Die Unterblichkeitsformel

TATJANA KRUSE

Die stirbt nie. Die wird 101. Wie die englische Queen Mum. Und warum? Weil Gin Tonic konserviert. Darum.

Die ersten zehn Jahre mit ihr waren wundervoll, die nächsten zehn Jahre so lala, dann kamen zehn Jahre, da hätte ich sie jeden Tag in die Tonne klopfen können, mehrmals, aber danach ging's eigentlich. Und nach vierzig gemeinsamen Jahren ist es dann irgendann auch völlig egal. Man hat sich aneinander gerieben, sich beigestanden, sich niedergemacht, sich wieder aufgebaut, und ich wette, die meisten sagen sich dann, den Rest stehen wir auch noch vollends zusammen durch. Jetzt ist eh der Lack ab, wer weiß, ob wir noch was Besseres kriegen.

So kurz vor achtzig schrumpft ja auch die Auswahl. Wobei die Frauen da die Nase vorn haben, die leben ja in aller Regel länger. Sieht man sehr gut bei uns in der Seniorenresidenz. Mehr Frauen als Männer. Im Verhältnis vier zu eins. Ich persönlich dachte immer, eines Morgens liegt die Marlene tot neben mir im Bett, und dann habe ich noch zehn, fünfzehn wilde Jahre, wo ich mir im Altersheim die Gespielinnen aussuchen kann. Weil nämlich, in meiner Familie werden die Männer alle uralt. Wie der Heesters. Ich habe allerbeste Chancen, die Marlene zu überleben. Dachte ich immer.

Aber die Marlene, die stirbt nicht. Weil sie Gin Tonic trinkt, jeden Abend. »Das ist mein Lebenselixier«, pflegt sie zu sagen, dann kichert sie albern. Jeden Abend. Wobei mich das Trinken weniger stört als das Kichern. Wenn ich nicht so furchtbare Arthrose hätte, weshalb ich den Arm nicht mehr hochbekomme, ich hätte sie womöglich schon längst im Affekt erschlagen. Geht aber nicht mehr. Ist ja auch gut so, ich will in meinem Alter nicht mehr in den Knast. Ich will hier bleiben, in einer der Penthouse-Suiten im Seniorenstift Elbblick mit hanseatischem Flair, Live-Pianomusik zum Abendessen und vielseitigem Freizeitangebot. Sowie einem äußerst leckeren Buffet an weiblichem Augenschmaus: einer ehemaligen, für ihr Alter enorm gut erhaltenen Opernsängerin, zwei Witwen betuchter Kaufleute, noch 1A in Schuss, und einer rassigen Chilenin, von der es heißt, sie habe einmal was mit Mick Jagger gehabt. Die sind alle scharf auf mich. Die könnte ich allesamt nacheinander vernaschen, dank moderner Chemie sogar quasi gleichzeitig! Wenn Marlene nicht wäre. Deren ererbtes Vermögen uns den Aufenthalt in diesem Luxusstift sichert.

Kurz und gut, Marlene muss weg!

Plötzlich lässt mich eine Stimme aus meinen überlegungen hochschrecken.

»Für Sie ausnahmsweise auch einen Gin Tonic?«

Ich schüttele den Kopf.

Jeden Abend zur blauen Stunde mutiert Schwester Rosemarie, die tagsüber die Pflegefälle windelt, zur Barkeeperin im Salon des Seniorenstifts. Ich bringe mir immer mein eigenes Bier mit, weil ich keine Windelhände an meinem Schlummertrunk will. Bügelflaschenbier, wegen des Plop.

Marlene bestellt stets einen Gin Tonic, an guten Tagen auch mal zwei.

»Cheers«, ruft Marlene da auch schon.

Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen und hebe meine Bierflasche. »Auf dein Wohl«, sage ich und ersetze innerlich Wohl durch Ableben.

Praktischerweise bin ich vor meiner Pensionierung Apotheker gewesen. Unpraktischerweise würde mich das sofort auf den ersten Platz der Verdächtigenliste katapultieren, sollte Marlene jemals vergiftet werden. Außer Gift kann ich aber nichts. Wäre mir auch zu blutig. Ich bin ja kein Schlachter. Ich habe studiert.

»Cheers!«, rufen die Chilenin, die Kaufmannswitwen, die Opernsängerin, zwei hässliche Kröten, die in meinem Universum namenlos bleiben, und der ehemalige Fernsehmoderator, mein einziger Konkurrent in dieser Damenrunde. Na ja, was man so Konkurrent nennt. Ich habe noch meine eigenen Zähne und trage kein Echthaar-Toupet, das beim Liebesspiel ständig verrutscht und von ihm dann wieder in Position gerückt wird, wie die Chilenin meiner Frau einmal verraten hat.

