm?
Brandeisen schlüpfte in seinen schwarzen, nach Mottenpulver riechenden überzieher und schlug den Kragen hoch. Er griff nach dem tadellos gebürsteten Zylinder und dem Gehstock aus Weißdornholz. »Halte Wacht!«, rief er seiner ausgestopften Dogge Hilda zu, Gefährtin in guten wie in schlechten Tagen. »Ich gehe aus.« Vor einem mannshohen Spiegel, Erbstück seines Urgroßvaters Trudbert, überprüfte er den Sitz der Krawatte. Und mit den Worten »Ad aliud saeculum, mutatis mutandis« tat er einen beherzten Schritt nach vorn.
Was genau hinter einem Spiegel liegt, der zu anderen Zwecken als den herkömmlichen dient, beispielsweise zum Transport über weite Entfernungen oder zur Zeitreise, darüber streiten sich die Weisen. Zum Verständnis dieser Geschichte sei nur erwähnt, dass Brandeisen ein Labyrinth verfallener Gänge durchmaß; zahllose eisenbeschlagene Türen ausprobierte, um sie sogleich wieder zu schließen; die Pforte zu einer dornenbewehrten Gruft links liegen ließ und daraufhin eine unendlich schmale Brücke überquerte, welche sich über einen bodenlosen Abgrund spannte … Bis er sein Zel erreichte und in einem alten Tudorhäuschen herauskam, dessen Bewohnerin, eine schwerhörige Kapitänswitwe, in Ohnmacht fiel, als er ihrem Frisiertisch entstieg. Er wünschte einen guten Tag und ging seiner Wege.
Normalerweise schätzte er an Bamberg das Pittoreske, Somnambule, Altfränkische. Doch wünschte er sich manchmal, an fremderen, abenteuerlicheren Orten zu leben und zu wirken, und da zu diesem Behufe weder Computerprogramme noch die menschliche Vorstellungskraft mit einem Zauberspiegel konkurrieren konnten, reiste er ins London des Jahres 1892 und tauschte das Sandgebiet an der Regnitz gegen die Docklands an der Themse ein. Tick-Tack, machte sein Gehstock auf dem von Gaslaternen nur mäßig beleuchteten Kopfsteinpflaster. Seine Laune hob sich.
»Kannst du mal auf Tabak wechseln?«, fragte ein bärtiger Schrat. Brandeisen gab dem Mann, offenbar ein Waliser ohne Heuer, einige Münzen und spazierte weiter. Bei einer Schenke, deren Ausdünstungen an eine Opiumhöhle gemahnten, sprachen ihn drei leichtbekleidete Bordsteinschwalben an. »Lust auf n’bisschen Unterhaltung?« Er verneinte. Heute führte ihn sein Weg nach Greenwich, und zwar in den Record’s Club.
Es war schon nach Mitternacht, ihn fröstelte. Behände wich er einer Droschke aus, umkurvte eine Gruppe betrunkener Studiosi und gelangte an jenen magischen Ort, an dem ein Gentleman zu jeder Tages- und Nachtzeit Gentleman sein konnte.
»Guten Abend, Sir«, sagte Strainchamps, der Butler des Record’s. »Schön, Sie wieder bei uns zu haben.« Er war mit den Gepflogenheiten des Staatsanwalts vertraut.
»Es ist immer eine Freude.« Brandeisen nahm auf einem langbeinigen Hocker Platz, eine neue Errungenschaft des Clubs, damit sich die Gäste direkt an der Barriere zum Ausschank niederlassen konnten, abgekürzt Bar. Gordon, ein Neffe von Strainchamps, stand hinter dem Tresen. »Das übliche, Sir?«
»Mit Vergnügen. Vor dem Frühstück soll man ja nichts Stärkeres als Gin trinken.«
Gordon nickte – und zögerte. »Kalt draußen, wie?«
»Es hat ein bisschen aufgefrischt.«
»Dann käme was Warmes recht, meinen Sie nicht?«
»Was Warmes?«, wunderte sich Brandeisen.
