Ein schlechtes Omen

Vom frühen Morgen an strömten festlich gestimmte Tibeter auf die Hochebene (4750 Meter über N.N.). Leichte Schneeflocken tanzten kleine Pirouetten in der dünnen Luft. Mitten auf der Ebene ragte ein von Stangen gestützter Mast schräg in die Luft, an dem Yak-Felle und bunte Gebetsfahnen hingen. Der Mast war über zwanzig Meter lang, der höchste Fahnenmast in Tibet. Lange, kräftige Seile, mit denen Männer den Mast hochziehen sollten, waren an dem dicken Holzstamm befestigt und lagen sorgfältig aufgerollt auf dem Boden. Zwei Lastwagen, die bei dieser Feierlichkeit deplatziert wirkten, standen bereit, um den Männern zu helfen.

Mehrere Tausend Menschen waren erschienen, viele waren tagelang unterwegs gewesen und hatten das gesamte Bergplateau überquert, um den allerheiligsten Berg in der Mitte dieses allerheiligsten Monats, Saga Dawa, zu erreichen. Die Buddhisten glauben, dass sich alles verzehnfacht, was sie in diesem Monat tun, egal ob es sich um gute oder schlechte Taten handelt. Und genau an diesem Tag, dem heiligsten aller Tage, dem fünfzehnten Tag im Saga Dawa, dem Tag, an dem Buddha nicht nur geboren wurde, sondern auch das Nirwana erreichte, verhundertfachen sich sämtliche Taten.

Die weiblichen Pilger trugen handgewebte Trachtenröcke aus Wolle, Seidenblusen und schweren Silberschmuck, die Männer knielange Seiden- oder Pelzmäntel und große Hüte. Die sorgfältig arrangierten Frisuren und die bunten Gewänder verrieten, aus welchem Teil Tibets sie kamen und wie lange sie schon unterwegs waren. Doch nicht die Reise an sich war das wirklich Imponierende, sondern dass sie es geschafft hatten, sämtliche Genehmigungen, sämtliche Stempel und alle Unterschriften zu beschaffen, die notwendig waren, um all die unsichtbaren Distriktgrenzen überqueren und Checkpoints passieren zu können, und hier zu sein, genau an diesem Morgen, an dem leichte Schneeflocken durch die Luft schwebten. Die chinesischen Behörden fürchten die tiefe religiöse Überzeugung der Tibeter, über die sie keine Kontrolle haben, und vor allem fürchten sie Ereignisse wie dieses, bei dem sich Tausende von Gläubigen aus abseits gelegenen Dörfern versammeln.

Die Staatsgewalt war zahlreich erschienen. Mit Knieschützern, Helmen, schusssicheren Westen, Schlagstöcken und Schilden ausgerüstete Bereitschaftspolizei marschierte in Gruppen auf und ab – vorbei an Kindern und Gebetsfahnen. An dem kleinen Tempel auf dem Gebirgskamm direkt über der Ebene sorgten mürrische Polizisten dafür, dass in der Schlange der Pilger, die sich von den Mönchen segnen lassen wollten, alles ordentlich vor sich ging. Niemand durfte zurückfallen oder stehen bleiben, um sich länger mit einem der Mönche zu unterhalten. Um die Polizisten zufriedenzustellen, hatten die Gläubigen in Bewegung zu bleiben. Die Mönche saßen in einer langen Reihe vor dem Tempel, sie trugen rote und gelbe Gewänder und große Hüte, schlugen auf Trommeln, bliesen in Hörner oder beugten sich über handgeschriebene Texte und psalmodierten sie halblaut.