Jedenfalls prosten alle Marlene zu.

Meine Marlene hat im Laufe der Zeit tatsächlich die ganze Truppe zu Gin Tonic-Trinkern bekehrt. Alle, alle machen es ihr nach. Wie die Lemminge. Ich natürlich nicht. Ich rolle nur mit den ugen.

Im Stift geht man davon aus, mein ›Giftschrank‹, bestehend aus Strychnin, Arsen, Belladonna, Curare, Thallium, Nikotin, Digitalis, sei eine harmlose Sammlung von alten, braunen Apothekenfläschchen mit von Hand kalligraphierten Etiketten und abgestandenem Wasser als Inhalt. Quasi nur etwas fürs Auge.

»Großer Gott, Sie haben Gift mit in das Stift gebracht?«, rief die Direktorin bei der als Blumenstraußbegrüßung getarnten Erstbegehung nach unserem Einzug entsetzt.

»Stimmt, schauen Sie her!«, sagte ich, die Strychnin-Flasche an die Lippen gesetzt und auf einen Zug geleert. Die Gute erlitt beinahe einen Herzkasper. Köstlich!

»Ist nur Wasser«, beschwichtigte ich grinsend.

Was mit – einer einzigen Ausnahme – auch stimmt …

»Ein Teil Gin, zwei Teile Tonic, drei Eiswürfel und eine Scheibe Zitrone«, erklärt Marlene dem Ersatz für die im Urlaub befindliche Rosemarie. Einem schmucken neuen Altenpfleger namens Micha. Nicht Michael, nein, Micha. Mich stört diese plumpe Vertraulichkeit. Die anwesenden Damen offenbar nicht. Sogar die alte Gymnasialdirektorin, die sonst nie ihr Zimmer verlässt, hat sich jetzt mit ihrer Gehhilfe einen Platz an der Bar gesichert. Was lernen wir daraus? Ist das Fleisch auch schwach, die Augen funktionieren noch. Und grummelnd muss ich einräumen, dass dieser Micha Michelangelos David verblüffend ähnlich sieht.

»Heutzutage gibt es doch so viele Gin-Sorten. Kann ich Sie denn gar nicht zu einer der angesagten neuen Sorten verführen?« Dieser Micha schmalzt meine Marlene an. »Monkey 47, Botanist, Duke oder unsere wunderbare Hamburger Gin-Marke, Sul?« Micha gibt alles, aber an meiner Marlene prallt er ab.

»Ich bevorzuge den Klassiker, junger Mann«, fertigt sie ihn ab.

Er zwinkert ihr zu. »Ich mache jetzt für zwei Wochen hier die Bar, noch gebe ich die Hoffnung nicht auf …«, deutet er augenbrauenwackelnd an.

Die Frauen kichern. Auch meine Marlene. Ich schaue zu den Gin-Flaschen. Sie stehen alle aufgereiht wie gläserne Soldaten direkt an der Theke. Insgesamt zehn Flaschen. Die Direktorin hat ordentlich aufgestockt, seit alle Gin Tonic trinken.

Hm, denkt es in mir.

»Cheers!«, jodelt Marlene.

Wie lange noch?

Die typischen Symptome einer Alkaloid-Vergiftung sind eine gerötete und heiße Gesichtshaut, Trockenheit der Schleimhäute, Puls-Beschleunigung und Erweiterung der Pupillen. Mit zunehmenden Alkaloid-Dosen schreitet die Symptomatik fort, und es werden psychomotorische Unruhe-Zustände beobachtet, die sich zu Tobsuchtsanfällen steigern und von Sehstörungen, Verwirrtheit, Rededrang und Halluzinationen begleitet werden. In schweren Fällen tritt am Ende Tod durch Atemlähmung ein.

Entschuldigung, wenn ich kurz mal den trockenen Apotheker gebe, aber es ist mir wichtig, dass Sie den Profi in mir erkennen. Ich weiß sehr genau, dass aufgrund der geringen Dosis an Belladonna, mit denen ich den Lieblings-Gin meiner Frau in der Seniorenstiftbar versetzen werde, niemand sterben wird. Nicht einmal die gesundheitlich angeschlagene Gymnasiallehrerin.