»Augenblick, Sir.« Gordon hantierte mit einer Flasche und einem Teekessel. In Windeseile hatte er ein Getränk fabriziert, das er in einem Zinnkrug kredenzte. »Cheers!«
Brandeisen tat einen Schluck. Es schmeckte wie heißer verdünnter Gin mit Zitronensaft und Zucker. Nach einem weiteren Quantum fühlte er sich erfrischt und belebt. »Sie haben recht«, sagte er anerkennend. »Ein Hot Toddy ist jetzt das Richtige.«
»Damit hat sich schon Lord Nelson vor Trafalgar in Kampfeslaune gebracht.«
»Gin – das Getränk der Navy.«
»Neuerdings werden Mischgetränke immer beliebter. In Amerika sagen sie Cocktails dazu.« Gordon polierte eine Champagnerschale. »Pur sind die meisten Spirituosen ja ungenießbar. Man kann sie mit Bitters und Würzessenzen aus der Apotheke versetzen, mit Ingwersirup, Curaçao oder Tonic Water gegen Malaria.«
»Variatio delectat«, bestätigte Brandeisen und sah sich um. Neben dem Kaminfeuer dösten zwei Advokaten. Vier Marineoffiziere spielten eine Runde Whist, ein schottischer Deerhound lag zu ihren Füßen. Es war ein friedlicher, fürs Record’s typischer Anblick, wenn da nicht eine Gespanntheit über dem Raum gelegen wäre, für die nur kriminalistisch geschulte Experten ein Sensorium besaßen.
»Fühlen Sie sich gestärkt, Sir?«, fragte der lautlos herbeigeschwebte Butler.
»Durchaus. Was ist hier los, Strainchamps?«
»Wir erwarten Sie und Ihren Scharfsinn mit brennender Sorge, Sir. Der Ruf des Clubs steht auf dem Spiel.«
»Nicht so klandestin, Mann! Heraus damit!«
»Wenn Sie mir bitte folgen möchten.«
Strainchamps führte Brandeisen ins Billardzimmer im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Dort wurde seit kurzem Snooker gespielt, ein Zeitvertreib, den die britischen Kolonialkräfte in Indien ersonnen hatten unter Weiterentwicklung des tradionellen English Billiards. Doch keine Elfenbeinkugeln lagen auf dem filzbezogenen Tisch, sondern zwei Leichen. Es handelte sich um die höchst ehrenwerten Clubmitglieder Marcus Brown-Ryder, stadtbekannter Wundarzt, und Rodolphe van der Belt, berüchtigter Kritiker beim Daily Chronicle. Die beiden aufgebahrten Körper wiesen unschöne Einschusslöcher auf. Brown-Ryder hatte es direkt ins Herz getroffen, während Van der Belt die halbe Schädeldecke fehlte und sein Bauchraum einem blutgetränkten Schwamm glich.
»Was ist passiert?« Brandeisen verfiel in die Ermittlungsroutine des 21. Jahrhunderts, in dem er sich an so mancher Verbrecherjagd beteiligen würde. »Ein Doppelmord? Möchten Sie, dass ich den Täter finde, bevor Scotland Yard hier alles auf den Kopf stellt?«
Strainchamps war untröstlich. »Mord können wir ausschließen, Sir. Vor einer knappen Stunde haben sich die beiden Gentlemen duelliert, mit doppelläufigen Pistolen im Hinterhof. Alles ging mit rechten Dingen zu. Leider erwiesen sich Mister Brown-Ryder und Mister Van der Belt als bedauernswert treffsicher.«
»Das ist hochgradig illegal.«
»Ich fürchte ja, Sir.«
»Es wirft kein gutes Licht auf den Club.«
»Auch hier schließe ich mich Ihrer Meinung an, Sir.«
»Die Öffentlichkeit sollte darüber in Unkenntnis gehalten werden, um Schaden vom Record’s abzuwenden.«
»Sie lesen meine Gedanken, Sir.«
»Aber die beiden sind tot. Wir können die Leichen ja wohl kaum verschwinden lassen und in die Themse werfen?«
»Diese Option steht uns nicht offen, Sir. Dafür sind die Gentlemen zu bekannt. Ihre Nachkommen würden unangenehme Fragen stellen. Außerdem wäre es nicht gerade … sportlich.«
Brandeisen erschrak. »Es wäre sogar ganz und gar unsportlich«, versicherte er. »Tut mir furchtbar leid. Worauf man im ersten Eifer so verfällt …«
Sie schwiegen eine Weile und betrachteten die seelenlosen Hüllen auf dem Snooker-Tisch. Um Brown-Ryder tat es Brandeisen ehrlich leid. Der Arzt war ein Freigeist und Philanthrop gewesen und hatte seine Fähigkeiten in den Dienst der Armen und Siechen gestellt – was für ein Verlust! Ganz anders verhielt es sich mit Van der Belt, dem Missgunst, Selbstgerechtigkeit und Geltungsdrang noch im Tode aus jeder Pore drangen. Seine Buchverrisse im Daily Chronicle waren für die toleranten Literaturfreunde des Clubs ein stetes Ärgernis gewesen.
