Wenn Dharamsala die Hauptstadt des tibetischen Buddhismus ist, dann ist Rishikesh (372 Meter über N.N.) am Ufer des Ganges die Hauptstadt des Yoga. In den geschäftigen Straßen des Zentrums lockten eng beschriebene Werbeplakate mit allen erdenklichen Varianten von Yoga, von Lach-Yoga bis Anapanasati-Yoga, Vipassana-Yoga, Iyengar-Yoga, Jivamukti-Yoga, Bikram-Yoga, Power-Yoga, Yin-Yoga und so weiter und so fort. Die Angebote hörten keineswegs bei Yoga auf, sondern umfassten alle möglichen Formen der Spiritualität und Selbstentwicklung wie Reiki, Chakra-Heilung, Tarotkartenlesen, Lauttherapie, Kundalini-Erwachen, Ayurveda-Therapie, Handlesen, Früheres-Leben-Therapie, Mantralogie, Rudraksha, Kristallheilung, Healing mit Hypnose, Fern-Healing. Eine Handvoll Reisebüros hatten sich auf Reisende spezialisiert, die einen inneren Adrenalinrausch in Form von Paragliding, Rafting und Bungeejumping den inneren Einsichten vorzogen. Die Cafés lockten mit Detoxsaft und amerikanischen Pfannkuchen, während die Hotels mit friedlicher Aussichtsdetox und kosmischen Energien warben. In den Straßen wimmelte es von Rucksackreisenden und durch Yoga Erlösten, und alle trugen luftige bunte Baumwollkleidung, die die Körper aber nur unzureichend bedeckte, zumindest, wenn man den indischen Standard zugrunde legte.

Die kleine Stadt am Fuße des Himalaya landete ernsthaft auf der Weltkarte, als George Harrison, John Lennon, Paul McCartney und Ringo Starr im Winter 1968 in den Luxus-Aschram des indischen Gurus Maharishi Mahesh Yogi einzogen, um zu meditieren. Die Beatles waren ein Jahr zuvor mit Maharishi in Kontakt gekommen, als er sich auf einer seiner vielen Welttourneen in Großbritannien aufhielt. Offenbar hatte er bei den Beatles einen Nerv getroffen, jedenfalls nahmen sie seine Einladung an, drei Monate in seinem Aschram in Rishikesh zu verbringen.

Wenig ist bekannt über Mahesh, bevor er im gesetzten Alter den Ehrentitel Maharishi bekam, der »großer Seher« oder »großer Weiser« bedeutet. Vermutlich wurde er 1917 oder 1918 geboren, vielleicht aber auch schon 1911. Er studierte Physik an der Universität von Allahabad in Nord-Indien und wurde nach seinem Studium Schüler von Swami Brahmananda Saraswati, bekannt als Guru Dev, der »göttliche Lehrer«. Als Saraswati 1953 starb, zog Mahesh sich ins Himalaya-Gebirge zurück, um zu meditieren. Nach zwei Jahren in erhabener Einsamkeit kehrte er in die Zivilisation zurück, um die Massen in einer Meditationsform zu unterrichten, die er selbst entwickelt hatte. Er nannte die Methode transzendentale Meditation, abgekürzt TM. Indem man zwei Mal täglich zwanzig Minuten meditierte und dabei im Kopf ein heimliches Mantra aufsagte, würde man laut Mahesh oder Maharishi Teil der »kreativen Intelligenz« des Universums werden und »das innere Selbst« sowie die absolute Ruhe erfahren. Maharishi erweiterte seinen Aktionsradius sehr bald schon von Indien über die ganze Welt und ging auf ausgiebige Tourneen, auf denen er ein nach Spiritualität suchendes westliches Publikum in Meditationstechniken unterwies, die »allen gelingen können«.

Der Aufenthalt in Rishikesh war ein durchaus gemischtes Erlebnis für die vier Musiker und ihre Ehefrauen. Ringo Starr und seine Frau Maureen reisten bereits nach zehn Tagen wieder ab. Starr vertrug das kräftig gewürzte indische Essen nicht, und es war auch nicht hilfreich, dass seine Frau unter einer Insektenphobie litt. George Harrison war schon länger fasziniert von der indischen Kultur und ging in der Meditation auf, aber niemand war eifriger als John Lennon, der jeden Tag stundenlang meditierte. Nach anderthalb Monaten hatte auch Paul McCartney genug vom Aschram-Dasein und kehrte nach England zurück. Harrison und Lennon blieben in Indien, und die Fans fürchteten, sie würden gar nicht mehr zurückkommen.

