Margarita geht

TESSA KORBER

Sie hatte die Wüste um Albuquerque immer geliebt: den kargen Boden, der gerade genug wachsen ließ zwischen den Steinen, um zu begreifen, was Dürre bedeutete. Die roten Felsen in der Ferne, den Himmel darüber: lückenlos, gnadenlos. Wortlos. Und dieses Wissen: Wenn man nur lange genug in eine Richtung ging, dann kehrte man nie wieder zurück.

Die Wüste war der schöne Tod, das hatte sie begriffen. Der Ort, an dem die Faszination des Sterbens sichtbar und fassbar wurde. Alle ihre Bilder hatten davon und von nichts anderem gehandelt. Dennoch hatte sie sich am Ende für einen anderen Weg entschieden.

Einen letzten Spaziergang unternahm sie noch, ohne Staffelei. Sie saß lange auf einem Stein, wie eine Echse, schloss die Augen in der Sonne, die ihren Puls verlangsamte. Lauschte. Lauschte auf das große Rauschen. Es war der Wind an ihren Schläfen, das Blut in ihren Adern oder auch die Drehbewegung der Erde im Kosmos. Oder alles zusammen. Dann fuhr sie nach Hause. Sie war soweit.

Der Sommer war groß gewesen, er hatte das Erdreich und die Mauern der Adobehäuser zur selben Farbe verbrannt. Die Luft über der Oldtown flirrte. Die Bürohäuser gleißten in der Sonne. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um die Ampelschaltungen mitzubekommen. Die Stadt war lebhaft, aber das war der Ort des Nichtwissens. Die Touristen in den Indianerkunst-Galerien wussten nichts von den stinkenden Ufern des Rio Grande hinter den Industriebrachen. Der grünbraune Fluss, der mehr stand als strömte, wusste nichts von der Wüste. Die Wüste starrte verständnislos auf die Kondensstreifen der Flugzeuge, die vom nahen Albuquerque International Sunport aufstiegen. Nichts hing zusammen, dachte Margarita. Und ich hänge an nichts.

Sie ließ die Scheiben ihres Chrysler hochfahren und bog in die stille Wohnstraße ein, in der sie lebte. Sie stellte den Wagen in die Auffahrt und ging hinein. Kühle. Schatten, den man in der Stadt nicht für möglich hielt. Ein vertrauter Geruch und das Summen des Kühlschranks.

Sie hatte alles gut vorbereitet. Was hieß vorbereitet: Ihr Tod war ein Gemälde, an dem sie schon viele Jahre lang arbeitete. Am wichtigsten war es gewesen, dass die Kinder alt genug waren. Selbstständig, in eigenen Leben verwurzelt, nicht mehr abhängig von ihr und ihren Gefühlen. Sie hätte es sich nicht verziehen, einer ihrer Töchter durch ihre Tat den Mut zu einem eigenen Leben zu nehmen. Denn das Fazit, das sie gezogen hatte, galt nur für ihr eigenes Dasein. Sie sah es nicht als allgemeingültig an. Es war ihre ganz private Angelegenheit. Und sie war bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Nun lebte Miranda in Australien und hatte eine eigene Familie – schon die Entfernung würde ihr alles abstrakt erscheinen lassen. Maud hatte ihre Wissenschaft. Ihre Haltung zum Leben war streng rational, das würde ihr Kraft geben. Nein, nach dieser Seite hin war alles geregelt, so gut das eben möglich war.

Margarita schüttelte die Pumps ab und zog sich das leichte Sommerkleid über den Kopf. Ihr Haus war nicht einsehbar; von den Nachbargärten trennten sie Betonmauern, die im Lauf der Jahre zugewuchert waren mit Efeu und Jacaranda. Dank ihrer lagen der Garten und der Pool im Schatten, einem wohltuenden, graugrünen Schatten, der auch das Haus mit Dämmerung erfüllte. Nach der Hitze draußen tat das wohl. Nackt stand sie in der Küche und trank ein Glas Wasser aus dem Hahn. Es schmeckte abgestanden. Sie ging den Bademantel holen.