Strainchamps räusperte sich. »Wir setzen die größten Hoffnungen in Sie, Sir.«
»In mich? Warum das denn?«
»Weil Sie mit Mächten im Bunde stehen, die den gemeinen Verstand weit übersteigen, Sir. Meinen Sie nicht, dass hier ein kleiner Wiederbelebungszauber angezeigt wäre?«
»Sie verlangen zu viel, Strainchamps! Ich kann in die Vergangenheit reisen und in die Zukunft, da ist nichts weiter dabei. Aber jemanden von den Toten erwecken? Davon habe ich bislang nur in den Aufzeichnungen meines Urgroßvaters gelesen. Wie das in der Praxis vonstatten gehen soll …«
»Ich bin mir sicher, Sie finden einen Weg, Sir.«
»Warum ich? Was ist mit Plainfield? Oder Lord Hateford? Die sind doch ebenfalls der Zauberei kundig.«
Der Butler seufzte. »Mister Plainfield ist in ein Loch gefallen, wie es dieser Mathematiker aus Cheshire in seinem Kinderbuch beschrieben hat. Niemand weiß, ob er noch unter den Lebenden weilt. Und Lord Hateford hat sich mit einer Elfenprinzessin von Kensington Gardens verlobt. Für die nächsten Jahrhunderte ist er wohl unabkömmlich.«
»Also bleibt alles an mir hängen.«
»Der Club braucht Sie, Sir.«
Brandeisen nickte verdrossen. »Ich tue, was ich kann. Bringen Sie mir zwei Gläser Absinth. Die grüne Fee wird uns bei diesem Vorhaben vielleicht von Nutzen sein.«
Strainchamps glitt davon, das Verlangte zu holen. Derweil versuchte sich Brandeisen an das zu erinnern, was ihm der alte Trudbert in seinem Schatzkästlein des zauberischen Hausfreundes, einer handschriftlichen, in Maulwurfleder eingeschlagenen Notizensammlung hinterlassen hatte. Zunächst zog er seinen überzieher aus und verkehrt herum wieder an, schloss die Augen, drehte sich dreimal um die eigene achse (entgegen dem Uhrzeigersinn) und schickte seinen forschenden Geist – ins Totenreich.
Das Totenreich für Londoner Gentlemen, Abteilung Südwest, war eine Art Cricket Ground. Neuankömmlinge warteten, bis sie mit dem Schlagen des Balls an der Reihe waren – was erfahrungsgemäß eine Weile dauern konnte. Da Brown-Ryder und Van der Belt erst vor Kurzem verstorben waren, saßen ihre Seelen am Rand des Spielfelds auf Klappstühlen und tranken Tee. Brandeisen begrüßte es, die beiden so schnell gefunden zu haben. Er trat – als Geist zwischen den Welten – neben sie und hauchte jedem das Wort »Out!« ins Ohr. Im Totenreich galt dies als Zeichen, dass die beiden bald ins Leben zurückgerufen würden und vorerst nicht an dem Cricketspiel teilnehmen mussten, das über ein Dismissal in den Himmel oder die Hölle entschied.
Brandeisen öffnete die Augen. Das Billardzimmer war unverändert, doch die Leichen sahen um ein Geringes frischer aus, jetzt, nachdem der Lokalisierungszauber gelungen war.