Nachdem sie zwei Monate im Aschram verbracht hatten, verließen Harrison und Lennon am 12. April 1968 Indien jedoch in aller Eile. Begleitet wurden sie von ihren Ehefrauen und Alexis Mardas, besser bekannt als Magic Alex, einem griechischen Elektroingenieur, der zu jener Zeit engen Kontakt zu den Bandmitgliedern hatte. The Fab Four hatten damals offenbar ein großes Herz für selbsternannte Weise, die große Versprechen machten. Mardas hatte ihnen ununterbrochen fantastische Erfindungen versprochen: sonische Wände, eine Farbe, durch die man unsichtbar werden konnte, fliegende Untertassen. Der griechische Elektroingenieur besuchte den Aschram, nachdem Paul McCartney bereits abgereist war, und begann, kompromittierende Gerüchte über Maharishi zu verbreiten. Schließlich gelang es ihm, einen skeptischen Lennon und einen noch skeptischeren Harrison zu überzeugen, dass Maharishi es auf seine weiblichen Schüler abgesehen und mit einer von ihnen, einer jungen amerikanischen Krankenschwester, Sex gehabt habe. Tief enttäuscht, dass der asketische Weise die gleichen fleischlichen Gelüste hatte wie ganz gewöhnliche Rockmusiker, entschieden die beiden verbliebenen Bandmitglieder, Indien zu verlassen. Auf dem Weg zum Flugplatz komponierte Lennon im Auto einen Song, den er zunächst »Maharishi« nannte, Harrison, der den Guru beschützen wollte, schlug stattdessen als Titel »Sexy Sadie« vor: Sexy Sadie, what have you done? You made a fool of everyone.

Sowohl Harrison wie McCartney praktizierten die transzendentale Meditation weiter und nahmen viele Jahre später wieder Kontakt zu Maharishi auf. Der Guru starb 2008, und im darauffolgenden Jahr standen McCartney und Ringo Starr bei einem Konzert auf der Bühne, bei dem Spenden gesammelt wurden, um weltweit arme Kinder in der Technik der transzendentalen Meditation zu unterrichten. Der Aschram in Rishikesh hatte zu dieser Zeit über zehn Jahre leer gestanden und war der Natur überlassen worden. Vor einigen Jahren öffnete er erneut seine Tore, umbenannt in The Beatles’ Ashram. Gegen sechshundert Rupien, etwas mehr als einen Euro, gelangt man in die große, leere Anlage und kann zwischen den überwucherten Meditationsgebäuden umherwandern.

Der größte Teil der Gebäude ist im indischen Stil erbaut, mit gewölbten, verschnörkelten Fenstersprossen. Durch die Rückeroberung der Natur erinnerte die Anlage an die Maya-Ruinen von Guatemala. Die Ruinen sind zeitlos; aber die Zeit war nicht nur stehen geblieben, es schien, als würde sie aktiv zurückgedreht, sodass die Vergangenheit mehr als nur Vergangenheit war – die verlassenen Gebäude wurden größer, als sie eigentlich sind, sie wurden Geschichte. Einzelne Bauten, wie die Cafeteria, in der Ringo Starr das kräftig gewürzte indische Essen serviert wurde, waren in einem futuristischen Sechzigerjahre-Stil gehalten. Umgeben von Palmen und Affen ähnelten sie nun einem im Dschungel gestrandeten Miniatur-Tschernobyl. Die wie Bienenkörbe geformten Meditationszellen unterhalb der Cafeteria waren umgeben von wild wucherndem Dschungel und mit einer dicken Moosschicht überzogen – in den Tropen vergeht die Zeit schnell. Es soll auch einen Swimmingpool und einen Hubschrauberlandeplatz auf dem Gelände gegeben haben, beides habe ich zwischen all den Bäumen allerdings nicht gefunden.

Im Gegensatz zum guatemaltekischen Dschungel hatte ich die Ruinen aber für mich. Ich schlenderte mutterseelenallein umher, außer Affen und bunten Vögeln begegnete ich niemandem. Ein halbes Jahrhundert zuvor waren vier Burschen aus Liverpool hier spazieren gegangen; zwischen ihren Meditationsmarathons klimperten sie auf Gitarren und Sitars und schrieben Songtexte. Vielen der sicher dreißig Songs, die sie hier komponierten, darunter »Dear Prudence«, »Back in the U.S.S.R.« und »Blackbird«, ist ein ewiges Leben beschert – soweit Lieder ewig leben können. Der materielle Luxus, mit dem die Musiker sich umgaben, gehört bereits einer zeitlosen Vergangenheit an, ein Schicksal, das er mit allen Ruinen der Welt teilt.

Ich ging weiter durch den Dschungel, vorbei an Plakaten, die für den wissenschaftlichen Effekt der transzendentalen Meditation warben, und kam in eine Halle, die aussah wie eine baufällige Garage mit klaffenden Fensterhöhlen und einem Wellblechdach. An den Wänden waren John, Paul, George und Ringo als schwarze Graffiti verewigt, zwischen ihnen der bärtige Maharishi. Auf dem Boden saßen zehn, zwölf Frauen aus dem Westen im Lotussitz. Ein nicht sonderlich großer Inder in weißen Gewändern und einem langen grauen Bart geleitete sie schweigend durch die Séance.

Nach einigen Minuten erhabener Stille verließ ich die meditierenden Frauen und ging zurück ins Stadtzentrum. Der Weg war menschenleer und öde, ich hatte keine andere Gesellschaft als die mageren Kühe, die am Rand des Straßengrabens Abfälle fraßen.

