Die Schlange vor dem Sicherheitsbüro des Dalai Lama in McLeod Ganj (2082 Meter über N.N.) zog sich um die Ecke des Häuserblocks und setzte sich auf einer Treppe fort. Unendlich langsam bewegte sie sich vorwärts. Hunderte kunterbunte Reisende waren erschienen, um sich eine Eintrittskarte zu dem Vortrag des Dalai Lama Ende der Woche zu besorgen. Ich war noch mitgenommen von der Reise am Vortag, neuneinhalb Stunden in einem knüppelvollen, klapprigen Bus hatten mir zugesetzt. Von der ehemaligen Sommerhauptstadt der Briten bis zur tibetischen Exilhauptstadt hatte der Bus an jeder noch so kleinen Haltestelle gehalten, und ich hatte keine Kraft mehr, um mich an den Verbrüderungen und Verschwesterungen um mich herum zu beteiligen. Die anderen Menschen in der Schlange sahen aus, als wären sie mit frisch aufgeladenen Batterien aufgestanden, die Stimmung war generell aufgekratzt, wildfremde Leute fingen an, sich zu unterhalten, vereint durch eine gemeinsame geistige Sehnsucht. Die deutsche Frau vor mir erklärte einer Schlangengenossin, einer Thailänderin, die tibetische Medizin studierte, gerade detailliert ihre Essgewohnheiten.
»Ich esse nur zwischen elf und vier Uhr nachmittags, niemals später, und meist nur gekochten Reis mit Curry, so gut wie immer vegetarisch.«
Sie redete mit einer hohen, schrillen Stimme, und jeder Satz wurde von einem nervösen Lachen begleitet. Sie war groß und mager und hatte graues schulterlanges Haar; Mund und Nase waren mit einer Maske aus Baumwolle bedeckt. Nachdem sie ausführlich ihre Diät erläutert hatte, ging sie nahtlos dazu über, von ihrer toten Mutter zu erzählen, von dem Postamt, in dem sie vor ihrer Pensionierung in Deutschland gearbeitet hatte, von einer Pilgerreise nach Bodhgaya, wo Buddha die Erleuchtung erreichte, von westlicher Medizin und deutschen Ärzten, die ihr nicht hatten helfen können, als sie aufgebläht und voller Wasser war.
»Wie sieht’s denn mit Ihrer Toilettenroutine aus?«, erkundigte sich die Thailänderin interessiert.
»Meiner Toilettenroutine?«, kreischte die Deutsche. »Ach! Ja, jetzt erzähle ich Ihnen etwas!«
Sie ging verhältnismäßig regelmäßig auf die Toilette, mit Stuhlgang von guter Konsistenz am Morgen. Bevor sie zum Urin überging, bemerkte ich glücklicherweise weiter vorn eine andere, weitaus kürzere Schlange: Für alle, die sich bereits online registriert hatten. Ich lief dorthin und wurde als Letzte vor dem Mittagessen abgefertigt.
McLeod Ganj ist der Exilwohnsitz des Dalai Lama und gleichzeitig der Sitz der tibetischen Exilregierung. Die kleine Stadt liegt idyllisch auf einer mit Wald bedeckten Anhöhe südlich des Himalaya-Gebirges und ist ein Vorort der weit größeren Stadt Dharamsala ein paar Kilometer weiter unten in der Ebene.
Obwohl das Zentrum von McLeod Ganj klein ist, war es beeindruckend laut. Mit etwas Wohlwollen gab es in den schmalen Straßen gerade mal Platz für ein Auto, aber das hinderte die Fahrer nicht daran, sich unter aggressivem Hupen an gewagten Überholmanövern zu versuchen. Zu den Verlierern gehörten wie gewöhnlich die Fußgänger, die ständig in die Straßengräben gejagt wurden, wenn zwei oder mehr Fahrer sich darüber stritten, wer an wem vorbeifahren durfte.