Strainchamps hatte den Absinth gebracht. »Kommen Sie voran, Sir?«
»Immer mit der Ruhe«, gab Brandeisen zurück.. »Verschließen Sie die Tür.«
»Das ist schon geschehen, Sir.«
»Fein, dann kann’s losgehen.« Ein Glas Absinth trank Brandeisen selbst, woraufhin ein wohliger Schauer seinen Körper durchlief. Mit dem Inhalt des zweiten Glases besprenkelte er die Noch-Toten. Er hob seinen Gehstock, tippte Brown-Ryder und Van der Belt damit auf den Brustkorb und murmelte die Worte: »Vivete! Vigete! Vigilate!«
Das war’s.
Zuerst erwachte Brown-Ryder, vermutlich, weil sein Herzschuss eine relativ unkomplizierte Verletzung darstellte. Er stand auf und verarztete sich sogleich eigenhändig, indem er ein monogrammiertes Taschentuch in das Loch in seiner Brust stopfte. Dann ging er ohne sich weiter zu äußern nach Hause mit dem Hinweis, dass er früh aufstehen müsse, um im Armenhaus nach seinen Patienten zu sehen. Im Laufe des Tages ersetzte Brown-Ryder das Taschentuch durch einen Portweinkorken, der sein Herz keimdicht verschloss. Dank dieser Behandlungsmethode sollte er 94 Jahre alt werden.
Van der Belt brauchte etwas länger, um ins Reich der Lebenden zurückzukehren – Schädel und Bauch waren arg in Mitleidenschaft gezogen. Unglücklicherweise wehrte er sich gegen sämtliche Bemühungen von Strainchamps, seine Wunden zu versorgen und ihn etwas ansehnlicher zu machen. Stattdessen ging er schnurstracks zur Bar und bestellte einen Martini. Das war ein neuartiger Drink, bei dem Gin mit italienischem Wermutwein verrührt wurde. Gordon, der Barkeeper, hatte sogar eine Vorrichtung erfunden, die Zutaten in einem verschließbaren Schüttelbecher zu vermengen und mit Eiswürfeln zu kühlen.
»Meine Glückwünsche, Sir!«, sagte Strainchamps zu Brandeisen. »Der Club ist Ihnen zu immerwährender Dankbarkeit verpflichtet.« Sie standen ein wenig abseits und beobachteten, wie Van der Belt seine Auferstehung feierte.
»Abwarten«, sagte Brandeisen. »Aus welchem Grund haben sich die beiden überhaupt duelliert?«
»Sie stritten sich, was besser schmeckt: Gin oder Whisky.«
»Ein unlösbares Dilemma, das schon so manches Todesopfer gefordert hat.«
»In der Tat, Sir.«
Nur allzubald zeigten sich die Nachteile des Wiederbelebungszaubers. Van der Belts Schädel fehlte immer noch zur Hälfte, sodass Teile der Gehirnmasse sichtbar waren. Und der Martini floss aus dem Loch in Van der Belts Bauch einfach wieder heraus. Immer wenn er einen Schluck nahm, dauerte es einen Moment, bis die Flüssigkeit durch die Speiseröhre nach unten geronnen war und ungehindert austrat. Der Mann leckte wie ein alter Kahn, allein, es kümmerte ihn nicht.
»Kann man da nichts machen, Sir?«, fragte Strainchamps. »In diesem Zustand dürfen wir Mister Van der Belt nicht auf die Straße lassen. Er entspricht nicht gerade dem Anblick, den man jemandem wünscht, der nach Mitternacht durch die Gassen streift.«
Brandeisen überlegte. »Leider sehe ich mich nicht imstande, ihn wieder zusammenflicken. Ich bin kein Feldscher.«
»Heißt das, er bleibt so … unvollständig, Sir?«
»Ich denke schon.«
»Das macht aber keinen guten Eindruck, Sir. Abgesehen davon könnte ich mir vorstellen, dass Mister Van der Belt mit nur einem halben Schädel und einem Loch im Bauch sowohl beruflich als auch privat recht eingeschränkt ist.«
»Ich rede mit ihm«, sagte Brandeisen.