An den Tempeln entlang des Flussufers hatten sich hingegen bereits viele Menschen versammelt. Musiker schlugen auf Trommeln und Rhythmusinstrumente, junge Burschen in orangefarbenen Umhängen hielten brennende Öllampen und Schüsseln in den Händen und murmelten Mantras. Die Öllampen wurden an Pilger weitergereicht, die mit den Händen über die Flamme strichen, um sich segnen zu lassen. Viele brachten mit Blumen, Weihrauch und Kerzen gefüllte Bananenblattschiffchen mit, die den Ganges hinabgeschickt wurden – eine Opfergabe an die Götter und den Fluss, der hier oben in den Bergen noch einigermaßen sauber und ungetrübt war. Eine Frau mit langen grauen Haaren und einem weißen Baumwollgewand, die Mitte sechzig sein mochte, ging die Treppe hinunter und hielt eine leiernde Rede über Harmonie, Frieden und heilige Rituale in einem nasalen amerikanischen Englisch. Sie redete lange, wiederholte aber nur wieder und wieder dieselben Worte und Floskeln. Heilige Rituale, Harmonie, Frieden. Frieden, heilige Rituale, Harmonie. Eine andere ältere Frau aus dem Westen, auch sie drapiert in weiße Stoffe, war von dem Ritual so mitgerissen, dass die Menschen um sie herum zurücktreten mussten, um Platz für ihre heftigen, ekstatischen Armbewegungen zu schaffen.

1968 war gestern.

Die Korrektur meines negativen Horoskops meldete sich auf eigene Initiative. Ich aß einen Pfannkuchen in einem Restaurant mit dem etwas zweideutigen Namen Holy Crêpe, als ein junger Mann mit Bart und schmalen Augen mich fragte, ob er sich mit mir fotografieren lassen dürfte. Er winkte einem Kameraden zu, der auf uns zulief und ein Foto knipste.

»Ist es in Ordnung, wenn ich mich hier zu Ihnen setze, um mich ein bisschen mit Ihnen zu unterhalten?«, fragte er hinterher. Ich nickte, ich hatte nichts Besseres vor. Er nahm Platz und stellte sich als Samarth vor.

»Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und arbeite als Mathelehrer und Autor«, erklärte Samarth. »Mein erstes Buch wird bald erscheinen. Es geht um Geschichte, Wirtschaft und Europa.«

Er roch nach altem Schweiß, sah aber dennoch gepflegter aus als viele der Rucksacktouristen in dem Lokal.

»Neben meiner Arbeit als Mathematiklehrer, Historiker und Autor bin ich auch Astrologe«, fügte er hinzu.

»Interessant«, sagte ich. »Mir wurde gerade in Dharamsala ein Horoskop gestellt, und das sah nur Elend und Not für mich vor.«

»Ich sehe überhaupt keine Probleme«, sagte Samarth, »aber so ist es bei denen immer. Sie erzählen viel Negatives, damit die Leute sich Sorgen machen.«

»Sind Sie ausgebildeter Astrologe?«

»Streng genommen habe ich keine formelle Ausbildung, aber geben Sie mir Ihr Geburtsdatum, dann kann ich Ihnen alles über Sie sagen.«

Ich nannte ihm das Datum, und er begann, auf einem Block die Zahlen in komplexe Diagramme einzufügen, zu addieren, zu subtrahieren und umzustellen.

»Sie sind sehr emotional«, sagte er schließlich. »Sie reisen viel.«

»Ja. Schließlich bin ich hier.«

»Aber vor allem in den letzten fünf Jahren sind Sie viel unterwegs gewesen«, erklärte Samarth. »Es war extrem. Sie sind rastlos, voller Gefühle, häufig können Sie nicht einschlafen, weil Sie so voller Gefühle sind. Trinken oder rauchen Sie? Wenn ja, tun Sie das, um Ihre Gefühle zu dämpfen. 2007 haben Sie sich verliebt, stimmt das?«

Ich schüttelte den Kopf.

»In zwei Jahren werden Sie einen großen Durchbruch erleben«, fuhr Samarth unverdrossen fort. »Sie werden großen Erfolg haben und eine Menge Geld verdienen.«

»Die tibetische Astrologin hat in zwei Jahren Unglücksfälle vorausgesagt.«

»Nein, nein, es wird sich etwas ändern, aber sehr zum Positiven«, meinte Samarth. »Sie werden eine Menge Geld verdienen. Sie müssen das Geld in Immobilien investieren, das wäre gut.«

Er starrte mich so intensiv an, dass ich sehr schnell aufbrechen wollte. Bevor ich ging, gab er mir seine Telefonnummer und seine E-Mail-Adresse, falls ich weitere Orientierungshilfen benötigen sollte.