Die Geschäfte lockten mit Schals aus Kaschmir, indischen Götterfiguren und tibetischem Schmuck; japanische und italienische Restaurants lagen dicht nebeneinander. In den Cafés saßen Mönche in roten Gewändern, weißhaarige amerikanische Damen in locker sitzenden Tuniken und französische Pärchen, die Mitte zwanzig sein mochten, mit Turban und Pluderhosen in grellen Farben, die nie zusammenpassten. Der demonstrative Mangel an Eleganz der westlichen Touristen stand in scharfem Kontrast zu den tibetischen Frauen, die sehr aufrecht spazieren gingen, gekleidet in traditionelle, bodenlange Kleider mit gewebten Schürzen und Seidenblusen in dunklen, gedeckten Farben.
Der Tsuglagkhang-Tempel, Residenz des Dalai Lama, glich einem aus Stahl und hellem Beton gebauten spanischen Kommunalgebäude aus der Zeit Francos. Trotzdem war es ein angenehmer Ort, herrlich abgeschirmt von dem chaotischen Verkehr außerhalb seiner Mauern. Ich setzte mich in den Schatten eines Baums und sah den Touristen zu, die sich aufstellten, um mit der Betonkonstruktion im Hintergrund fotografiert zu werden.
Auch das Hauptbüro der Exilregierung, das ein Stück weiter unten an der Anhöhe liegt, erfüllte die brutalistischen Anforderungen der 1960er Jahre an Ästhetik. Obwohl ich keinen Termin hatte, konnte ich ein langes Gespräch mit Sonam Dagbo führen, dem Sekretär für internationale Verbindungen aus dem Ministerium für Information und internationale Verbindungen. Er leitete das Gespräch mit einer raschen Einführung in die Geschichte der Exiltibeter und der Arbeit der Exilregierung ein.
»Am 10. März 1959 gab es in Lhasa einen Aufstand gegen die kommunistische Regierung der Volksrepublik China, und am 17. März verließ Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, die tibetische Hauptstadt. 1960 erlaubte die indische Regierung Seiner Heiligkeit, sich hier in Dharamsala niederzulassen. Damals war Dharamsala eine sehr kleine Stadt, die die Briten vor hundert Jahren als Urlaubsort gegründet hatten, aber in den 1960er Jahren wurde es der Hauptsitz von Tibets Zentralregierung. Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, hat diese Institution reformiert und alle fünf Jahre demokratische Wahlen eingeführt, an denen sich alle Exiltibeter beteiligen können. Ungefähr einhundertfünfzigtausend Tibeter leben heute im Exil. Wir sind über mehr als vierzig Länder verteilt, aber die weitaus meisten leben in Indien, rund zwanzigtausend allein hier in Dharamsala. Als wir hierherkamen, mussten wir uns vor allem um die Flüchtlinge kümmern, insbesondere die Kinder, und dafür sorgen, dass alle eine Ausbildung und gesundheitliche Unterstützung bekamen. Ursprünglich war es unser Ziel, die Freiheit in Tibet zurückzugewinnen, doch seit 1974 plädieren wir für eine Selbstverwaltung innerhalb Chinas. Tibet ist heute in mehrere Regionen aufgesplittert, und lediglich zwei, drei Millionen Tibeter leben in der Autonomen Region Tibet. Die Mehrheit lebt in den Nachbarregionen. Wir wünschen uns, dass diese Gebiete in einer selbstverwalteten Region vereinigt werden, in der wir Religionsfreiheit, kulturelle Freiheit und politische Freiheit haben. Wir nennen es den ›Mittelweg‹. Die Chinesen behaupten, wir hätten die Selbstverwaltung bereits, aber das steht lediglich auf dem Papier. Wie Sie sehen, ist die Situation kompliziert.«
»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Behandlung der Uiguren in Xinjiang und dem, was seit Langem in Tibet geschieht?«
»Chen Quanguo, der Sekretär der kommunistischen Partei in Xinjiang, war Sekretär der kommunistischen Partei in der Autonomen Region Tibet, bevor er den Posten in Xinjiang bekam«, antwortete Sonam Dagbo. »Wir Tibeter haben all die Leiden erlebt, die die Uiguren heute über sich ergehen lassen müssen. Umerziehungslager, Überwachung, Zwangssterilisation, systematische Zerstörung von Kultur und Religion und so weiter, all dies ist bereits in Tibet geschehen. Es ist das gleiche System, derselbe Mann. Er hat in Tibet geübt, jetzt ist er ein Experte.«
Sonam Dagbo hatte seine ersten Lebensjahre in Tibet verbracht. Seine Familie floh 1962 nach Indien, als er sechs Jahre alt war.