Rote Wangen, leichte Unruhe, Übelkeit – mehr ist nicht zu erwarten. Mit einer Ausnahme natürlich. In das Glas meiner Marlene würde ich mithilfe einer Pipette so viel Belladonna träufeln, dass der Tod durch Atemstillstand absolut sicher ist. Und dann … Freiheit! Ich brauche nur noch ein Alibi.

Ich gebe mir eine Woche.

Die Genialität meiner überlegungen besteht darin, dass ich an den folgenden drei Nachmittagen in den kleinen, aber im Viertel sehr beliebten Supermarkt an der Ecke gehe, der hat nämlich nur an der Kasse eine überwachungskamera, und dort jeweils zwei ganz leicht mit Belladonna versetzte Flaschen des Lieblings-Gin meiner Frau in die Regale stelle. Im Hobbykeller des Seniorenstifts versetzte ich die Flaschen, die ich mir in dem Getränkemarkt in der Nähe der S-Bahn-Haltestelle besorgte habe, mit jeweils einer geringen Menge Belladonna und klebte dann mit Hilfe von transparentem Nagellack am Flaschenrand die Verschlusskappen wieder fest. Dank dieses Tricks wird jeder die Kappen für unversehrt halten und beim Öffnen keinen Verdacht schöpfen. Und nach dem ersten Glas Gin Tonic Krämpfe bekommen.

Was wollen Sie denn? Ich weiß, dass ich damit weder Kindern noch Schwangeren noch Kranken schade, die trinken nämlich allesamt keinen Gin. Es trifft also keine Unschuldigen. Aber es wird demnächst im ganzen Viertel Gin-Vergiftete geben – der Verdacht wird mithin nicht auf mich fallen, sondern auf irgendeinen durchgeknallten Psychopathen.

Sagte ich schon, wie genial mein Plan ist?

Schlichtweg obergenial.

Schon am fünften Tag kommt eine Durchsage im NDR. Vor dem Genuss von Gin in Blankenese werde nachdrücklich gewarnt.

Ich grinse in mich hinein. Heute ist es also so weit.

Punkt 18 Uhr betreten Marlene und ich den Panoramablick-Salon, in dem sich die hauseigene Bar befindet. Die Chilenin ist schon da und sitzt in einem Fauteuil am Kamin. Ich schaue nicht zu ihr hinüber. Es soll hinterher keine Spekulationen geben. Aber ich atme tief ihr Lieblingsparfum ein, das in einer süßlichen Wolke zur Bar wabert.

Altenpfleger-Schrägstrich-Marmorgott-Schrägstrich-Barkeeper Micha ruft: »Das übliche?«

Marlene nickt. Ich stelle meine mitgebrachte Bierflasche auf die Theke.

»Ich habe mir auch schon einen Gin Tonic bestellt«, gurrt die Chilenin mit ihrem entzückenden Akzent. »Sie sollten Prozente von den Gin-Herstellern bekommen, liebste Marlene, bei all der Werbung, die Sie für Gin Tonic machen.« Die Frauen kichern.

Während Micha den Gin Tonic für meine Frau mixt, plaudert Marlene mit der Chilenin.

Ich höre gar nicht hin. Meine volle Konzentration gilt dem Gin Tonic.

Micha zwinkert mir zu. Verschwörerisch?

Ich bekomme feuchte Handflächen.

Er stellt das Glas auf die Theke.

Jetzt gilt’s!

»Heute habe ich ausnahmsweise keine Bügelflasche dabei«, rufe ich rasch. »Hätten Sie einen Flaschenöffner für mich?«

Micha dreht sich zu der Schublade um, in der die Flaschenöffner liegen.

Ein lichtgeschwindigkeitsschneller Blick zu Marlene und der Chilenin. Nein, die achten nicht weiter auf mich.

Also Pipette raus und Belladonna in den Gin Tonic träufeln. Schon ein winziger Schluck wird genügen, um Marlene in die Gefilde der Seligen zu befördern. Ganz so schnell, wie ich hoffte, geht das Träufeln mit meinen arthrosegeplagten Fingern zwar nicht, aber Micha braucht ohnehin etwas länger, was daran liegt, dass ich – als ich die winzigen Mengen Belladonna in die Gin-Flasche gab – die Flaschenöffner ganz nach hinten in die Schublade geschoben habe.

Na bitte, perfekt!

»Cheers!«, rufe ich beschwingt, nachdem Micha mir den Flaschenöffner gereicht hat und ich mein Bier geöffnet habe.

Marlene setzt das Glas an die Lippen.

Ich starre sie an, merke, dass ich starre, wende den Blick ab, verschlucke mich an meinem Bier.