Haridwar (314 Meter über N.N.), die Nachbarstadt, war noch größer, hässlicher und heiliger als Rishikesh. Hier erreichte der Ganges das indische Flachland, und im Hinduismus hieß es, die Göttin Ganga habe hier die Erde betreten, nachdem Shiva den mächtigen Fluss aus seinen Haarlocken gelöst hatte. Obwohl Haridwar nur zwanzig, dreißig Kilometer von Rishikesh entfernt liegt, dauerte die Autofahrt zwei Stunden. Immer wieder blieben sämtliche Autos auf der Straße stehen, ohne sich vor- oder zurückzubewegen, während die Fahrer energisch ihre Hupen benutzten.

Der Parkplatz lag ein Stück vom Haupttempel entfernt, und man musste nur den Menschenmassen folgen. Zehntausende hatten sich am Flussufer versammelt, um das tägliche Sonnenuntergangsritual zu verfolgen. Einen Platz an der Flussseite des Tempels zu bekommen, konnte man sofort vergessen, aber ich eroberte mir nach und nach einen Platz auf dem breiten Steg gegenüber dem Tempel, der mitten im Fluss gebaut war. Ich sah keine weiteren Ausländer in dem Menschenmeer und wurde ständig von eifrigen Pilgern weitergeschubst. »Gehen Sie nach vorn, damit Sie etwas sehen!«, forderten sie mich freundlich auf. »Gehen Sie, gehen Sie, nicht so schüchtern!«

Auf der anderen Seite des Flusses schwangen Hindupriester in der gerade angebrochenen abendlichen Dunkelheit Feuergefäße hin und her. Alle hoben die Arme in reiner Ekstase, Zehntausende Stimmen erhoben sich und sanken in einen gemeinsamen Gesang. Ein Feuergefäß wurde in meine Richtung geschickt, und der junge Mann neben mir, ein Doktorand aus dem Wüstenstaat Rajasthan, bestand darauf, dass ich das Gleiche tat wie alle anderen und meine Hände über die Flammen hielt. Es würde Glück bringen, versprach er.

»Jetzt müssen wir zum Wasser«, sagte er hinterher und zeigte auf das kleine Bananenblattboot, das er in den Händen hielt. Unangestrengt manövrierte er sich durch das Gewimmel der Menschen, ich folgte ihm. Am Ufer sprach er einen in Orange gekleideten Priester an und erklärte ihm, dass ich in das Gebet einbezogen werden müsse, der Priester sollte für uns beide beten. Der promovierende Student ging in die Hocke und zündete eine Kerze an, die wie ein Mast ohne Segel in dem kleinen Bananenblattboot stand.

»Lassen wir es gemeinsam zu Wasser!« Er lächelte mir zu, und zusammen schickten wir das kleine Boot voller Weihrauch und Blumen den Ganges hinunter. Das zerbrechliche Schiffchen schaukelte gefährlich in dem reißenden Fluss, kippte aber nicht um. Die Flamme der Kerze flackerte leicht, als das kleine Fahrzeug mit dem Strom davonfloss und der »Mutter« Ganges ein kleines Stück auf dem langen Weg zum Golf von Bengalen folgte.

»Jetzt müssen Sie Milch in den Fluss gießen«, erklärte der Doktorand. Ein Junge stand neben uns und hielt Metallbecher und Milch bereit. Ich gab ihm zehn Rupien – ich hatte die strenge Anweisung erhalten, ihm nicht mehr zu bezahlen – und bekam zwei Becher voll Milch.

»Gießen Sie die Milch langsam in den Fluss«, instruierte mich der Student und tat dasselbe. Die weiße Flüssigkeit verschwand in dem grünlichen schäumenden Wasser. Mein Helfer strahlte. »Gut«, lobte er mich. »Und jetzt müssen wir baden!«

Mein Reiseführer war voll mit Warnungen vor Leuten, die Touristen während des Sonnenuntergangsrituals Hilfe anbieten und hinterher eine Menge Geld verlangen, aber glücklicherweise sind die Menschen oft freundlicher, als die Autoren von Reiseführern glauben. Der Doktorand zog seine Sandalen aus und hielt voller Freude beide Füße ins Wasser. Ich tat es ihm nach. Dann schöpfte er mit den Händen Wasser und goss es sich über den Kopf. Ich machte es ebenso, und er lächelte mir glücklich zu.

»Hier ist das Wasser frisch und kalt«, bemerkte er. »Der Ganges wird hier geboren, genau hier. Übrigens, woher kommen Sie?«

»Norwegen.«

Er dachte nach.

»Der Ganges ist für uns wie die Themse für euch Europäer«, sagte er. »Ein heiliger Fluss. Fühlen Sie sich jetzt glücklich?«

»Ja«, antwortete ich und war es tatsächlich. Vielleicht eher aufgrund der Volksmenge, der allgemeinen Euphorie und der Freude, ein Teil des Ganzen zu sein, als wegen der Flammen, der Gebete und des Wassers, aber wer weiß? Mutter Ganges strömte mächtig, breit und sauber an uns vorbei; das Rauschen des Flusses übertönte beinahe die munteren Stimmen der Pilger.

»Und sind Sie auch glücklich?«, fragte ich.

Er lächelte von einem Ohr zum anderen.