»Mein Vater wurde verhaftet und saß ein Jahr im Gefängnis. Als er freigelassen wurde, flüchteten wir nach Indien. Wir wohnten nicht allzu weit von der Grenze entfernt, und die Chinesen hatten damals noch keine so gute Kontrolle über das Grenzgebiet, sodass die eigentliche Flucht nicht sonderlich kompliziert war. Heute ist es viel schwieriger, aus Tibet herauszukommen. Seit 2008 ist es so gut wie unmöglich.«
»Sind Sie noch einmal in Tibet gewesen?«
»Ich war Mitglied einer Delegation, die mit den Chinesen verhandelte, daher bin ich in Tibet gewesen, aber ich konnte meinen Geburtsort im Süden nicht besuchen«, antwortete Sonam Dagbo. »Ich habe trotzdem noch immer die Hoffnung, eines Tages meinen Geburtsort wiederzusehen. Wir hoffen seit mehr als sechzig Jahren und wir hoffen weiter. Über zweitausend Jahre haben Tibeter in Tibet gelebt, wir haben unsre eigene Schriftsprache und eine tief verwurzelte Kultur. Die Chinesen können uns physisch unterdrücken, aber den Geist der Tibeter können sie nicht brechen. Wir Buddhisten glauben im Übrigen an die Vergänglichkeit, daran, dass nichts von Dauer ist«, fügte er hinzu. »In Europa gab es das Römische Reich, das österreichische Imperium, das russische Imperium, das britische Imperium und so weiter. Keines dieser Imperien existiert mehr. Das China, das wir heute kennen, wird so nicht für immer bestehen.«
Gu-Chu-Sum ist eine Organisation, die sich dafür einsetzt, dass die Situation der politischen Gefangenen in Tibet publik gemacht wird; all ihre Mitarbeiter sind selbst ehemalige politische Gefangene. Die Büroräume der Organisation lagen in einer Nebenstraße in McLeod Ganj, ich wurde freundlich empfangen, obwohl ich auch hier keinen Termin vereinbart hatte. Der englischsprachige internationale Sekretär hatte das Büro allerdings bereits verlassen und niemand wusste, wo er war oder ob er an diesem Tag noch einmal zurückkommen würde.
»Vielleicht können Sie morgen noch einmal wiederkommen?«, fragte die Buchhalterin, eine strenge Frau in den Dreißigern, die ein wenig Englisch sprach. »Alle hier haben eine Geschichte zu erzählen, aber es gibt niemanden außer dem internationalen Sekretär, der gut genug Englisch spricht.«
»Morgen geht es nicht, da muss ich zur Vorlesung des Dalai Lama«, sagte ich. »Vielleicht könnten Sie für mich dolmetschen? Es dauert nicht lange.«
Sie war einverstanden, und so unterhielt ich mich kurz mit Gyalthang Tulku Kunkhen Jamchen Choeje, dem achtundvierzig Jahre alten Generalsekretär der Organisation. Er trug ein weißes Hemd und Krawatte und sprach langsam und würdevoll. Die Buchhalterin übersetzte nach bestem Wissen.