Es war ihr auch wichtig gewesen, dass ihre Eltern nichts davon mitbekamen. Sie hätten sich Vorwürfe gemacht, die Schuld bei sich gesucht, einen grundlegenden Fehler in der eigenen Erziehung vermutet. Die Tochter Künstlerin werden lassen, war das denn richtig gewesen? Hatte nicht da das ganze Elend angefangen?

Aber auch diese Gefahr war gebannt. Ihre Mutter war letztes Jahr überraschend an Krebs gestorben, ihr Vater lebte in einem Heim und wusste von sich und der Welt immer weniger. Ob man ihm ihren Tod verheimlichte oder nicht – darauf kam es vermutlich nicht mehr an.

Seltsamerweise machte sie sich keinerlei Gedanken über die Reaktion ihres Mannes. Er ist erwachsen, das war alles, was ihr dazu einfiel. Sie schaffte es einfach nicht, sich für ihn verantwortlich zu fühlen. Sie fand das bemerkenswert, denn immerhin hatte sie bislang nichts dagegen gehabt, das Leben mit ihm zu teilen, für ihn zu kochen, seinen Erzählungen zu lauschen und hin und wieder mit ihm zu schlafen. Unter dem gemeinsamen Alltag jedoch schlummerte offenbar eine Ablehnung, die mit Gleichgültigkeit schon nicht mehr ausreichend beschrieben war. Das war eine überraschung für sie. Die jedoch in diesem Stadium keine große Rolle mehr spielte. Immerhin schien es ihr anzuzeigen, dass jemand wie sie, der sich seiner eigenen Gefühle und Wünsche so wenig bewusst war, sich für dieses Leben einfach nicht eignete.

Sie hatte auf die Wettervorhersage geachtet und den Pool gereinigt. Nun kam der Margarita an die Reihe. Der Tequila, den sie besorgt hatte, war ein leicht goldener Herradura Blanco, der vor der Abfüllung noch 40 Tage im Eichenholzfass gereift war. Er verband mit dem weichen Agave-Aroma eine Würze, die gut zum Orangenaroma des Triple Sec passte. Sie hatte frische Limetten besorgt. Die Gläser mit dem Salzrand hatte sie schon vorbereitet und auf einem Tablett in den Kühlschrank gestellt. Es würde ein kleines Fest werden, nur für sie alleine. Warum hatte sie mehrere Gläser fertig gemacht?

Unwillkürlich musste Margarita an die großen Feste denken, für die sie die Drinks früher gemixt hatte, denn sie wählte dieselbe große Kanne, um sie mit gestoßenem Eis zu füllen, einen Pitcher, wie es so schön heißt.

Früher waren sie viele gewesen, junge Ehepaare, die in dieser Straße ihre Kinder aufzogen, lebenslustig, gleichgerichtet, Männer, die in Büros fuhren, und Frauen, die einkaufen gingen und danach ihre Teilzeitberufe ausübten. Die Mittel gegen Erkältung und Methoden diskutierten, Kinder zum Einschlafen zu bringen. Die Baseballergebnisse und die Börsenkurse kommentierten. Mal ein Schwips, mal ein Streit, mal ein Seitensprung.

Nicht bösartig, aber überschaubar. So abgrundtief überschaubar. Nie war sie ganz dabei gewesen, immer ein wenig abseits, um das Ganze von außen zu betrachten und sich zu wundern. Dabei hatten diese gedankenlosen Abende ihr zu ihrem Spitznamen verholfen: Margarita, nach dem Getränk, das sie so meisterlich zubereitete. Wer hieß schon gerne Margery?

Der Pitcher wog schwer in Margaritas Hand. Ein Teil der Tülle war abgestoßen. Sie wusste, an welchem Tag das geschehen war. Das Glas beschlug. Draußen funkelte eine Ecke des Pools in der Sonne. Unruhig, magisch.

