8. KAPITEL

In dem Moment läutete Cesares Handy. Er schoss geradezu in die Höhe und hatte das Gefühl, jemand hätte ihm einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Du liebe Zeit, habe ich den Verstand verloren? fragte er sich. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich von seinem Verlangen beherrschen lassen. Er hatte vergessen, wer Milly und wer er war. Diese bittere Erfahrung hätte er sich lieber erspart.

Milly klammerte sich an seine Schultern. Doch ohne sie anzusehen, schob er ihre Hände weg, sprang auf und lief zu der wenige Meter entfernten Stelle, wo er den Rucksack abgestellt hatte.

Mit Abscheu registrierte er, dass seine Hände leicht zitterten, als er das Handy hervorzog. „Hallo?“, meldete er sich schließlich.

Milly hätte weinen können vor Enttäuschung, Scham und Entsetzen. Sie stand auf, ging über den warmen Sand und zog sich an. Was dachte er jetzt von ihr? In ihren Augen schimmerten Tränen, und Röte stieg ihr in die Wangen. Er musste sie für ein billiges Flittchen halten.

Aber er sollte keine schlechte Meinung von ihr haben, das war ihr wichtig. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie so etwas noch nie getan hatte? Würde er ihr überhaupt zuhören und ihr glauben? Er hielt sie ja immer noch für Jilly, seine ehemalige Geliebte. Und das machte alles noch schlimmer. Es war für ihn offenbar selbstverständlich gewesen, dass sie seine Zärtlichkeiten leidenschaftlich erwiderte.

Milly hatte sich so sehr nach ihm gesehnt und ihn so sehr begehrt, dass sie vergessen hatte, wer sie seiner Meinung nach war. Sie hatte ihm sogar klarmachen wollen, dass sie noch nie zuvor so auf einen Mann reagiert hatte und er für sie ein ganz besonderer Mann war.

Die ganze Sache war ihr schrecklich peinlich. Sie war nahe daran gewesen, sich zu verraten, wie sie sich eingestand. Wenn sein Handy nicht plötzlich geläutet hätte, hätte die stürmische Umarmung zu mehr geführt. Sie hätten miteinander geschlafen. Und da Milly im Gegensatz zu ihrer Schwester noch unschuldig war, wäre ihm sogleich klar gewesen, dass sie nicht Jilly sein konnte.

Als sie Bluse und Shorts wieder angezogen hatte, blickte sie zu Cesare hinüber. Er wirkte sehr angespannt, sagte ab und zu etwas auf Italienisch, beendete dann das Gespräch und steckte das Handy wieder in den Rucksack. Anschließend zog er rasch die Jeans an, hängte sich den Rucksack über die Schulter und drehte sich zu Milly um. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er sie an, als erinnere er sich erst jetzt wieder an sie. Was für eine Demütigung, sagte sie sich deprimiert.

„Das war Maria. Meine Großmutter ist heute Morgen gestürzt. Wir müssen sofort zurückfliegen“, erklärte er hart und eilte davon.

Milly folgte ihm und holte ihn auf dem Pfad ein, der die Klippe hinaufführte. Ihre eigenen Probleme waren vergessen, zu groß war die Sorge um die ältere Dame, die sie sehr gern hatte. „Ist sie verletzt?“, fragte sie.

Cesare warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Nicht lebensgefährlich, aber sie hat sich das Schlüsselbein und einige Rippen gebrochen. Außerdem steht sie unter Schock. In ihrem Alter ist das …“ Er verstummte, und Milly legte ihm die Hand auf den Arm.

„Reg dich nicht auf“, sagte sie mitfühlend. „Wir sind ja bald bei ihr. Am besten gehst du schon voraus, schaltest den Generator aus, schließt das Haus ab und machst den Hubschrauber startklar. Ich komme nach. Die Sachen, die ich mitgebracht habe, können wir hierlassen, um keine Zeit mit Packen zu verschwenden“, schlug sie ruhig vor.

Zuerst betrachtete Cesare ihre Hand, die auf seinem Arm lag, und dann hob er den Kopf. Nach ihrer Miene zu urteilen, war Milly offenbar ehrlich besorgt. Und das berührte ihn sehr.

„Du kommst nicht nach, sondern wir gehen zusammen zurück. Du sollst nicht von der Klippe fallen, sonst muss ich dich auch noch ins Krankenhaus bringen“, entgegnete er rau und nahm ihre Hand.