»Er sagt, es gebe heute ungefähr zweitausend politische Gefangene in Tibet, und die Zahl wird größer. Wirtschaftlich hat sich die Situation in Tibet verbessert, aber die Situation der Menschenrechte ist schlimmer geworden. Wir haben keine Meinungsfreiheit, und es ist verboten, den Namen des Dalai Lama auszusprechen. Er sagt, Tibet sei historisch gesehen nie ein Teil Chinas gewesen.«
»Woher aus Tibet stammt er?«
»Aus dem Osten Tibets.«
»Und wann kam er nach Indien?«
»2010.«
»Könnten Sie ihn bitten, ein wenig über seine Kindheit und Jugend in Tibet zu erzählen?«
Die Buchhalterin übersetzte und erhielt eine lange Antwort, die sie in drei Sätzen zusammenfasste: »Sein Vater hatte zwei Frauen, insgesamt waren sie zwölf Kinder. Die Familie hatte große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Sie konnten sich das Schulgeld nicht leisten und hatten auch kein Geld für Kleidung und Essen, aber von allen Geschwistern hatte er die größten Probleme.«
»Könnten Sie ihn bitten, ein bisschen mehr über seine Jugend zu erzählen?«, bat ich. »Ich würde gern verstehen, wie er politischer Aktivist wurde.«
Diesmal komprimierte die Buchhalterin die umständliche Antwort des Generalsekretärs auf zwei Sätze.
»Er fing an, Parolen aufzuhängen, dass alle Tibeter den Dalai Lama unterstützen und für ein freies Tibet beten sollten. Am 12. Oktober 2007 wurde er verhaftet.«
»Das geht mir ein bisschen zu schnell«, sagte ich. »Wie wurde sein politischer Aktivismus geweckt? Hatte seine Familie vielleicht einen politischen Hintergrund?«
»Nein, er ist die Reinkarnation von Gyalthang Tulku. Sowohl der Dalai Lama als auch die chinesischen Behörden haben ihn als Reinkarnation von Gyalthang Tulku anerkannt.« Die Buchhalterin hatte das Übersetzen aufgegeben und antwortete nun selbst.
»Ah ja«, sagte ich, ohne klüger geworden zu sein. »Ging er in seiner Heimatstadt in die Schule? Welche Ausbildung hat er?«
»Bis zu neunten Klasse. Und vier Jahre auf der weiterführenden Schule.«
»Und danach hat er gearbeitet?«, riet ich.
»Nein, dann wurde er politisch aktiv«, antwortete die Buchhalterin, sichtlich ungeduldig. »Er brauchte lange, um seine Aktion zu planen, über zwei Jahre.«
»Und woher kam dieser Drang nach politischem Aktivismus?«, fragte ich erneut. »Er wusste doch, dass es gefährlich war und Konsequenzen haben könnte?«
Die Buchhalterin seufzte.
»Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Er ist die Reinkarnation von Gyalthang Tulku.«
»Okay.« Ich beschloss, das Thema nicht weiter zu vertiefen. »Was hielt die Familie von seinen Aktivitäten?«
»Das war das Schwierigste«, übersetzte die Buchhalterin. »Es gab viele Probleme in seiner Familie. Der Vater hat ihn nicht unterstützt, denn er meinte, seine Aktionen seien zu gefährlich. Die Familie bekam auch Probleme. Als er im Gefängnis landete, fingen seine Familie und seine Freunde an, ihn als einen schlechten Mann anzusehen. Das ist das Schlimmste, was ihm bisher im Leben widerfahren ist. Dass die Familie, der Vater und die Freunde ihn nicht unterstützt haben.«
Sie sah ungeduldig auf die Uhr, es war beinahe siebzehn Uhr.
»Haben wir keine Zeit mehr?«, fragte ich.
»Doch, doch, wir haben noch fünf Minuten.«
»Ich werde mich beeilen«, versprach ich. »Wie wurde er verhaftet?«
»Sie konnten ihn nicht auf der Straße festnehmen, daher wurde er bei einer Versammlung verhaftet, in einem Büro. Als er dann auf die Straße geführt wurde, standen dort über hundert Soldaten der chinesischen Armee und erwarteten ihn.«
»Und wie lauteten die offizielle Anklage und das Urteil?«
Die Buchhalterin warf mir einen resignierten Blick zu. Es war zwei Minuten vor fünf.
»Illegale politische Aktivität vielleicht?«, schlug ich vor.
»Ja, natürlich«, seufzte die Buchhalterin.
»Wie wurde er im Gefängnis behandelt?«
»Nicht so schlimm, da die Chinesen wussten, dass er eine Reinkarnation von Gyalthang Tulku ist.«
»Und wie kam er 2010 aus Tibet heraus?«, bohrte ich weiter.