Margarita erinnerte sich, wie sie als Kind geschwommen war: das Glitzern immer unterbrochen, wenn es auf die eigene Haut traf. Sie tauchte gerne: die Arme und Beine der anderen, blass und kühl, langsam in den Bewegungen, so wie die Töne unter Wasser verzerrt waren. Luftblasen lösten sich einzeln oder in Kaskaden von der Haut. Haar wogte aufgefächert. Auf dem Boden das ringelnde Muster der Sonnenstrahlen, ein endloses Spiel. Bis einen irgendwann die Atemnot zwang aufzutauchen.

Diesmal würde sie unten bleiben. Endlich aufgenommen in diese verlangsamte Welt aus Schönheit und Licht.

Das Eis stand bereit, Limetten-Scheiben warteten. Es duftete nach der Frucht und dem Alkohol des Tequila. Er gluckerte weich, als er aus der Flasche floss. Aus dem blauen Herz der Agave war er gemacht. Das hatte von Anfang an ein Bild in ihr hervorgerufen. Das Blau, das Herz, wie ein Gemälde von Magritte. Die Indianer nannten es das »Haus des Mondes«. Sie hatte einmal versucht, es zu malen. So viele köstliche, wunderbare Einzelheiten. Sie genoss jede einzelne.

Entschlossen gab sie noch ein paar Aentiliter dazu. Der Alkohol, viel Alkohol, war wichtig, damit die Leber beschäftigt war und es ihr nicht am Ende noch gelang, mit dem plötzlich ansteigenden Insulinpegel fertig zu werden. Sie hatte schnell wirkendes Insulin gewählt, viel davon. Für ein Koma sollte es reichen. Und falls der Druck auf den Hirnstamm nicht ausreichen sollte, um einen Atemstillstand herbeizuführen, so würde der Swimmingpool den Rest erledigen. In seine sauberen, blauen Tiefen würde sie versinken, sobald sie in Ohnmacht fiel, und dort im Schlaf ertrinken.

Dann zog sie die Nadel auf. Zwei Injektionen würden nötig sein, zur Sicherheit. Subkutan war das keine Affäre. Ein kleiner Pieks, der das Idyll nur unwesentlich störte. Sie nahm einen Schluck zur Stärkung.

Es klingelte an der Haustür.

Margarita zog den Bademantel enger und ging öffnen. Es war Miles, der Postbote. Er überreichte ihr ein Päckchen – und brach in Tränen aus. Sie rannen über sein Gesicht, während er mit seinem elektronischen Gerät und dem Tippstift hantierte. Es war, als würde er es gar nicht bemerken. Seine Wangen waren flammend rot, er mied ihren Blick, seine Hände zitterten.

Einen Moment lang erwog Margarita, einfach nur zu unterschreiben, die Tür mit einem neutralen »Danke« zu schließen und sich ihrem eigenen Tod zu widmen. Stattdessen fragte sie:

»Wann ist es passiert?« Sie wusste aus früheren Gesprächen, dass seine Frau Leberkrebs hatte. So wie sie wusste, dass der Obstverkäufer im Walmart Freeclimber war, die Frau von der Waschstraße Katzen liebte und ihre Nachbarin Kimberley auf einer Dating-Plattform unterwegs war. Die Menschen erzählten ihr gerne Dinge.

Er nickte. »Gestern.«

Gestern. Und heute ging er arbeiten? Mit einem tiefen Seufzer entschied sie, was im Grunde nicht zu ändern war. »Kommen Sie rein.« Den Mann konnte man so nicht über die Straße taumeln lassen. Er schlich durch den Flur und das Wohnzimmer. Vor der Terrassentür zögerte er. »Schön.«

»Den Pool hat mein Vater gebaut.«

Miles schniefte und nickte. Noch immer die Post umklammernd, ließ er sich in einen der üppig gepolsterten Stühle sinken.

Sie reichte ihm eine Margarita. Er konnte den Drink dringender gebrauchen. Im Grunde hatten sie etwas gemeinsam: Der Tod hatte sie berührt. Das konnte sie ihm allerdings nicht sagen. Er brauchte Nahrung für Lebende. Er hatte etwas Schlimmes erlebt. Und sie selbst war, solange sie den letzten Schritt nicht vollzogen hatte, nur ein frivoler Gast in diesem Bezirk, so leichtfertig wie ihre nackte Haut unter dem Bademantel. Was aber sollte sie sagen? Alles wird gut? Das Leben geht weiter? Lächerlich.