Natürlich wäre es unangenehm für ihn und würde ihn nur aufhalten, wenn ich stolperte und hinfiele und er sich um mich kümmern müsste, überlegte sie, während er sie den schmalen Pfad entlangführte. Sie durfte nicht zu viel in seine Bemerkung hineininterpretieren.

Nachdem sie die Klippe hinter sich gelassen hatten, lief er ihr doch voraus, und Milly fühlte sich in ihrer Vermutung bestätigt. Es wäre ihm lästig gewesen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre oder sie sich verletzt hätte. Vor dem Cottage wartete er auf sie. Er hatte sich eine leichte Jeansjacke übergezogen und fragte: „War das ernst gemeint, dass du deine Sachen hierlassen kannst?“

„Ja. In der Villa habe ich noch mehr als genug zum Anziehen. Ich brauche nicht nackt herumzulaufen.“ Wie komme ich dazu, so eine dumme Bemerkung zu machen? überlegte sie und ärgerte sich über sich selbst.

Cesare lächelte und zog vielsagend eine Augenbraue hoch, während er zum Landeplatz ging. Milly folgte ihm.

Während des Rückflugs und der anschließenden Fahrt im Auto schwiegen Milly und Cesare die meiste Zeit. Seine Ungeduld stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nachdem er den Wagen vor der Villa abgestellt hatte, sprang er heraus und eilte in die Eingangshalle, wo Maria ihm entgegenkam.

Da die beiden sich auf Italienisch unterhielten, verstand Milly nur das Wort dottore. Und als Cesare in Richtung der Suite seiner Großmutter lief, folgte sie ihm besorgt. Sie wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie es Filomena ging.

Die hohen Fenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, waren geöffnet und ließen die warme Luft herein, und die zugezogenen Vorhänge wehten in der leichten Brise. Filomena saß in ihrem Bett mit vielen Kissen im Rücken, den einen Arm trug sie angewinkelt in einer Schlinge.

Cesare nahm ihre freie Hand, hob sie an die Lippen und sagte leise etwas auf Italienisch. Es klang liebevoll und tröstend. Dann wandte er sich an den Mann mittleren Alters, der gerade das Stethoskop in die schwarze Arzttasche zurücklegte, und stellte ihm mehrere Fragen.

Milly blieb unsicher im Türrahmen stehen und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Irgendwie habe ich hier nichts zu suchen, dachte sie. Der Aufruhr ihrer Gefühle war nach allem, was zwischen ihr und Cesare am Morgen auf der Insel geschehen war, noch nicht abgeklungen. Sie drehte sich um und wollte sich in ihr Zimmer zurückziehen, doch in dem Moment bemerkte Filomena sie.

„Mein Kind, komm her, setz dich zu mir.“ Im nächsten Atemzug fügte sie an Cesare gewandt hinzu: „Cesare, sprich bitte Englisch mit mir, wie wir es vereinbart haben.“

Zögernd ging Milly auf sie zu und zuckte insgeheim zusammen, als Cesare herumwirbelte und sie mit finsterer Miene betrachtete. Offenbar hatte er ihre Anwesenheit wieder einmal vergessen und schien nur ungern daran erinnert zu werden, dass sie noch da war. Nie wird er mich wirklich beachten, und ich werde nie wichtig sein für ihn, sagte sie sich unglücklich und wünschte sich, dass sie sich irrte.

Während er den Arzt hinausbegleitete, ließ Milly sich in den bequemen Sessel, der an Filomenas Bett stand, sinken und lächelte sie mitfühlend an. „Sie Ärmste, wie geht es Ihnen? Haben Sie starke Schmerzen?“

Die ältere Dame war sehr blass, doch in ihren Augen leuchtete es auf, als sie antwortete: „Nur wenn ich mich bewege. Ich habe nicht aufgepasst, und deshalb muss ich jetzt leiden.“

„Wie ist es denn passiert?“ Milly streichelte ihr die Hand und versuchte, das prickelnde Gefühl im Nacken zu ignorieren. Cesare war zurückgekommen. Er stand hinter ihr und durchbohrte sie mit den Blicken, wie sie deutlich spürte.

„Amalia und ich sind im Garten spazieren gegangen. Ich habe dem Klatsch und Tratsch, den sie erzählte, so begeistert zugehört, dass ich auf nichts anderes mehr geachtet habe. Und prompt bin ich auf der Treppe ausgerutscht, die zum Gartenhaus führt.“

„Wo ist die Contessa jetzt?“, fragte Cesare und ging um das Bett herum auf die andere Seite.