Auf der Ebene bewegte sich die Menge langsam rund um den schrägen Mast; in den Händen hielten die Menschen Gebetsmühlen und Gebetsketten, während sie das allerheiligste Mantra murmelten: Om mani padme hum, om mani padme hum. Junge wie Alte legten sich flach auf den Boden, streckten die Arme im Gebet über den Kopf, erhoben sich und gingen einige wenige Schritte weiter, um sich erneut auf den Boden zu werfen. Om mani padme hum. Ich ließ mich von dem Strom, von dem Fluss mitreißen und schritt, von Farben und Gebeten umgeben, mit den Pilgern um den Fahnenmast herum. Om mani padme hum. Und die Zeit blieb stehen, die Zeit zerfloss, die Zeit war ein Wirbel aus Schneeflocken.

Nun nahm sich jeder der Männer, von denen der Mast hochgezogen werden sollte, ein Seil. Die Menschen blieben stehen und sahen ihnen erwartungsvoll dabei zu, wie sie prüfend an den Seilen zogen.

Ki-ki-so-so! murmelten die Zuschauer aufmunternd, zunächst leise, dann immer lauter: Ki-ki-so-so! Ki-ki-so-so-lha-gyal-lo! Sieg den Göttern! Langsam richtete sich der Mast auf – unterstützt durch hilfreiche Hände und die beiden Lastwagen, so-so-so! Als der Mast Minuten später senkrecht stand, explodierten die Pilger in ekstatischen Rufen, ki-ki-so-so! Gebetsfahnen aus Papier und Tsampa, geröstetes Gerstenmehl, wurden in die Luft geworfen. Ich war von Mehl bedeckt, alle waren von Mehl bedeckt, und nun setzte sich die Menge erneut in einem großen Oval rund um den Mast in Bewegung, Tausende breite, lächelnde Gesichter, sie gingen immer schneller, ki-ki-so-so! Die Stimmung war geradezu elektrisch aufgeladen. Noch einmal ließ ich mich in dem Strom rund um den Fahnenmast treiben, umgeben von reiner Freude und fein gemahlenem Tsampa-Mehl.

Ich blieb stehen, um ein letztes Foto zu schießen, bevor ich zurück zu Jinpa ging, meinem Guide, der oben am Tempel bei den Gebetsfahnen wartete. Eigentlich hätte ich mich nicht weiter als fünf Meter von ihm entfernen dürfen, so hatte es die Polizei auf dem Informationstreffen am Vortag erklärt. Ausländer mussten unter Kontrolle gehalten werden, aber Jinpa nahm es nicht so genau und ließ mich im Großen und Ganzen machen, was ich wollte.

Ich knipste ein Foto, und es gelang mir, den Mast im freien Fall zu verewigen.

Es wurde vollkommen still. Alle blieben stehen, hielten inne und wandten sich dem umgefallenen Fahnenmast zu, der auf der Erde lag und möglicherweise gebrochen war. Niemand rief mehr ki-ki-so-so, niemand warf mehr Tsampa oder Gebetsfahnen in die Luft. Einige weinten. Andere starrten einfach wie gelähmt vor sich hin.

Ich fand Jinpa, der auf die Knie gesunken war.

»So etwas ist noch nie zuvor passiert«, sagte er ernst. »Nicht in dreihundert Jahren. Es ist schon vorgekommen, dass der Mast ein bisschen schief stehen blieb, nicht ganz senkrecht, und das wurde immer als ein schlechtes Zeichen für das kommende Jahr gedeutet. Aber so etwas … Das ist ein sehr schlechtes Zeichen. Sehr schlecht. Für uns alle, die hier sind, und für ganz Tibet.«

Am Tempel saßen die Mönche und lasen ihre Mantras mit dunklen, eindringlichen Stimmen, nun mit tiefen Falten zwischen den Augenbrauen. Die Männer, die vor wenigen Minuten den Fahnenmast hochgezogen hatten und wie Helden gefeiert worden waren, irrten ziellos umher und blickten ratlos auf den umgefallenen Mast.

Jinpa erhob sich und sah mich an. Ihm standen Tränen in den Augen.

»Kommen Sie«, sagte er. »Wir müssen gehen. Es ist noch weit.«