»Er versuchte es auf ganz unterschiedliche Weise. In der Nähe der Grenze zu Nepal fand er einen umherreisenden Händler, der ihm geholfen hat. Er versteckte sich in dessen Lastwagen, zwischen all den Waren.«
»Welche Waren transportierte der Lastwagen?«
Die Buchhalterin sah mich verzweifelt an. Die Uhr zeigte drei Minuten nach fünf.
»Verschiedene Waren! Es war ein großer Lastwagen! Es waren sehr viele Waren in diesem Lastwagen!«
Ich begriff, dass meine Zeit um war, und bedankte mich für die Hilfe. Sowohl die Buchhalterin als auch der Generalsekretär sahen sichtbar erleichtert aus.
Die Exiltibeter haben wirklich alles getan, um ihre tibetischen Traditionen und Institutionen in Dharamsala zu bewahren und fortzuführen. Das Men-Tsee-Khang-Institut, das 1916 in Lhasa gegründet wurde, lebte 1961 in einem neuen Betongewand in Dharamsala wieder auf. Hier wird eine fünfjährige Ausbildung in tibetischer Medizin und Astrologie angeboten.
»Wir nennen es Astrowissenschaft«, erklärte die dreiundfünfzigjährige Tsering Chözom, die Chefastrologin des Instituts. Wie alle anderen Frauen des Instituts trug sie traditionelle tibetische Kleidung. Tsering war die erste Frau, die offiziell in tibetischer Astrowissenschaft ausgebildet wurde; geduldig und pädagogisch erläuterte sie mir mit der natürlichen Autorität einer Pionierin, worum es bei dem Fach geht.
»Wir praktizieren eine Mischung aus Astronomie und Astrologie, die auf den alten Traditionen unserer Vorväter basiert«, erklärte sie. »Obwohl wir auch über die astrologischen Kenntnisse der Inder und Chinesen verfügen, haben wir unser eigenes, einzigartiges tibetisches System. Bei unserem System geht es eher um klimatische Verhältnisse und die tibetische Lebensweise, es ist eng verknüpft mit der Natur. Wir können Veränderungen in der Natur vorhersagen, aber bei unseren Vorhersagen geht es darum, was ideell gesehen geschehen müsste. Nun verwirrt uns die Natur aufgrund der von Menschen verursachten Veränderungen, und unsere Vorhersagen treffen nicht ein …«
In ihrem geräumigen Büro hingen hübsche Malereien, die Buddha und tibetische Schutzgötter zeigten.
»Wir Buddhisten glauben an das Karma«, fuhr sie fort. »Wir glauben, dass ein Individuum gewisse Prüfungen durchleben muss, weil sie bereits da sind, aber wir glauben nicht an das Schicksal. Wir glauben, dass man alles durch seine eigenen Handlungen ändern kann. Wenn wir gute Dinge tun, wird es uns besser gehen. Man kann mit einer guten Gesundheit und glänzenden Aussichten geboren sein, aber alles kann durch eine schlechte Lebensführung zerstört werden. Generell muss man gute Dinge tun und darf anderen nicht schaden. Diejenigen, die Böses tun, erleben die Konsequenzen möglicherweise nicht in diesem Leben, aber früher oder später werden ihre Handlungen Folgen haben.«
»Was ist der Unterschied zwischen westlicher und tibetischer Astrologie?«
»Westliche Astrologen beschäftigen sich mehr mit dem Sonnensystem, während wir eher auf den Mond sehen«, antwortete Tsering Chözon. »Ein westliches und ein tibetisches Horoskop können die gleiche Information enthalten und zum gleichen Resultat kommen, aber unsere Astrologie ist eng verbunden mit dem Buddhismus. Wir glauben an das Karma und bei Krankheiten an Behandlung in Form von Gebeten. Astrologie ist ungeheuer wichtig in der tibetischen Kultur. Ausgehend vom Mond, dem Tag und dem Ort der Geburt können wir etwas über ein ganzes Leben sagen. Tibetische Eltern bestellen normalerweise ein Horoskop für ihre neugeborenen Kinder, dabei interessiert sie am meisten, ob ihr Kind gesund und intelligent ist und wie lange es leben wird. Später kommen sie oft zurück, um detailliertere Informationen zu erhalten, zum Beispiel, wenn sie an eine Ehe denken. Bevor ein Paar heiratet, suchen sie in der Regel einen Astrologen auf. Nicht immer passen die Paare zu einander, es kann zum Beispiel vorkommen, dass der Blick des einen auf bestimmte Dinge sich sehr von dem des anderen unterscheidet oder ihre Temperamente nicht zusammenpassen. Wenn Menschen, die bereits verheiratet sind, zu uns kommen und um Rat bitten, können wir nicht sagen, sie sollen sich scheiden lassen, aber wir können ihnen zum Beispiel raten, sorgfältiger mit Geld umzugehen oder besser auf ihre Gesundheit zu achten.«
Lächelnd faltete sie die Hände unter ihrem Kinn.