Doch ehe sie sich ein paar beruhigende Worte zurechtgelegt hatte, läutete das Telefon. Ihre Tochter war dran, Miranda. Margarita hörte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. »Nein«, widersprach sie, »das liegt nicht an der Leitung, Liebling. Mütter hören so etwas. Also, was ist los?«

Sie brauchten Geld, viel Geld. Und sie brauchten es praktisch sofort. »Dwayne hat Mist gebaut, Mama!« Wie sich herausstellte, bedeutete Mist bauen, dass er seinem Arbeitgeber in die Kasse gegriffen hatte. Und morgen stand die Revision an. »Mama? Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Mama?«

Margarita war schon auf ihrer Online-Banking-Seite. Hektisch tippte sie. »Süße, ich muss jetzt Schluss machen. Geld kommt, keine Sorge.« Sie legte auf, mitten hinein in das »Aber« ihrer Tochter. Dann wählte sie die Nummer der örtlichen Bankfiliale. Die überweisung, die sie getätigt hatte, war nicht gedeckt, das wuss te sie. Angespannt verlangte sie den Filialleiter, um ihm klar zu machen, dass sie ihm als Sicherheit ihren Anteil am Haus anbot. Allerdings müsse es schnell gehen, unbürokratisch. Sie würde alle Papiere noch heute vorbei bringen. Jetzt, sofort. Sie habe einen Boten an der Hand. In einer Stunde sei alles erledigt. Man kenne sich doch. Unmöglich? Warum sollte das unmöglich sein? Sie legte auf. Unmöglich, dachte sie, war das, was die Menschen sich Jahrzehnt um Jahrzehnt antaten, ohne einen Moment nachzudenken. Unmöglich war es, einen Moment des Friedens im Leben zu finden, der anhielt. Selbst Liebe war unmöglich. Genau wie die Hoffnung, man könnte die Verantwortung für all die anderen, die man sich im Laufe seines Lebens auflud, über die gesamte Strecke ertragen. Geschweige denn ihr gerecht werden. Und doch versuchte man es, wieder und wieder. Sie war so müde. Doch im Moment war alles Aktivität. Sie wollte sich gerade auf die Suche nach Miles, dem Postboten machen, da kam ihr ihre Nachbarin Kimberley entgegen.

»Es war offen.«

Margarita verfluchte den Postboten, der die Tür nicht geschlossen hatte, dann, wie immer, sich selbst.

»Und das lag vor der Tür.« Kimberley schwenkte einen Zettel. »Ich wusste gar nicht, dass du Gedichte schreibst.«

»Das ist von mir«, sagte eine männliche Stimme. Sie fuhren herum. Aus der Küche kam der Biokisten-Mann. Indiozüge, graue Schläfen.

»Die Tür stand offen«, entschuldigte auch er sich. »Und da dachte ich, es ist besser, ich stelle das Gemüse in den Schatten. Vorne knallt ja die Sonne. Ich hab gerufen, aber …«

»Schon gut.« Sie winkte ab. Die Bio-Kiste – sie hätte sie abbestellen müssen. An das Haus des Mondes hatte sie gedacht. Aber an die Tomaten nicht.

Kimberley mischte sich ein. »Das haben Sie geschrieben?«

Er wurde rot, als er bejahte, und fuhr sich durch die halblangen Haare. Er hatte schöne Hände, schlank und blass, trotz der schmutzigen Nägel.