»Bringen Sie ihn zur Vernunft, Sir.«
»Vielleicht gibt er uns die Erlaubnis, nach einem Barbier zu schicken, der ihn zumindest notdürftig verschönert.« Brandeisen setzte sich auf einen Hocker neben Van der Belt und fing ein Gespräch an. »Rodolphe, altes Haus! Wie geht’s, wie steht’s?«
»Mich plagt ein entsetzlicher Durst, der sich nicht stillen lässt.« Mit einer schroffen Geste wandte sich Van der Belt an den Barkeeper. »Nachfüllen, Gordon! Sehen Sie nicht, dass mein Glas leer ist?«
Gordon tat wie geheißen.
»Dumme Sache, dieses Duell mit Brown-Ryder«, fühlte Brandeisen vor.
»Warum? Ich habe gewonnen!« Van der Belt lachte höhnisch. Dabei löste sich einer seiner Augäpfel, fiel aus der Höhle und baumelte an einer einsamen Faser zwischen Nase und Ohr hin und her wie ein makabres Uhrenpendel. »Dieser Quacksalber hat keine Ahnung. Gin ist Whisky in jeder Hinsicht vorzuziehen. Mögen die Schotten ihr Gesöff für sich behalten.«
»Sie haben da etwas am Auge …«
Unwirsch wehrte Van der Belt ab. »Das ist bloß eine Schramme. Schauen Sie mich nicht so entgeistert an! Man kommt sich ja vor wie auf dem Jahrmarkt.«
Offenbar litt er unter einem gewissen Verlust der Einschätzungs- und Steuerungsfähigkeit, fand Brandeisen. Nach Wiederbelebungen war das laut Urgroßvater Trudbert keine Seltenheit. »Lesen wir von Ihnen bald wieder im Chronicle?«, wechselte er das Thema.
»Sicher!« Van der Belt warf sich in die Brust. »Ich werde das neue Versdrama von Yeats verreißen!«
»So? Das ist aber schade. Ich habe etwas übrig für diesen jungen Iren. Er bringt das Märchenhafte in die Literatur zurück.«
»übernatürlicher Mumpitz! Das kann man doch nicht ernst nehmen. Je früher Yeats wieder nach Dublin verschwindet, desto besser.«
»Dann sagt Ihnen Das Bildnis des Dorian Gray aus der Feder des unvergleichlichen Oscar Wilde vermutlich auch nicht zu?«
»Ein Schaumschläger – und ebenfalls Ire!«, empörte sich Van der Belt. »Diese Kartoffelbauern meinen, uns mit ihren Hirngespinsten zum Narren halten zu können.«
»Wie wäre es mit Tennyson?«, schlug Strainchamps vor, der Balladen und Romanzen rund um den Artusmythos verehrte.
»Verknöcherter Träumer!«, kam es ungnädig zurück.
»Und Stevenson?«, warf Gordon ein. »Dr. Jekyll und Mr. Hyde hat Sie doch sicher gepackt? Ich konnte das Buch vor Spannung kaum aus den Händen legen.«
»Spannung, mein unwissender Freund, mag bei einem Stiefelschaft oder einer Büchse für die Entenjagd eine Rolle spielen. In der Literatur hat sie nichts verloren.« Van der Belt trank seinen Martini aus, der seinen Körper sogleich wieder über die perforierten Eingeweide verließ und auf den Boden tropfte. »Fehlt nur noch, dass Sie mir eine dieser widerwärtigen Kriminalgeschichten antragen, wie sie jetzt allenthalben erscheinen, und dass Sie mir weismachen wollen, das habe etwas mit Kunst zu tun. Derlei Schund kann ich niemals gutheißen, nur über meine Leiche!« Das lose Auge baumelte im Takt seiner Rede immer noch äußerst uncharmant umher. Van der Belt war es einerlei.
»Entschuldigen Sie mich für einen Moment«, sagte Brandeisen. Er gab Strainchamps und Gordon einen Wink und nahm die treuen Domestiken beiseite, um im Flüsterton über das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Rasch erzielten sie Einigkeit darüber, dass Van der Belts Wiederbelebung doch keine so gute Idee gewesen war. Der Mann war gegen jeden Hinweis auf seine ramponierte Physiognomie immun und zeigte sich noch unerträglicher als vor seinem Tod – das mochte etwas heißen. Man musste ihm Einhalt gebieten, um die herausragendsten Musensöhne des Königreichs vor seinen Schmähungen zu bewahren.