»Sehen Sie, wir sind alles. Eheberater, Psychologen, Ärzte. Unsere Ausbildung dauert ebenso lange wie ein Medizinstudium: fünf Jahre plus ein Jahr Praxis. Wenn die Menschen beim Arzt waren und die Medikamente nicht anschlagen, kommen sie zu uns.«
»Welche Eigenschaften muss ein guter Astrologe haben?«, wollte ich zum Schluss wissen.
»Ein guter Astrologe muss vor allem liebevoll und mitfühlend sein«, antwortete Tsering Chözom. »Er oder sie muss sich um andere Menschen kümmern. Häufig müssen wir Nachrichten überbringen, die nicht sonderlich angenehm sind, denn die Menschen kommen oft zu uns, wenn sie unsicher und im Zweifel sind, und einige kommen auch mit ernsten Problemen. Unsere Arbeit besteht darin, ein Gegengift zu finden. Es gibt immer eine Therapie.«
Ich empfand die Astrologin, die mir ein Horoskop stellte, nicht als sonderlich liebevoll oder mitfühlend. Sie hieß Sonam und überbrachte eine schlechte Nachricht nach der anderen.
»Sie sind eine anhängliche und loyale Person«», stellte sie fest. »Heiter und offen. Wenn Sie einen Plan haben, verfolgen Sie ihn, ohne davon abzuweichen. Aber Sie haben große gesundheitliche Probleme. Probleme mit dem Rückgrat, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen. Und Sie sind Unglücksfällen ausgesetzt. Sie fallen.«
»Ich habe eigentlich nicht so viele gesundheitliche Probleme«, wandte ich ein.
Sonam zog die Brauen zusammen und blätterte rasch durch ihre Notizen.
»Ich bin die Berechnungen zwei Mal durchgegangen. Es gibt keinen Fehler.« Sie blätterte weiter. »In finanzieller Hinsicht gibt es bei Ihnen auch nicht viel Positives zu sagen. Ihr Einkommen schwankt. Wenn es um Beziehungen geht, erfahren Sie Liebe. Bei Freundschaften ist es denkbar, dass es auf und ab geht. Ich sehe Streit, vor allem demnächst in Ihrer Ehe. Ihnen fehlt eine gemeinsame Basis. Das ist nicht sonderlich positiv.«
»Nein, das hört sich tatsächlich nicht sonderlich positiv an«, gab ich zu.
»Mit Blick auf Kinder sehe ich auch Probleme«, fuhr sie fort. »Das kann mit ihrer Gesundheit oder Erziehung zusammenhängen. Sie müssen daher vorsichtig sein. Überhaupt müssen Sie generell an gefährlichen Orten aufpassen. Wenn Sie riskante Dinge tun oder sich an gefährlichen Orten aufhalten, haben Unglücksfälle gute Chancen.«
»Das klingt einleuchtend«, murmelte ich.
Sonam blickte von ihren Papieren auf.