»Ja, ich bin zum ersten Mal hier!«

Obwohl es stockfinster geworden war, herrschte noch immer hektische Aktivität im Fluss, viele Pilger nahmen ein reinigendes abendliches Bad. Sie begnügten sich nicht damit, die Zehen ins Wasser zu stecken, sondern tauchten mit dem ganzen Körper ein. Man hatte Ketten ins Wasser gehängt, an denen sie sich festklammern konnten, während das Wasser sie segnete; hier oben in der Nähe der Berge war der junge Ganges reißend und wurde dabei kräftig von der Schwerkraft unterstützt. Auf dem Steg saß eine lange Reihe von Bettlern an der Brüstung, die mit ausgestreckten Händen und flehenden Blicken die Gebrechen zur Schau stellten, die ihr einziges Kapital waren: Prothesen, Beinstümpfe, gewaltige Klumpfüße mit faltigen, schlaffen Hautschichten.

Die Rückfahrt im Auto verlief in gemächlichem Joggingtempo. An dem großen Schild, das uns in Rishikesh willkommen hieß, bremste der Fahrer abrupt und sprang, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Wagen. Rikschas, Autos und Motorräder standen verlassen an den Straßengräben und kreuz und quer auf der Straße; vor zwei erleuchteten Buden hatten sich lange Schlangen gebildet. Nach einer Weile kam der Fahrer mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck und zwei braunen Glasflaschen zurück. Da sowohl Rishikesh wie Haridwar im Hinduismus als heilige Städte gelten, ist der Verkauf von Alkohol innerhalb der Stadtgrenzen verboten. Direkt vor dem Stadttor ist es jedoch erlaubt.

Der Wagen wollte nicht wieder anspringen, der Motor stotterte und hustete, dann erstarb er. Dasselbe wiederholte sich mehrmals, wir mussten angeschoben werden, um weiterfahren zu können.

»Instant Karma«, bemerkte ich.

Der Fahrer grunzte irgendetwas als Antwort. Seine Miene strahlte nicht länger Friedfertigkeit aus. Die braunen Flaschen klirrten, als wir durch das Tor in die heilige Stadt fuhren.

Wo beginnt ein Fluss und wo endet er?

Vorläufig ist es möglicherweise leichter zu sagen, wo der Ganges endet, als seinen Anfang zu bestimmen. Nachdem er über zweieinhalbtausend Kilometer vom Himalaya über die nordindischen Ebenen geflossen ist, gespeist von immer mehr Nebenflüssen, stößt er auf den Brahmaputra, der aus Tibet kommt und einen noch längeren Weg hinter sich hat. Zusammen verästeln sie sich in ein verzwicktes Netzwerk von Haupt- und Nebenflüssen, das in der Summe das größte Delta der Welt ergibt, die eigentliche Existenzgrundlage für rund einhundertsechzig Millionen Menschen, die in Bangladesch leben. Am Ende, nach einer Reise, die ihn durch fünf heilige Städte geführt hat, mündet der Ganges im Golf von Bengalen, ungefähr dort, wo die gigantische eurasische Kontinentalplatte auf die indischen und burmesischen tektonischen Platten trifft.

Dennoch, wo endet eigentlich ein Fluss? Alle Flüsse der Welt, auch der heilige Ganges, sind ein Teil des ewigen Kreislaufs des Wassers. Die Meeresoberfläche verdampft und bildet Wolken, die zu Regen, Schnee und Eisgletschern werden, die wiederum zu Flüssen werden, die nach einer langen oder kurzen Reise in Meeren und Seen enden, in denen alles von vorn beginnt.

Wenn wir hinduistischen Schriften glauben wollen, hatte der heilige Fluss schon ein langes Leben hinter sich, bevor er die Erde erreichte. Einer Legende nach ist Ganga, die Flussgöttin, eine Tochter von Himavat, dem König über Berge und Schnee, dem König des Himalaya-Gebirges. Auf Sanskrit wird der Name Himavat, der »Schnee« oder »gefroren« bedeutet, auch für den Himalaya verwendet, und so werden der Gott und die Berge eins. Laut einer anderen Legende wird der Ganges geboren, als Vishnu die Länge des Universums vermisst. Als er den linken Fuß ausstreckt, erreicht der Nagel seines großen Zehs das Ende des Universums und bohrt ein Loch. Das Meer, das sein Schöpferwerk umgibt, strömt als Fluss Ganges durch dieses Loch in das Universum und wäscht die safranbedeckten Füße des Gottes.