»Aber ich kann die Wiederbelebung nicht rückgängig machen«, klagte Brandeisen leise. »Sie sehen mich ratlos.«
Gordon tätschelte seinen Totschläger, den er unter dem Bartresen hervorgeholt hatte. »Nur ein kleiner Streichler, er wird’s gar nicht spüren.«
»Gewalt haben wir schon ausgeschlossen«, widersprach Strainchamps. »Ein Gentleman, auch wenn er schon einmal tot war, hat einen kultivierteren Abgang verdient. Fairness geht vor.«
Nahezu gleichzeitig fiel ihr Blick auf den Tisch mit den neuesten Druckerzeugnissen, der zum allgemeinen Gebrauch neben dem Kohlenfeuer stand. Die Times lag darauf, der Daily Chronicle – und die aktuelle Ausgabe des Strand-Magazins. Brandeisen ging hinüber, zog die Zeitschrift aus dem Stapel und blätterte darin. »Ah, eine Geschichte von Mister Doyle«, sagte er laut.
»Die fünf Orangenkerne«, rief Gordon, der den Text bereits gelesen hatte. »Ein verzwickter Fall. Sherlock Holmes löst ihn quasi aus dem Lehnsessel heraus. Er verlässt sein Appartement in der Baker Street nur, um in Registern und Akten nachzuschlagen.«
»Wie unrealistisch!« Van der Belt hatte bei dem Namen »Doyle« aufgehorcht. »Wenn Sie mir den Tag vermiesen wollen, brauchen Sie mir nur mit den Dummheiten dieses Möchtegernschriftstellers zu kommen. Glauben Sie, nur einer dieser sogenannten Fälle hat im Entferntesten etwas mit der Wirklichkeit, also mit echter Ermittlungsarbeit zu tun?«
»Hauptsache gut erfunden«, entgegnete Brandeisen.
»Gut? Das nennen Sie gut?« Van der Belt hielt es nicht mehr auf seinem Hocker. Linkisch stieg er herunter, begab sich zum Zeitungstisch und riss Brandeisen das Strand-Magazin aus der Hand. »Machen wir die Probe aufs Exempel. Ich wähle eine x-beliebige Stelle aus.« Er schlug eine Seite auf und begann vorzulesen: »Sherlock Holmes saß eine Weile still da, den Kopf nach vorne gebeugt und die Augen auf das rote Glühen des Feuers gerichtet. Dann zündete er seine Pfeife an, lehnte sich zurück und beobachtete die blauen Rauchringe, wie sie sich gegenseitig bis an die Decke verfolgten.« Van der Belts Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. Mit seinem intakten Auge funkelte er Brandeisen an. »Wann wurde diese Studie in Biederkeit geschrieben? Im 18. Jahrhundert?«
»Eine hübsche kleine Szene«, meinte Strainchamps. Auch er rauchte gern ein Pfeifchen, jedoch nur an seinem freien Tag, wenn ihm derlei Annehmlichkeiten nicht durch den Dienst im Record’s versagt waren.