»Entschuldigung, haben Sie etwas gesagt?«
»Nein, nein, fahren Sie fort.«
»Beruflich werden positive Veränderungen passieren, aber es kann zu Streit mit Kollegen oder Vorgesetzten kommen«, erklärte sie.
»Das war eine Menge Negatives auf einmal«, sagte ich.
»Ja, aber es gibt auch etwas Positives«, erwiderte Sonam. »Von jetzt an bis zu Ihrem achtunddreißigsten Geburtstag stehen Sie unter einem guten Einfluss. Das Liebesleben ist gut. Die finanzielle Situation stabil. Aber nächstes Jahr müssen Sie auf der Hut sein. Da stehen Sie unter dem Einfluss des Übergangswindes, wie wir es bezeichnen. Das siebenunddreißigste Jahr ist ein Hindernisjahr. Es kommt ein neues Hindernisjahr zwischen Achtundvierzig und Neunundvierzig. Da werden sich Veränderungen ergeben. Haben Sie es notiert?«
»Ich habe alles mitgeschrieben«, versicherte ich.
»Gute Dinge werden geschehen«, versprach Sonam. »Zwischen Achtunddreißig und Zweiundvierzig werden sowohl gute wie schlechte Dinge geschehen. Sie werden gesundheitliche Probleme bekommen. Was Sie hatten, werden Sie verlieren. Ob es Geld oder Ihr Mann ist, lässt sich nicht sagen. Ich sehe auch Streit mit einer Autoritätsperson, vielleicht Ihrem Chef.«
»Das hört sich wirklich nicht gut an«, bemerkte ich.
»Aber die Zeit zwischen Zweiundvierzig und Achtundvierzig ist gut«, beeilte Sonam sich hinzuzufügen. »Die finanzielle Situation ist stabil. Wenn Sie in dieser Periode schwanger werden wollen, werden Sie es. Aber Sie müssen sich vor einer weiblichen Person hüten. Es kann zu Streit mit einer Frau kommen. Seien Sie vorsichtig.«
Sie blätterte weiter.
»Zwischen Achtundvierzig und Dreiundfünfzig sieht es nicht so gut aus. Sie werden gesundheitliche Schwierigkeiten und Beziehungsprobleme haben. Grundlosen Streit. Personen, die Ihnen nahestehen, werden verschwinden. Im Berufsleben erreichen Sie nicht, was Sie wollen. Ich sehe sogar einen Prozess. Die Zeit zwischen Dreiundfünfzig und Vierundsechzig hingegen wird eine gute Phase, in jedem Fall im Vergleich mit der vorherigen. Die Karriere wird vorangehen, aber ich sehe auch Disharmonie. Probleme mit jemandem, der Ihnen nahesteht. Finanzielle Schwankungen. Sie müssen aufpassen.«
Sie blätterte weiter, glücklicherweise zur letzten Seite.
»Zwischen vierundsechzig und neunundsiebzig Jahren werden Sie Großmutter. Ihre Kinder werden Ihnen Liebe schenken, aber Sie werden nicht zufrieden sein. Eine neue Person wird in Ihr Leben treten. Sie haben jemanden, der sich um Sie kümmert, wenn Sie krank sind.« Sie faltete die Papiere zusammen und sah mich direkt an. »Um die nahe Zukunft zu bestimmen: 2019 wird nicht so gut.«
»Es hört sich nicht so an, als würde überhaupt irgendetwas sonderlich gut«, murmelte ich.
»Sie müssen vorsichtig sein, sowohl finanziell wie in Ihren Beziehungen«, ermahnte mich Sonam. »Im Jahr 2020 werden die Dinge besser, aber Sie werden möglicherweise gesundheitliche Probleme bekommen. Ich würde Ihnen raten, ein Amulett gegen die schwierigen Jahre zu kaufen, ein Gesundheitsamulett oder eventuell ein Lebenskraftamulett. Ob Sie es tun oder nicht, ist selbstverständlich Ihnen überlassen.«
Ich bedankte mich für die Konsultation und schlenderte ohne Amulett in das Verkehrschaos von McLeod Ganj. Obwohl ich nicht an Horoskope glaube, entschloss ich mich, mir an einem anderen Ort im Himalaya von einem anderen Astrologen ein neues Horoskop stellen zu lassen. Eine second opinion konnte nicht schaden.