Ganges steigt nicht sofort zu den Menschen herab. Der Legende nach schickt König Sagara sein Pferd ein Jahr auf eine Wanderung rund um den Erdball, ein Ritual, das er schon mehrere Male vollzogen hat, doch dieses Mal kommt das Pferd nicht zurück. Der König schickt alle seine sechzigtausend Söhne aus, um nach dem Pferd zu suchen. Sie finden es schließlich angebunden an der Höhle des Asketen Kapil Muni. Die Söhne verdächtigen den Asketen natürlich, das Pferd gestohlen zu haben, stürmen in die Höhle und beginnen, ihn zu beschimpfen. Kapil Muni, der in eine tiefe Meditation versunken ist, öffnet die Augen zum ersten Mal seit vielen Jahren, so wütend, dass sein Blick alle sechzigtausend Prinzen zu Asche verwandelt. Als König Sagara hört, was geschehen ist, schickt er eines seiner Enkelkinder zu Kapil Muni, um zu erfahren, was er tun kann, um seine Söhne zu retten. Ihm wird gesagt, dass die Prinzen nur ins Leben zurückkehren können, wenn sie durch das Wasser des Ganges gereinigt werden. Ein anderes Enkelkind, Bhagirath, lebt also tausend Jahre als Asket im Himalaya-Gebirge, um Brahma, den Gott der Schöpfung, zu überreden, den Ganges auf die Erde zu lassen. Brahma gibt am Ende nach, aber zuerst muss Shiva überzeugt werden, den Fall des Flusses abzufangen, sonst würde sein Gewicht den Erdball zerstören. Bhagirath muss ein ganzes Jahr auf einem Zeh stehen, bis Shiva bereit ist, den reißenden Ganges mit seinem Haar aufzufangen. Mit seinen Haarlocken teilt Shiva den Fluss in drei Teile: Bhagirathi, Alaknanda und Mandakini und lässt sie auf die Erde fließen. Diese drei Flüsse oder Haarlocken, die im Hinduismus alle als heilig angesehen werden, entspringen Eisgletschern im indischen Teil des Himalaya. Alaknanda und Mandakini verschmelzen nach rund siebzig Kilometern, und einige Kilometer später treffen Alaknanda und Bhagirathi zusammen und werden zum Ganges.

Seit ewigen Zeiten haben die Hindus den Ganges als den heiligsten aller Flüsse angesehen, personifiziert in der Göttin Ganga, häufig auch Ma Ganga genannt, Mutter Ganges. Die Hindus glauben, ein Bad im Ganges könne sie von allen Sünden reinigen und dadurch die Chancen erhöhen, Moksha zu erreichen, die Befreiung aus dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Altersschwache Pilger strömen zu Hunderttausenden in die Städte an den Ufern des Ganges, um an dem heiligen Fluss zu sterben und verbrannt zu werden, und Millionen von Hindus sind mit Tropfen vom Ganges auf den Lippen gestorben.

Mit seinen rund zweieinhalbtausend Kilometern landet der Ganges weit unten auf der Liste der längsten Flüsse der Welt. Bemisst man allerdings die Bedeutung der großen Flüsse nicht nach der Anzahl der Kilometer, sondern danach, wie viele Menschen von ihnen abhängig sind, rangiert der Ganges an der Spitze. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung Indiens und sozusagen sämtliche Bürger Bangladeschs, insgesamt also mehr als eine halbe Milliarde Menschen, sind abhängig vom Wasser des Ganges. Sie trinken aus dem heiligen Fluss und waschen sich in ihm – und die gesamte Landwirtschaft und Industrie an seinen Ufern wird dank des Ganges am Leben erhalten. Leider hat er auch eine Top-Platzierung in dem weniger ehrenvollen Wettbewerb um die am schlimmsten verunreinigten Flüsse der Welt. Die Städte an seinen Ufern produzieren ungefähr drei Milliarden Liter Abwasser pro Tag, der größte Teil fließt ungeklärt in den Fluss – was dazu führt, dass multiresistente Bakterien in dem heiligen Wasser blühen und gedeihen. Dazu kommt, dass chemische Fabriken, Krankenhäuser, Schlachtereien, Destillerien und andere Firmen große Mengen giftigen Abfalls in den Fluss leiten, darunter Chrom und Quecksilber.

Dieses Gemisch fließt nach einer Reise von rund zweieinhalbtausend Kilometern schließlich in den Golf von Bengalen. Aber noch einmal: Wo beginnt der Ganges? Kartografen und Etymologen sind der Ansicht, dass der Ursprung eventuell nahe der kleinen Stadt Devprayag zu finden ist, mit dem Auto zwei Stunden von Rishikesh entfernt, wo Bhagirathi und Alaknanda zusammen- und gemeinsam als Ganges weiterfließen. Hydrologen und Geografen könnten argumentieren, dass der Ganges am Eisgletscher Satopanth beginnt, wo die Alaknanda ihren Ursprung hat. Aufgrund der Länge und der großen Wassermengen der Alaknanda ist es nicht unlogisch, ihren Ursprungsort als den Geburtsort des Ganges anzusehen. Die meisten Hindus sind allerdings der Meinung, dass der Ganges an der Quelle des Bhagirathi-Flusses beginnt, am Fuße des Gangotri-Gletschers.

Die Fahrt von Rishikesch nach Gangotri (3415 Meter über N.N.) dauerte über neun Stunden. Die Straße war im gewohnt schlechten Zustand, aber mit Pilgern beladene Kleinbusse, deren Dächer mit Fähnchen und Figuren lokaler Götter geschmückt waren, kämpften sich tapfer dem Ziel entgegen bergauf.