Van der Belt fuhr zu dem Butler herum. Dabei löste sich endlich die Faser des losen Auges. Es flog quer durch den Raum und landete mit einem Zischen im Kaminfeuer. »Seit wann ist ›hübsch‹ ein Kriterium zur Beurteilung von Literatur? Das haben schon die Präraffaeliten gründlich missverstanden.«
Erregt blätterte er in dem Magazin und war ganz in seinem Element, dem Zerpflücken und Zerrupfen von Lektüren, an denen andere Menschen ihre Freude hatten. »Nehmen wir dieses Beispiel hier, ein Monolog, typisch für eine lächerliche, klischeebehaftete Figur wie Sherlock Holmes. Ich zitiere: ›Der ideale Logiker könnte, wenn er einmal ein Faktum in allen Einzelheiten gehört hätte, daraus alle weiteren Ereignisse – davor und danach – schlussfolgern. So wie Cuvier durch die Betrachtung eines einzigen Knochens das komplette Tier korrekt beschreiben kann, so sollte der Beobachter, der ein Glied der Ereigniskette vollkommen verstanden hat, in der Lage sein, alle anderen Glieder, sowohl die vorher, als auch die nachfolgenden, akkurat darlegen zu können.‹ Zitat Ende.«
»Was ist daran auszusetzen?«, fragte Brandeisen. »Holmes stimmt das Hohelied der Vernunft an.«
»Besserwisserei für Anfänger, so nenne ich das!« Van der Belt geriet zunehmend außer sich. Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Und natürlich ist nicht Holmes der Wichtigtuer, sondern der Autor. Mister Doyle wäre wie alle Ärzte lieber bei seinen Pflastern und Tinkturen geblieben. Von solch gespreizten Vorträgen kriege ich Magenschmerzen!«
»Das kann auch andere Ursachen haben.« Brandeisen wies auf die unbehandelte Bauchwunde, die Van der Belts Furor auf wundersame Weise nicht zu beeinträchtigen schien. Doch von den Toten Erweckte legten zuweilen eine überraschende Robustheit an den Tag.
»Noch ein Exzerpt gefällig? Vielleicht die Charakterisierung des unglaublichen Sherlock Holmes durch seinen Freund Doktor Watson?« Van der Belt las auf derselben Seite weiter. »Philosophie, Astronomie und Politik lagen bei Null. Botanik war durchwachsen, Geologie fundiert, was jeglichen Schlamm innerhalb eines Radius von 50 Meilen angeht, Chemie vorbildlich, Anatomie unsystematisch, sensationelle Literaturkenntnisse und einmalige Kenntnisse der Verbrechensaufzeichnungen. Spielt Geige, boxt, ist Fechter und Jurist. Vergiftet sich selbst mit Kokain und Tabak.«
»Ein kluges Kerlchen«, sagte Gordon. »Davon könnte sich so mancher Gentleman eine Scheibe abschneiden.«
»Dass er in Politik nicht bewandert ist, hat eine feine Ironie«, fügte Brandeisen hinzu.
»Wenn meine Aufgaben im Club mich über Gebühr beanspruchen, gibt mir ein Löffelchen Kokain den nötigen Schwung«, kommentierte Strainchamps, der sich dabei ertappte, einige Angewohnheiten mit dem Meisterdetektiv zu teilen.
»Und er boxt, das macht ihn mir richtig sympathisch.« Gordon schlug mit der Faust in die offene Handfläche, hoffend, dass seine zupackende Art doch noch gebraucht würde.
»Merken Sie es denn nicht?« Van der Belt schäumte. »Doyle zeichnet das Bild eines Tausendsassas, der mit allen Schwierigkeiten im Handumdrehen fertig wird. Das ist nicht nur anmaßend, weil es so jemanden nicht gibt, es enthebt den Autor auch von allen Erklärungsnotständen. Auf schlichte Gemüter wirkt Holmes vielleicht ›sympathisch‹. Aber ist Sympathie für den Helden nicht das Erste, was anspruchsvolle Leser bei der Lektüre ablegen sollten? Sonst wäre gute Literatur ja nur das, was gefällt.«
»Mir gefallen beide, Holmes und Watson«, sagte Brandeisen. »Ihre Fälle sind spannend und erfindungsreich.«
»Und flüssig geschrieben«, ergänzte Gordon.
»Voller eindrücklicher Details«, lobte Strainchamps.
Es war so weit. Das Gespräch hatte einen Punkt erreicht, an dem der unversöhnliche Kritiker Amok lief. Er wollte sich die Haare raufen – und vergaß dabei, dass sein Gehirn offenlag. Also griff er in sein Oberstübchen, riss es wutentbrannt heraus und warf es an die Wand. Von dort rutsche es herab und wurde zur Beute des schottischen Deerhounds, der unter dem Tisch der Whist spielenden Marineoffiziere gelauert und Van der Belts Witterung schon seit geraumer Zeit aufgenommen hatte. Er verspeiste das Gehirn mit großem Appetit.