„Sie ist nach Hause gefahren, als ich im Krankenwagen zurückgebracht wurde. Sie wollte nicht im Weg sein. Was für ein Theater!“

„Ich hätte dich niemals mit ihr allein lassen dürfen, wenn du noch nicht einmal aufpassen kannst, wohin du trittst“, stellte er leicht gereizt fest.

„Mein Lieber, wie redest du mit mir? Ich bin doch kein Kind!“ Filomena war plötzlich sehr niedergeschlagen, und Milly beschloss einzugreifen. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihn nicht zu beachten, warf sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du brauchst deine Großmutter nicht so herablassend zu behandeln. Wenn du nichts Nettes sagen kannst, solltest du dir jemand anders suchen, an dem du deine schlechte Laune auslassen kannst.“ Es ist mir völlig egal, was er jetzt denkt, fügte sie insgeheim beim Anblick seiner verblüfften Miene hinzu.

So wie sie ihn einschätzte, war es ihm zur zweiten Natur geworden, alles und jeden zu kritisieren. Er hielt sich offenbar für unfehlbar. Wahrscheinlich hatte ihm in seinem ganzen Leben noch niemand widersprochen. Deshalb wurde es Zeit, dass es endlich einmal jemand wagte.

Filomena drückte Milly liebevoll die Hand, während sich Cesare entschuldigte. „Es tut mir leid, Großmutter. Ich habe mir große Sorgen gemacht, das ist alles. Ich werde dafür sorgen, dass du professionell betreut wirst.“ Steif drehte er sich um und wollte den Raum verlassen. Als seine Großmutter jedoch protestierte, blieb er stehen.

„Nein, ich werde nicht zulassen, dass Fremde ins Haus kommen. Ich bin nicht schwer krank, sondern muss nur etwas kürzertreten, bis alles wieder in Ordnung ist. Jilly und Maria können mir helfen, ich brauche keine professionelle Betreuung, wie du es ausgedrückt hast.“

Langsam drehte er sich wieder um und sah Milly an. „Traust du dir das zu?“

Sie hob den Kopf. „Natürlich. Das ist für mich kein Problem.“ Mit ihren grünen Augen blickte sie ihn unverwandt an und hielt den Atem an. Würde er nachgeben oder darauf bestehen, eine Krankenpflegerin zu engagieren?

Was die beiden nicht wissen konnten: Jilly hätte längst die Flucht ergriffen, denn sie konnte es nicht ertragen, ein Krankenzimmer zu betreten. Für Krankheiten und Schwächen anderer hatte sie keine Geduld.

Mit skeptischer Miene betrachtete er sie, als zweifele er an ihren Fähigkeiten. Offenbar suchte er ein überzeugendes Argument, um seinen Willen durchzusetzen, und Milly beschloss, noch einmal ein Machtwort zu sprechen.

„Du kannst Maria bitten, für deine Großmutter etwas Leichtes zu kochen.“ Dann wandte sie sich an Filomena. „Möchten Sie vielleicht eine Suppe?“ Nachdem die ältere Dame belustigt genickt hatte, fügte Milly energisch hinzu: „Anschließend braucht sie Ruhe, Cesare.“

Verzog er etwa die Lippen? Milly konnte es nicht genau sagen und wollte auch nicht darüber nachdenken, denn sie wollte überhaupt nicht an ihn denken, besonders nicht nach dem, was am Morgen geschehen war. Es war einfach schrecklich, wie sie sich benommen hatte.

„Du hast ihn gut im Griff“, stellte Filomena fest, nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte. „Normalerweise tritt er sehr autoritär auf. Meist hat er ja auch recht, das muss ich zugeben.“ Sie hörte sich müde an, und Milly fragte sich, ob sie auf Cesares Bemerkung anspielte, sie könne nicht aufpassen, wohin sie trat. Vermutlich regte sich die ältere Dame sehr darüber auf.

„Er liebt Sie sehr und meint es gut mit Ihnen“, versicherte Milly ihr rasch, wie um sie zu trösten. „Er war nur so gereizt, weil er sich Ihretwegen große Sorgen gemacht hat. Das ist alles.“

Hat er mich etwa nur aus lauter Zorn darüber, dass ich mich unabsichtlich in Gefahr gebracht habe, so heiß und leidenschaftlich geküsst? überlegte Milly. Hatte er sie mit dem Kuss zur Besinnung bringen wollen? Das war eine einleuchtende Erklärung. Und was danach geschehen war, ließ sich auch ganz leicht erklären: Er hielt sie immer noch für Jilly, mit der er eine Affäre gehabt hatte, und der erste Kuss hatte die Leidenschaft neu entfacht.