In Gangotri lag die Temperatur drinnen wie draußen um den Gefrierpunkt. Eine schmale Straße voller Läden und Buden, die Weihrauch, Blumen und andere Opfergaben verkauften, führte hinauf zu einem kleinen Tempel. Es war bereits später Nachmittag und der aus dem 19. Jahrhundert stammende Tempel geschlossen. Die meisten Pilger waren längst zum nächsten Heiligtum weitergezogen – der Tempel von Gangotri ist lediglich eines von vier Pilgerzielen auf der kleinen Char-Dham-Route, den »vier Wohnungen«, einem Pilgerweg im Himalaya, den jeder gläubige Hindu unbedingt absolvieren möchte. Diejenigen, denen es gelingt, alle vier Wohnungen zu besuchen, werden von ihren Sünden befreit und haben ihre Chancen erhöht, Moksha zu erreichen. Die Reise dauert normalerweise zehn, zwölf Tage mit dem Auto, aber eilige und vermögende Pilger können alle vier Bergtempel mithilfe eines Helikopters in zwei Tagen schaffen.

Als der Himmel über den Bergen rosa wurde, zog eine Handvoll frierender Priester, die Wollmützen und dicke Daunenwesten über den weißen Gewändern trugen, hinunter zum Flussufer. Pflichtschuldig zündeten sie die Feuergefäße an, die von leichten Trommelrhythmen und leiernden Gebeten begleitet herumgereicht wurden. Drei, vier Pilger, dick verpackt in Winterjacken und Polarfäustlingen, ließen sich von den Flammen segnen und traten an den Fluss heran, um ihre kleinen Bananenblattboote zu Wasser zu lassen. Hier oben sprudelte der Bhagirathi oder Ganges noch sauber, klar und frisch an dem Tempel vorbei. Sobald die Sonne untergegangen war, eilten die Priester und Pilger wieder ins Warme.

Die eigentliche Quelle ist nur zu Fuß zu erreichen. Alle Pilger und Touristen zu Fuß müssen sich registrieren lassen, bevor sie sich auf den Weg machen dürfen. Theoretisch sollte das Registrierungsbüro um acht Uhr öffnen, tatsächlich öffnete es allerdings nicht, bevor der für die Registrierung verantwortliche Soldat es für richtig befand, sich einzufinden. Gegen halb neun nahm ein morgenmuffliger Berufssoldat mittleren Alters hinter dem Schreibtisch Platz, um sein Tagewerk zu beginnen. Es war verboten, allein zur Quelle hinaufzugehen, daher bekam ich einen Träger zugeteilt, einen jungen, schüchternen Burschen, der ungefähr ebenso viele Worte Englisch konnte wie ich Hindi. Ich hatte versucht, mir Hindi beizubringen, bevor ich aufbrach, und hatte tapfer mit dem konsonantenreichen Devanagari-Alphabet und den fremden Verbformen gekämpft. Trotz der guten Noten bei der Abschlussprüfung erinnerte ich mich aus all den Stunden, in denen ich gebüffelt hatte, nur an eine einzige Phrase: Ajka mausam ajha hai. Heute ist schönes Wetter. Ich konnte auch das Gegenteil sagen: Ajka mausam ajha nahi hai. Heute ist das Wetter nicht schön. Das war’s.

Ein breiter Weg aus Steinen und Beton führte sanft ansteigend das Tal hinauf, das sich in Sonnenschein gebadet präsentierte, flankiert von hohen grünen Bergen. Wir gingen durch ewiggrüne Rhododendron- und Tannenwälder, herbstlich orangefarbene Kiefern und Himalaya-Zedern, eine Art gerupfte Kiefer, die im Hochgebirge sehr gut gedeiht. Mein Plan war, es ruhig angehen zu lassen und mit den Pilgern zu sprechen, denen ich unterwegs begegnete, stattdessen aber überkam es mich: Mit einem Mal wollte ich an möglichst vielen Pilgern vorbeiziehen und so schnell wie möglich vorankommen – es müssen die Sonntagsausflüge meiner Kindheit im Westland gewesen sein, die mich heimsuchten. Nicht dass ich hätte mit vielen Pilgern sprechen können. Weitaus die meisten, denen ich begegnete – und an denen ich vorbeirannte –, waren Touristen aus dem Westen, die zu Fuß gingen. Die wenigen Inder, an denen ich vorbeikam, wurden auf Pferden transportiert. Am Nachmittag bot sich mir ein Anblick, der mir lange im Gedächtnis bleiben wird: Ein gebückt gehender, sehniger Mann trug eine ausgesprochen korpulente Inderin in einem Korb auf seinem Rücken. Ich ging davon aus, dass die Frau lahm war, sie tat mir leid, doch nach einigen Kilometern sah ich einen weiteren Mann mit einem Korb, diesmal war die Frau im Korb jedoch jung und vital und trug teure Outdoor-Kleidung. Sie ließ die Füße baumeln, die in nagelneuen Bergschuhen steckten, während ein krummgebückter Träger sie langsam, Schritt für Schritt, der Quelle näher brachte.