Geradezu gierig verfolgte Kimberley jede seiner Bewegungen und nahm jeden Zug des verlegenen, freundlichen Gesichtes in sich auf. »Das ist ja hochinteressant«, fing sie an. »Ich arbeite nämlich für das Albuquerque Museum. Wir konzipieren gerade eine Ausstellung über lokale Schriftsteller. Sie wissen schon, Heimatdichter. Faulkner war mal hier. Stephen King auch. Immerhin lebt Tony Hillerman hier. Und kennen Sie die Science Fiction von Norm Zollinger? Da wäre es doch ganz toll, wenn wir eine zeitgenössische Stimme …«

Mehr bekam Margarita nicht mit, denn Kimberley hatte ihr Opfer am Arm gepackt und zum Pool geführt. Durch die Scheibe der Terrassentür sah sie noch, wie ihre Nachbarin sich und dem Biopoeten Margaritas einschenkte. Das Eis schmolz langsam; sie würde neues bringen müssen. Der Postbote schien eingeschlafen zu sein, vielleicht hatte ihn auch die Trauer überwältigt. Doch im Moment hatte sie Wichtigeres zu tun. Sie musste den Kaufvertrag für das Haus heraussuchen, den Banker überreden und … Das Telefon klingelte erneut.

»Ich hab’s gleich«, blaffte sie in den Hörer in der Annahme, die Bank sei dran. Es war aber das Pflegeheim, das ihr mitteilte, dass ihr Vater vermisst sei. Die Polizei war benachrichtigt worden. Man suchte bereits mit Hunden und Hubschraubern. Sie solle das Haus nicht verlassen. Es kämen später noch Beamte vorbei. Na prima, dachte Margarita. Besser, sie ließ das Insulin verschwinden. Und den Geräuschen nach zu urteilen, die von draußen hereindrangen, würde sie mehr Tequila benötigen. Zum Glück stand eine Ersatzflasche in der Küche. Eigentlich ein Verstoß gegen die Symmetrie ihres Planes. Aber von Planung war ohnehin nicht mehr die Rede.

An der Tür läutete es.

»Es ist doch offen«, rief sie, ein wenig genervt.

»Kein Grund unhöflich zu werden.« Maud, ihre kluge, schöne Tochter Maud, klang so abweisend wie immer. »Schau mich nicht so an. Ich hab doch geschrieben, dass ich heute vorbeikomme.«

Margarita dachte an die Briefe in der Hand des trauernden Postboten.

»Bisschen knapp«, stellte sie fest, was sich auf die Ankündigungsfrist von Mauds Besuch beziehen konnte oder auf die Länge ihres Minirocks. »Darf man das heutzutage im Labor?« Maud konnte einen harschen Ton vertragen, war selber mehr als spröde und hatte schon als Kind Zärtlichkeiten verweigert. Jetzt allerdings brach sie in Tränen aus. Nein, dachte sie. Nein! Ich will nicht. Was immer es ist! Nicht heute, nicht hier! Nicht nach all der Zeit.

Doch Maud tat ihr nicht den Gefallen, sich in Luft aufzulösen. »Professoren sind Arschlöcher«, verkündete sie. Immerhin schien sie weniger aus Kummer zu weinen, als aus Zorn.

»Wieso, hat er dich gefeuert?«, fragte Margarita, während sie in nervöser Eile im Regal nach den Unterlagen über das Haus suchte.

»Gefeuert? Er hat mich verlassen!«

Es drang nur bruchstückhaft zu Margarita durch. Da war alles, was sie benötigte: Notarvertrag, Kaufurkunde, Grundbucheintrag. »Du hattest eine Beziehung?«, fragte sie über die Schulter.

»Das scheint dich ja sehr zu erstaunen.«

»Mit deinem Chef?«

Maud schwieg beleidigt. Margarita nahm ihre Tochter am Arm. »Komm mit«, sagte sie. »Kimberley gibt dir einen Drink.«

Wäre es ein anderer Tag gewesen, sie hätte eine Flut von Gefühlen durchlaufen. Freude wäre dabei gewesen. Mitleid. Und Rührung. Ihr Baby liebte. Es hatte einen Freund. Es litt. Und es war zu ihr gekommen. Vielleicht zum ersten Mal in seinem ganzen Leben. Was hätte Margarita früher dafür gegeben!