Seine Zärtlichkeiten haben nichts mit mir zu tun, ich darf das alles nicht persönlich nehmen, ermahnte Milly sich. Glücklicherweise erschien Maria wenig später mit dem Essen und brachte Milly auf andere Gedanken. Nachdem sie das Tablett sicher auf dem Bett abgestellt hatte, blickte die Haushälterin sie an. „Möchten Sie der Signora Gesellschaft leisten? Soll ich Ihnen auch etwas zu essen bringen?“

Dankbar nahm Milly das Angebot an. „Gern, Maria. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich in Zukunft immer mit der Signora hier essen.“ Dann brauche ich nicht mit Cesare am Tisch zu sitzen, und je seltener ich ihn sehe, desto besser ist es für mich, fügte sie insgeheim hinzu.

„Das ist eine gute Idee“, pflichtete die Haushälterin ihr bei und strahlte übers ganze Gesicht.

Danach sah Milly Cesare nur noch jeden Morgen und jeden Abend gegen zehn Uhr, wenn er seine Großmutter besuchte oder wenn der Arzt kam, um sich nach dem Befinden seiner Patientin zu erkundigen. Jedes Mal entschuldigte Milly sich und verließ den Raum. Sie kam erst zurück, nachdem die Luft rein war. Die restliche Zeit verbrachte Cesare in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock oder in dem Hauptsitz seines Firmenimperiums in Florenz.

Sie ging ihm nicht aus Feigheit aus dem Weg, sondern weil es das Vernünftigste war, wie sie sich immer wieder versicherte. Sie war in großer Gefahr, sich hoffnungslos in ihn zu verlieben. Es reichte ihr, jede Nacht von ihm zu träumen. Diese Träume waren so erotisch, dass sie sich beim Aufwachen wegen ihrer Fantasie schämte. Deshalb verzichtete sie gern darauf, tagsüber Zeit mit ihm zu verbringen.

Vier Wochen später ging es Filomena wieder viel besser, und Cesare war schon seit zehn Tagen auf Geschäftsreise in Hongkong und im Fernen Osten. Offenbar hatte er keine Bedenken, seine Großmutter mit Milly allein zu lassen, was ein Vertrauensbeweis war, wie sie fand.

Insgesamt war sie entspannter als in der ersten Wochen nach ihrer Ankunft. Es machte ihr Spaß, Filomena Gesellschaft zu leisten, und mit jedem Tag gewöhnte sie sich mehr an sie. Das Leben in der Villa war für Milly zur Routine geworden.

Doch ihr Gewissen ließ ihr keine Ruhe. Es war einfach abscheulich, diese liebenswerte ältere Dame so sehr zu täuschen. Außerdem hatte Milly noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Schwester zu suchen. Auch Cesare zu täuschen fand sie nicht in Ordnung.

Ich muss den beiden endlich reinen Wein einschenken, nahm sie sich bestimmt zum hundertsten Mal vor. Bei dem Gedanken ging ihr ein Stich durchs Herz. Cesare mit seinem Reichtum sollte sich selbst darum kümmern, ihre Schwester aufzuspüren. Jilly konnte dann alle Missverständnisse aufklären, und Milly würde nach England zurückkehren – es sei denn, Cesare würde auch sie wegen Betruges anzeigen wollen, was sie ihm durchaus zutraute.

Weitaus weniger wichtig, aber dennoch unangenehm für sie war, dass sie immer noch Jillys abgelegte Outfits tragen musste, die entweder hauteng, viel zu kurz oder beides waren. Milly fühlte sich darin einfach nicht wohl.

Sie erklärte sich ihre schlechte Laune an diesem Tag damit, dass sie Jillys hellen Minirock aus Leder und das farblich darauf abgestimmte ärmellose Ledertop trug. Mit finsterer Miene holte sie die Gartenschere aus dem Geräteraum und stolzierte in den eleganten Schuhen mit den lächerlich hohen Absätzen über den gepflasterten Hof. Wie jeden Nachmittag hatte sich Maria für zwei Stunden zu Filomena gesetzt, und Milly wollte die Gelegenheit nutzen, Rosen für die ältere Dame zu schneiden. Es waren ihre Lieblingsblumen, und sie konnte noch nicht wieder selbst in den Garten gehen.