Marlene trinkt aber nicht, sie schnuppert nur am Rand des Glases. »Das ist nicht meine Lieblingsmarke!«, erklärt sie streng.

»Aber natürlich«, versichert Micha.

»Hören Sie, junger Mann, ich habe schon Gin Tonic getrunken, da waren Sie noch gar nicht auf der Welt!«, insistiert Marlene.

Mir ist, als müsste ich eingreifen, aber ich weiß nicht wie. Zudem bin ich mir absolut sicher, dass man die Belladonna-Beigabe nicht herausriechen kann. Was hat sie nur?

»Lassen Sie mich probieren«, verlangt die Chilenin.

Jetzt weiß ich, wie ich reagieren muss. Nämlich indem ich der rassigen, süß duftenden Südamerikanerin das Glas aus der Hand schlage, bevor es zu spät ist, aber sie ist schneller als ich .

»Ich finde, es schmeckt wie immer«, erklärt die Chilenin nach einem kräftigen Schluck und stellt das Glas ab.

Ich seufzte. Adios, Chilenin. Nun gut, mir blieben ja noch die Opernsängerin und die beiden Kaufmannswitwen.

»Unsinn!«, widerspricht Marlene und faucht Micha an: »Geben Sie es doch einfach zu – Sie wollten mich eigenmächtig zu einer anderen Gin-Sorte bekehren!«

»Aber gnädige Frau …«, fängt Micha an.

»Gnädige Frauen Sie mich nicht! Wollen Sie wirklich behaupten, es handele sich um meinen Lieblings-Gin? Probieren Sie!« Sie schiebt ihm ihr Glas entgegen.

Dieses Mal gebe ich alles und schiebe das Glas unter Missachtung aller Schulterschmerzen rasch nach links außer Reichweite von Micha. Bei der Chilenin wird sich niemand groß wundern, wenn sie stirbt, sie ist ja alt, aber wenn so ein junger Kerl wie Micha das Zeitliche segnet, wird es unangenehme Fragen geben. Und eine Autopsie.

»Ah, es ist wieder Gin o'Clock!«, trällert es plötzlich zu meiner Linken. Die Opernsängerin hat sich lautlos angeschlichen – vielleicht muss ich auch mein Hörgerät neu justieren –, und noch bevor ich eingreifen kann, greift sie sich mit der stark beringten Rechten Marlenes Gin-Tonic-Glas und nimmt einen kräftigen Schluck.

Mir fällt die Kinnlade herunter.

Okay, bleiben also nur noch die beiden Kaufmannswitwen. Noch kommt aber keine Panik in mir auf, es ist ja immer noch ein flotter Dreier möglich.

Sofern Marlene den Rest des Glases austrinkt.

»Köstlich!«, erklärt die Opernsängerin und stellt das Glas ab.

»Siehst du, Schatz«, rufe ich, »es ist doch dein Lieblings-Gin. Sonst hätte ihn Frau von Cipriani doch nicht so genossen. Sie erkennt Qualität, wenn sie sie schmeckt.«

»Nichts für ungut«, sagt meine Marlene in Richtung der Opernsängerin, »aber mit über 80 liegen die Geschmacksknospen schon im Koma. Ich weiß, dass das nicht mein Gin ist!«

Ich schaue zu Marlene, nicht auf das Glas, darum bekomme ich zu spät mit, wie sich Micha das Glas schnappt und einen ordentlichen Schluck nimmt.

In mir denkt es: »Scheiße!«

»Das ist definitiv Ihr Lieblings-Gin!«, erklärte er mit einer gewissen Finalität.

Marlene schnaubt.

»Mir ist nicht gut«, verkündet die Chilenin. Schwer torkelt sie ein paar Schritte zurück und lässt sich in den Fauteuil sinken.

Außer mir bekommt das keiner mit. Die Kampfhähne Marlene und Micha sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und die Opersängerin guckt schon glasig.

»Das ist nicht meine Gin-Marke, das ist eine andere. Und das haben Sie absichtlich gemacht, Sie Flegel, weil Sie mich bevormunden wollten!«, unterstellt Marlene. Sie konnte immer schon wie ein Pitbull sein: wenn sie sich einmal in etwas verbeißt, lässt sie nicht mehr los.

»Juhu, gibt's hier eine Party?« Die beiden stets gut gelaunten Kaufmannswitwen platzen herein. Sie sehen an diesem Tag besonders entzückend aus. Unwillkürlich muss ich lächeln. »Nur herein, meine Damen«, flöte ich ganz automatisch.