Ein andermal. »Ich komme gleich«, beschied sie ihr Kind, ach, ihr Lieblingskind, und schob es auf die Terrasse. Sie verzichtete auf eine allgemeine Vorstellung und nutzte nur die eine freie Hand, um sich die beiden aufgezogenen Spritzen zu schnappen. Die würde sie im Badezimmer verschwinden lassen. Doch so weit kam sie nicht.

Sie war gerade im Flur, da packten zwei Hände sie bei den Schultern. Ein Gesicht drückte sich an ihren Nacken. Eine Stimme, dicht an ihrem Ohr, heiß und feucht, raunte: »Na, du süße Sau!«

Die offenstehende Tür! Margarita spürte, wie eine Hand sich von ihren Armen löste und unter den klaffenden Frottee ihres Mantels wanderte. Sie handelte, ehe sie nachdenken konnte. In einer einzigen Bewegung hob sie die Hand mit den Spritzen, rammte die Kanülen in den Hals des Angreifers und drückte auf die Kolben. Die doppelte für einen Suizid notwendige Menge Insulin breitete sich in dem fremden Blutkreislauf aus.

Der Mann schrie auf und ließ sie los. Rückwärts stolperte er gegen die Terrassentür, taumelte endlich durch die Öffnung mit wild rudernden Armen zum Pool und stürzte mit ausgebreiteten Armen hinein. Sein Trenchcoat breitete sich unter ihm aus wie ein Segel, und man konnte sehen, dass er darunter nichts trug als neonfarbene Turnschuhe.

Der Postbote, aufgeschreckt durch den Schwall kalten Chlorwassers, beugte sich vor. »Mr Brown?«, fragte er, mit einer Zzunge, an der schwer Tequila und Hitze hingen. »Wohnt der nicht in Nummer 21?«

»Wir müssen ihn rausholen«, befand der Dichter mit einem für seine Profession erstaunlichen Maß an praktischem Verstand. Kimberley assistierte ihrem Helden, auch der Postbote tat sein bestes, Maud stellte einen Liegestuhl bereit und schlug die nassen Flügel des Mantels über dem Bewusstlosen zusammen. »Meine Mutter stalken«, stellte sie fassungslos fest. »Wie eklig ist das denn?«

»Schatz, ich weiß nicht, ob Stalking der richtige Begriff ist«, sagte Margarita. Sollte sie die Polizei rufen? Sie entschied sich, stattdessen die Ehefrau des Eindring lings zu kontaktieren.

»Herrjeh«, sagte die Stimme am Telefon, kaum dass Margarita ihr mitgeteilt hatte, ihr Mann sei bei ihr ›aufgetaucht‹. »Hat er es schon wieder getan? Ich komme.« Mrs Brown erwies sich als eine auffallend sympathische Frau Mitte vierzig, die verständlicherweise eine Menge Sorgen hatte, die die Öffnung der zweiten Flasche Tequila nun dringend nötig erscheinen ließ. Der gute Triple Sec war aus, seufzend griff Margarita zu einem billigeren Cointreau.

Kurz darauf erschien auch der Lokalreporter, den Kimberley herbeitelefoniert hatte, um das Interview mit dem frisch entdeckten Heimatliteraten zu führen, der im Mittelpunkt der neuen Ausstellung stehen sollte. Mrs Brown hielt sich, da ihr eigener Gatte nicht ansprechbar war, an Miles, mit dem sie eine Menge Gemeinsamkeiten entdeckte. Maud telefonierte, am Pool auf und ab schreitend, mit ihrem untreuen Liebhaber. Als sie auflegte, schaute sie ihre Mutter an. »Kann ich eine Weile hier wohnen?«

Da es bereits dämmerte, bestellte Margarita Pizza für alle und gab dem Boten ein reichliches Trinkgeld, damit er auf dem Rückweg noch ihre Unterlagen zum Bankdirektor nach Hause brachte. Die Dinge fügten sich irgendwie. Dafür war sie bekannt, in ihrer Familie, im Freundeskreis. Margarita kriegte alles hin. Spendete Trost, bewältigte Kummer, fand Lösungen. Wie immer, dachte sie bitter, wenn’s knüppeldick kam und normale Leute weder aus noch ein wussten. Dann verausgabte sie sich, bis nichts mehr ging. Das war der Preis. Er war zu hoch.