Bei der Aussicht, Zeit in dem wunderschönen Garten zu verbringen, hellte sich Millys Stimmung auf. Sie schlenderte an dem schönen Brunnen, den zahlreichen Topfpflanzen und den vielen Figuren, die zur Dekoration aufgestellt waren, vorbei bis zu dem Pfad, der zu dem Teil führte, den Filomena den Englischen Garten nannte. Dort wuchsen die herrlichsten Rosen und wunderbar duftender Lavendel.

Nachdem Cesare kurz mit seiner Großmutter geredet hatte, eilte er in sein Arbeitszimmer und stellte den Aktenkoffer ab. Endlich wieder zu Hause, dachte er, während er die Krawatte lockerte.

Dass er in den letzten Monaten so oft zu Hause oder in Florenz gewesen war, hatte ihn gestört. Er hatte sich eingeengt gefühlt, weil er nicht in seinem Privatjet von einer Niederlassung seines Firmenimperiums zur anderen hatte fliegen und überall dort eingreifen können, wo es nötig gewesen war.

Seiner Großmutter zuliebe hatte er eine Zeit lang auf die Geschäftsreisen verzichtet. Doch nachdem er nun die Probleme in den Niederlassungen im Fernen Osten und Hongkong gelöst hatte, hatte er es kaum erwarten können, nach Hause zurückzukehren. Über die wiedergefundene Freiheit hatte er sich nicht freuen können.

Er durchquerte den Raum, stellte sich an das breite Fenster, das zum Hof hinausging, streifte das Jackett ab und ignorierte das monotone Rattern des Faxgeräts.

Plötzlich hielt er den Atem an. Erregung durchflutete ihn, als er Milly entdeckte. Mit einem großen Strauß Rosen lief sie über den Hof auf den Geräteraum zu. Man sah ihr an, dass ihr zu heiß war und sie sich unbehaglich fühlte. Sie blieb kurz stehen und strich sich eine Strähne ihres silberblonden Haares aus der Stirn. Dann zog sie ärgerlich den Minirock glatt.

Ihre Zwillingsschwester trägt solche geschmacklosen Outfits gern, sie passen zu ihr, aber nicht zu Milly, dachte er und atmete tief aus. In einem Anflug von Mitgefühl beschloss er, etwas für sie zu tun. Er zog das Handy aus der Innentasche seines Jacketts und tippte eine Nummer ein.

„Die Rosen sind wunderschön, meine Liebe.“ Filomena war begeistert, als Milly die Vase mitten auf den Tisch stellte. „Ich vermisse das Umherwandern im Garten sehr. Es ist sehr aufmerksam von dir, mir meine Lieblingsblumen zu bringen.“

„Bald können Sie wieder alles tun, was Ihnen Spaß macht“, erwiderte Milly und lächelte freundlich. In der nächsten Woche sollte Filomena noch einmal geröntgt werden. Wenn der Bruch geheilt war, konnte sie die Schlinge ablegen und den Arm wieder bewegen. Sie hatte keine Schmerzen mehr, stand schon wieder auf, konnte im Haus herumlaufen und saß stundenlang in ihrem Sessel an einem der hohen Fenster. Die Rippenbrüche waren offenbar gut verheilt. „Soll ich Ihnen etwas vorlesen?“, fragte Milly.

In dem Regal standen viele neue Bücher, die Filomena mit Jilly zusammen in Florenz gekauft und noch nicht gelesen hatte.

„Nein, lieber später.“ Sie zwinkerte Milly zu, ehe sie fortfuhr: „Ich möchte mich mit dir unterhalten und mehr über dich erfahren, besonders über deine Freunde. Ich bin sicher, zu Hause wartet ein ganz besonderer junger Mann auf dich und will dich unbedingt wiedersehen – genau wie deine kleine Schwester.“

Milly wurde von Panik erfasst. Bis jetzt war Filomena nicht mehr auf ihren Vorschlag zurückgekommen, Millys „kleine Schwester“ einzuladen, in der Villa Urlaub zu machen. Wollte die ältere Dame den vermeintlichen Freund etwa auch einladen?