Am frühen nächsten Morgen erstreckte sich die Schlange weit über die vor dem Tsuglagkhang-Tempel verlaufende Einbahnstraße. Tausende Exiltibeter, Mönche, Nonnen und Touristen aus allen Ecken der Welt waren erschienen, um die Vorlesung des Dalai Lama zu hören. Überall waren Menschen, noch der kleinste Fleck des Betonbodens im Tempelbezirk war von Kissen und Pilgern besetzt. Nachdem ich eine Weile gesucht hatte, fand ich ein paar freie Quadratzentimeter auf dem offenen Platz vor dem Tempelgebäude und setzte mich. Als alle einen Sitzplatz gefunden hatten, begann die Menge zu psalmodieren: Om mani padme hum, om mani padme hum … Der ganze Tempel dröhnte in friedlichem Gesang.
Es ging ein Raunen durch die Versammlung, als Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, aus seiner Residenz kam und über den Platz geleitet wurde. Alle reckten die Hälse, um einen besseren Blick auf den lebendigen Gott der Barmherzigkeit in seinem purpurroten Mönchsgewand zu werfen. Der energische Dreiundachtzigjährige ließ sich viel Zeit, die Pilger zu begrüßen, die in der ersten Reihe saßen und euphorisch die Hände nach ihm ausstreckten, um ihn zu berühren. Der Dalai Lama sah wie gewöhnlich aus, als hätte er glänzende Laune, er strahlte Ruhe und Milde aus. Er lächelte und plauderte mit mehreren Pilgern, ohne der diskreten Ungeduld seiner Begleiter Beachtung zu schenken.
Wie die meisten anderen musste ich den Vortrag auf einem der Großbildschirme verfolgen. Nur die angereisten Buddhisten aus Taiwan, für die die Vorlesungsreihe gedacht war, hatten reservierte Plätze im eigentlichen Tempel, in dem der alte Mann mit geschmeidigen Bewegungen und einem Lächeln auf dem vergoldeten Thron Platz nahm.
Es war mäuschenstill in dem gesamten gewaltigen Tempelkomplex, als der Dalai Lama seine Vorlesung begann. Er sprach lebendig und engagiert, war in jedem Moment voll und ganz präsent; hier und da gluckste er über etwas, das er selbst gesagt hatte. Die vielen Tausend Exiltibeter hörten hingerissen zu. Ein Dolmetscher übersetzte zu Ehren der taiwanesischen Gäste von Tibetisch ins Chinesische, ansonsten gab es im Radio Simultanübersetzungen ins Englische, Spanische, Französische, Hindi und eine Reihe anderer Sprachen. Wir alle waren aufgefordert worden, ein Taschenradio mitzubringen, um die Übersetzung anzuhören, aber mein billiger, gerade gekaufter Apparat funktionierte nicht, und ich bekam nur vereinzelte Brocken mit: Emptiness … Cosmic Beings … The Buddha … the Nature of the Self. Es knisterte infernalisch in den Kopfhörern, und die Übersetzung setzte nach ein paar Sekunden aus. Nicht nur ich hatte dieses Problem – überall fummelten die Menschen fieberhaft an ihren Radios. Vielleicht waren sie von weit her gekommen, nur um diesen seltenen Vortrag zu erleben, und das Einzige, was sie verstanden, war der eine oder andere Begriff, ganz selten einmal ein vollständiger Satz: Emptiness … The middle way … true compassion … the truth is that there is no self … the path to true and enduring Happiness … emptiness … Hin und wieder bekam der taiwanesische Dolmetscher einen Lachanfall, ohne dass ich den Grund verstand, und auch die Exiltibeter lachten laut und herzlich auf. Schließlich gab ich es auf, stellte das Radio ab und hörte mir die fremden tibetischen Worte an, während ich an dem süßen Tee mit Milch nippte, den die Mönche des Klosters austeilten.
Anhaltende Freude. Echtes Mitgefühl. Leere. Tee.