Sie telefonierte mit Australien, telefonierte mit der Polizei und mit dem Heim und wappnete sich für den Stimmenwirrwarr von draußen, der ihr anzeigen würde, dass die anderen entdeckt hatten, dass Mr Brown nicht nur ein Schläfchen machte – das Insulin musste bereits gewirkt haben. Bislang hatte sich keiner so recht für ihn interessiert; offenbar fehlte er niemandem.

Miranda kündigte telefonisch an, mit dem nächsten Flugzeug zu kommen. Gemeinsam mit den Kindern. »Ich weiß nicht, ob ich noch verheiratet sein will.« Margarita holte tief Luft, räumte im Geist die Möbel um und versuchte, die überweisung per Online-Banking wieder rückgängig zu machen.

Die Polizei kündigte ebenfalls an vorbeizuschauen. Das Heim wollte einen Vertreter schicken. Trotzdem war es Margaritas Vater, der zuerst bei ihr auftauchte. Mit den Worten »Ich hab das selbst gebaut, mit meinen eigenen Händen«, fiel er von der hinteren Gartenmauer, die zu überklettern sein dehydrierter Körper gerade so schaffte. Den Pool erkannte er wieder, sonst aber niemanden, und weil ihm das nicht gefiel, schiss er unter den Rhododendron.

Kimberley, der Reporter und der Poet verabschiedeten sich. Maud ging nach oben schmollen. Die Polizei kam und nahm den Vater wieder mit, ohne sich um den Rest der bunten Truppe zu kümmern. Margarita holte eine Schaufel, um ihres Vaters Hinterlassenschaften zu vergraben.

Mrs Brown nahm ihr das Gerät ab. »Ich habe in meinem Garten auch noch etwas zu erledigen«, sagte sie. »Und danke.« Sie küsste die überraschte Margarita auf die Wange, lieh sich noch eine Schubkarre für den Transport ihres verblichenen Gatten und gab dem Postboten ihre Telefonnummer. Der winkte ihr lange nach. Dann sammelte er seine Post ein und setzte seine Tour mit reichlich Verspätung fort.

Unter den Briefen, die Miles ihr daließ, war Mauds Besuchsankündigung. Eine Mitteilung von Margaritas Agenten, dass die Charlotte Jackson Fine Art Gallery in Santa Fe eine Exklusiv-Ausstellung für Margaritas Wüstenbilder plante. Und die Bitte ihres Mannes um die Scheidung. »Ich weiß«, schrieb er, »es ist wie Zigaretten holen und nicht wiederkommen. Was soll ich sagen?« Ihr fiel auch nichts ein.

Sie saß da, die Füße im Wasser. Es roch nach Chlor und Sonnencreme und Sommernacht. Hoch oben flimmerte ein atemberaubender Sternenhimmel, am nächsten Morgen würde das Flugzeug landen, in dem Miranda mit den Kleinen saß. Im ersten Stock drang nach so vielen Jahren wieder das vertraute Lampenlicht aus Mauds Kinderzimmer. Grillen zirpten. Irgendwo ging eine Grillparty zu Ende. Ein letzter Cocktail war ihr geblieben. Er schmeckte kühl, aromatisch, seidenweich und sauer zugleich. Margarita ließ sich in den Pool gleiten.

Margarita Classic

4 cl Tequila

2 cl Triple sec oder Cointreau

2 cl Zitronen- oder Limettensaft

Den Rand eines Cocktailglases mit Zitronensaft befeuchten und kurz auf ein Tellerchen mit Salz drücken. Antrocknen lassen. Dann in einen Cocktailshaker Crushed Ice geben. Tequila, Triple sec und Zitronensaft hinzufügen. Schütteln, in das Glas mit Salzrand abgießen und servieren.

Für fruchtige Varianten zusätzlich 2 cl Fruchtsirup plus ca. 100 g passierte Früchte (z. B. Erdbeer oder Wassermelone)