Vor Entsetzen war Milly sekundenlang sprachlos. Dann nahm sie sich zusammen, zog an dem schrecklichen Ledertop und entgegnete wahrheitsgemäß: „Ich habe keinen Freund.“

Sie hatte Bruce nach der Rückkehr von der Insel einmal angerufen, als Cesare nach Florenz gefahren war, und ihm alles erklärt. Zu ihrer Überraschung hatte Bruce ganz anders reagiert, als sie erwartet hatte. Er hatte sie als rücksichtslos bezeichnet und ihr unterstellt, sie sei flatterhaft. „Meine Mutter und ich haben dich für zuverlässig und vernünftig gehalten, ich bin von dir enttäuscht“, hatte er gesagt.

Schließlich hatte sie das Gespräch einfach beendet und war froh darüber gewesen, nie mehr als nur einen Freund in ihm gesehen zu haben.

„Es fällt mir schwer, das zu glauben“, antwortete Filomena lächelnd.

Unbehaglich rutschte Milly in dem Sessel hin und her. Der Lederrock klebte ihr an den Oberschenkeln, und sie wünschte, sie könnte diese lächerlichen Schuhe abstreifen, denn ihre Füße schmerzten viel zu sehr. Dass sich Jilly in solchen Outfits wohlfühlte, war eigentlich unvorstellbar.

Glücklicherweise kam in dem Moment Cesare herein, sodass das Thema vorerst beendet war. Milly hatte nicht gewusst, dass er schon wieder da war. Während sie seine breiten Schultern, den muskulösen Rücken und seine langen Beine betrachtete, empfand sie auf einmal heftiges Verlangen. Das ist ja der reinste Horror, wieso reagiere ich so heftig auf diesen Mann? schoss es ihr durch den Kopf. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging Cesare auf seine Großmutter zu, nahm ihre Hände und führte sie an die Lippen.

Milly wollte sich diskret zurückziehen und stand auf.

„Bleib bitte hier“, forderte Cesare sie jedoch auf und drehte sich zu ihr um. „Ich muss mit euch beiden reden.“ An seine Großmutter gewandt fuhr er fort: „Wenn du eine Zeit lang auf Jilly verzichten kannst, würde ich sie gern mit nach Florenz nehmen. Ich muss unbedingt ins Büro fahren. Sie kann sich die Geschäfte ansehen, etwas kaufen, wenn sie möchte. Anschließend gehen wir zusammen essen.“

Milly war wie vom Donner gerührt. Was hatte er vor? In ihrer Rolle als Jilly müsste sie sich darüber freuen, Zeit mit dem ehemaligen Geliebten verbringen zu können, und wieder einmal hoffen, er würde seine Meinung doch noch ändern und sie vielleicht heiraten.

Da sie aber nicht Jilly war und ihre Rolle sowieso nur mehr schlecht als recht spielte, musste sie irgendwie aus der Sache herauskommen. Außerdem sehnte sie sich viel zu sehr nach diesem Mann, was ausgesprochen gefährlich für sie war.

Sie blickte Filomena Hilfe suchend an. Doch zu Millys Enttäuschung war die ältere Dame sogleich einverstanden. „Das ist eine gute Idee. Wegen meines dummen Unfalls musstet ihr den Aufenthalt auf der Insel abbrechen, und Jilly hat sich liebevoll um mich gekümmert. Sie hat nie die Geduld verloren und war immer freundlich und nett. Eine eigene Tochter hätte es nicht besser machen können. Ja, sie hat es verdient, verwöhnt zu werden“, antwortete sie.

So viel Lob und Anerkennung habe ich nicht verdient, sagte sich Milly. Die Täuschung belastete ihr Gewissen immer mehr. Mit welcher Begründung konnte sie die Einladung ablehnen? Sie konnte Kopfschmerzen oder dergleichen vortäuschen, doch sie war eine schlechte Schauspielerin, man würde es ihr nicht abnehmen. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als einzuwilligen. „Okay, ich ziehe mich rasch um“, erklärte sie leise.

„Das ist nicht nötig.“ Cesare war sogleich neben ihr und packte sie am Arm. Zum ersten Mal seit jenem Morgen am Strand berührte er sie wieder. Mit allen Sinnen reagierte sie auf die Berührung, sie erbebte und bekam eine Gänsehaut. Was soll ich nur machen, wie komme ich jemals wieder aus der Sache heraus? überlegte sie hilflos.

„Du kannst dich nachher umziehen“, meinte er sanft. „Stefano wartet schon. Er wird uns fahren.“