Ohne seine sieben Zwetschgen hätte sogar Lazarus keinen Schritt mehr getan. Van der Belt brach zusammen und starb ein zweites Mal.
Strainchamps erbot sich, die Leiche mithilfe von Gordon zu versorgen und zur Zwischenlagerung ins Eishaus zu schaffen. Der Mann hatte sich vor Zeugen selbst entleibt – oder enthirnt. Und es war dabei fair zugegangen. Der Ruf des Record’s Club blieb unbefleckt.
Nachdem die Säuberungsmaßnahmen vollzogen waren, lud Brandeisen seine beiden Mitstreiter zu einem Drink ein. Die beiden Advokaten neben dem Kaminfeuer dösten immer noch, und die vier Offiziere hatten sich bei ihrer Whist-Partie nicht stören lassen, da Gordon sie wohlweislich mit einer Kanne London Porter Beer ausgestattet hatte.
»Lust auf was Neues?«, fragte Gordon. Nach Van der Belts endgültigem Abgang war er ein bisschen aufgekratzt.
»Nur zu!«, sagte Brandeisen.
In Windeseile standen drei Gimlets auf dem Tisch, eisgekühlt in breiten Bechergläsern.
»Mit welch seltsamem Gebräu haben wir es hier zu tun?«, wollte Strainchamps wissen.
»Zur Hälfte Gin, zur Hälfte Rose’s Lime Juice. Ein Gimlet schlägt jeden Martini haushoch«, erklärte Gordon. »Die Jungs von der Navy haben mir das Rezept verraten.«
Sie nahmen einen kräftigen Schluck.
»Elementar«, sagte Strainchamps.
»Das beschreibt den Geschmack ziemlich gut. Ich wünschte, ich könnte länger in Ihrer Gesellschaft verweilen.« Brandeisen hielt nach einem Spiegel Ausschau. Hinter der Bar hing neuerdings einer, damit der Raum größer wirkte. Er räumte ein paar Flaschen weg und stieg auf ein Bierfass. »Leider muss ich mich jetzt empfehlen.« Mit vom Gin belegter, kratziger Stimme sprach er: »Ad aliud saeculum, mutatis mutandis.« Er tauchte in den Spiegel ein, als wäre seine Oberfläche aus Quecksilber, und verschwand.
Den Weg zurück hatte er sich genau eingeprägt: über die Brücke, an der Gruft vorbei, durch das Ganglabyrinth. Allerdings wunderte er sich nicht schlecht, als er in einer Bamberger Kneipe herauskam, die den Namen Pizzini trug, seit langem ein Treffpunkt gescheiterter Intellektueller. Er musste irgendwo eine falsche Abzweigung genommen haben.
»Schon die neue Buchkritik im Spiegel gelesen?«, ließ sich ein Stammgast vernehmen. »Ich glaub, die mögen da keine Krimis.«
Brandeisen verneinte. Manche Dinge änderten sich nie.
Anmerkung: Diese Geschichte ist frei erfunden, aber die Cocktails sind historisch korrekt wiedergegeben. Der Hot Toddy war eines der frühesten Mixgetränke überhaupt. Der Martini mit Gin und Vermouth (ursprünglich Martinez) wurde erstmals 1884 erwähnt und ist nicht mit der italienischen Wermutmarke »Martini & Rossi« zu verwechseln. Der Gimlet ist tatsächlich eine Erfindung der britischen Royal Navy. Er wurde ein halbes Jahrhundert später durch Raymond Chandlers Kriminalroman »Der lange Abschied« einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Und der Absinth, auch »Grüne Fee« genannt, hat schon so manchen Künstler, unter anderem Edgar Allan Poe, zu Phantasiestücken inspiriert.
Hot Toddy
4 cl Gin
2 cl Zitronensaft
2 cl Zuckersirup
heißes Wasser zum Aufgießen
1 Zitronenscheibe
Gin, Zitronensaft und Zuckersirup in eine vorgewärmte Glastasse geben. Mit heißem Wasser auffüllen und eine zitronenscheibe (evtl. auch Nelken und eine Zimtstange) hinzufügen.