Es wurde bereits dunkel, als ich das kleine Zeltlager erreichte, in dem ich übernachten sollte. Ich sicherte mir ein Bett in einem Achtmannzelt, das ich mit Rucksacktouristen aus Kanada, Frankreich und Israel teilte. Es war so kalt in dem schlichten Zeltcafé, dass wir alle noch vor sieben Uhr in unsere Schlafsäcke krochen. Mitten in der Nacht wachte ich mit dröhnenden Kopfschmerzen auf – wir befanden uns auf viertausend Metern Höhe. Der Generator arbeitete nicht mehr, drinnen wie draußen war alles still und dunkel. Ich krabbelte aus meinem Schlafsack und schlurfte hinaus in die Sternennacht. Über meinem schmerzenden Kopf wand sich die Milchstraße wie ein weißer Himmelspfad. Die Inder nennen die Milchstraße Aksaganga, den Ganges des Himmels.

Die letzten Kilometer bis zur Quelle brach der Weg gleichsam ab. Hier nützten weder Pferde noch Korbträger, die Pilger hatten keine andere Chance, als selbst zu gehen. Ausgerüstet mit Stöcken und billigen Sandalen arbeiteten sich runzlige Greise trotzig über den rudimentären Pfad. Das letzte Stück mussten wir über Felsbrocken klettern und bewegten uns an lockeren, lawinengefährdeten Hängen, auf denen ständig kleine Steine den Berghang hinunterrutschten.

Der alte Weg zum Gangotri-Gletscher war 2013 während eines großen Hochwassers vollkommen zerstört worden. Ungewöhnlich kräftiger Regen über mehrere Tage hinweg hatte dazu geführt, dass viele Flüsse durch Bäume und Sedimente aus den Bergen blockiert waren. Als diese Dämme brachen, strömten enorme Wassermengen unkontrolliert ins Tal und rissen Dörfer und Menschen mit sich. Über fünftausend Menschen verloren bei dieser Überschwemmung ihr Leben, am härtesten getroffen wurde Kedarnath, eines der vier Pilgerziele der Char-Dham-Route. Auf wundersame Weise wurde der Tempel nicht zerstört, aber Pilger, Träger, Pferde, Hotels, Geschäfte und Cafés wurden von den gewaltigen Wassermassen fortgespült. Regenwetter dieser Art ist nicht normal in den Bergen, doch es wird künftig häufiger vorkommen, ähnlich wie auch alle übrigen Formen extremer Wetterlagen.

Vor lauter Schotter sah ich den Gangotri-Gletscher kaum. Der Eisgletscher war mit schwarzem Sand und kleinen Steinen überzogen, das eigentliche Eis war verborgen. Aus einer ovalen Öffnung strömte kaltes, frisches Wasser. Ich hatte einen rieselnden kleinen Bach erwartet, aber der Ganges ist schon bei seiner Geburt überraschend reißend. Gaumukh (4023 Meter über N.N.), das Kuhmaul, wird diese Quelle von den Hindus genannt, und die Öffnung erinnerte tatsächlich an ein Maul oder einen Mund. Eine halbe Milliarde Menschenleben sind von dem Schmelzwasser abhängig, das aus dem Kuhmaul, dieser scheinbar ewigen Quelle, fließt.

Doch die ewige Quelle schmilzt. So wie beinahe alle anderen Eisgletscher im Himalaya wird auch der Gangotri kleiner. Vor zweihundert Jahren erstreckte er sich drei Kilometer länger ins Tal, und mit jedem Jahr beschleunigt sich der Abschmelzprozess. Das Besorgniserregendste ist allerdings nicht, dass der Gletscher sich zurückzieht, sondern dass er, ähnlich wie viele andere Eisgletscher auf der Erde, dünner wird und damit weniger Eis enthält – die Gletscher werden dadurch letztlich verletzlicher. Rund siebzig Prozent des Wassers im Ganges ist Schmelzwasser aus dem Himalaya, und nun schmelzen die Gletscher in alarmierendem Tempo. Obwohl die Niederschlagsmenge insgesamt möglicherweise auch in Zukunft gleich bleiben wird, so wird das Wasser nicht länger gleichmäßig fließen. Überschwemmungen werden Dürreperioden folgen, die wiederum von Überschwemmungen abgelöst werden, ein albtraumartiger Zyklus.

Vorläufig fällt die Antwort nach dem Ende des Ganges leicht, doch in naher Zukunft ist es nicht unwahrscheinlich, dass Ma Ganga zu bestimmten Zeiten des Jahres das Meer nicht mehr erreicht.

Am Ufer saß ein dünner junger Mann in der Hocke und wusch sich. Er hatte sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, aber es sah nicht so aus, als würde er frieren. Als er mich sah, lächelte er glücklich. Ich erwiderte sein Lächeln. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, und das wunderbar saubere Gletscherwasser strömte grünlich schimmernd ins Tal, mit klarem Kurs auf die überbevölkerten nordindischen Ebenen.