»Man versucht mir hier gerade, etwas unterzujubeln, was ich so nicht bestellt habe«, moniert Marlene.

»Ist es hier so warm oder bekomme ich Hitzewallungen?«, fragt die Opernsängerin, fächelt sich mit der Hand Luft zu und lässt sich gegenüber der Chilenin auf der Couch nieder. Ich schaue stirnrunzelnd hinüber. Die Chilenin wirkt schon sehr blass und atmet nur noch flach.

»Sagen Sie ehrlich, was für eine Gin-Marke ist das?«, will Marlene wissen, und bevor ich eingreifen kann, hält sie das – immer noch halb volle – Glas den Kaufmannswitwen hin. Die Jüngere der beiden – sehr blond, sehr drall, sehr lebenslustig – nimmt ihr das Glas ab und kostet.

»Nein!«, gelle ich.

Die drei Frauen zucken zusammen und starren mich an.

»Das ist … doch unhygienisch«, ergänze ich lahm. Was hätte ich sonst auch sagen sollen.

»Ach, wir sind hier doch unter uns«, erklärt die zweite Kaufmannswitwe, nimmt ihrer Freundin das Glas aus der Hand und probiert ebenfalls.

Das war's also. Ich heule beinahe. Sämtliche Leckerschnitten im Seniorenstift sind jetzt ausgelöscht. Durch meine Hand. Obwohl die Hand, die nun das Glas hält, meiner Marlene gehört.

Ich kippe die Hälfte von meinem Bier in einem Zug.

»Das könnte durchaus Ihr Lieblings-Gin sein, liebe Marlene«, sagte die zweite Kaufmannswitwe. »Huch, Gisela, ist dir nicht gut?«

Neben ihr krallt sich die erste Kaufmannswitwe in die Holztheke, hinter der sich Micha gerade explosionsartig übergibt. Der ist jung und fit, der könnte das sogar überleben.

Ich schaue zur Chilenin. Sie sitzt mit weit offenen Augen und heraushängender Zunge im Fauteuil. Die ist definitiv schon tot.

Die Opernsängerin ist von der Couch gerutscht und liegt vor dem Panoramafenster auf dem Perserteppich. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich konvulsivisch. Die macht es auch nicht mehr lange.

Jetzt kriegt auch meine Marlene mit, dass irgendwas nicht stimmt. »Was ist denn heute hier los?«, fragt sie.

Die Kaufmannswitwen torkeln zur Sitzgruppe neben der Bar. Die eine der beiden hat Marlenes Gin-Glas mitgenommen und sagt gerade zur anderen: »Nimm noch einen Schluck, dann geht es dir gleich besser.« Wenn die wüsste.

Schlagartig merke ich, mir ist auch nicht gut. Vermutlich ist das Massenhysterie, denke ich, die ist ja ansteckend. Ein ganz natürliches Phänomen.

»Henner, wie ist dir?«, fragt mich Marlene und guckt besorgt. »Das muss am Fisch liegen. Ich hab noch gesagt, der riecht komisch, hab ich's nicht gesagt? Aber ihr wolltet ja heute Mittag alle den Fisch essen. Hier, nimm noch ein wenig von deinen Stärkungstropfen.« Sie zieht die Pipette aus meiner Herrenhandtasche. »Ich hab dir gerade eben schon ein bisschen was ins Bier geträufelt, weil du den ganzen Tag schon so nervös gewirkt hast, aber es kann nicht schaden, wenn du noch mehr nimmst.«

»Marlene!«, will ich rufen, aber meine Stimmbänder gehorchen mir nicht mehr. Der Teufel steckt im Detail. Ich habe mir in der Tat hin und wieder selbst gemixte Stärkungstropfen mittels Pipette genehmigt. Jetzt rächt sich das.

Meine Zunge wird pelzig. Mein Herz rast. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern. Ich gleite vom Barhocker. Marlene beugt sich über mich. Sie sagt etwas, aber ich kann sie nicht mehr hören. Ich habe nur noch einen Gedanken:

Die stirbt nicht. Die stirbt nie!

Verdammter Gin Tonic!

Gin & Tonic

Eiswürfel

Bombay Sapphire Gin (5 cl)

Limette (geviertelt)

Schweppes Indian Tonic Water

Das klassische Rezept von Queen Mum:
Einige Eiswürfel in ein Longdrinkglas geben, den Gin zugießen, mit Tonic Water auffüllen. Ein Limettenviertel am Rand ausdrücken und in das Glas geben. Umrühren. Fertig. Trinkhalm optional.