9. KAPITEL

Dank der Klimaanlage war es angenehm kühl in dem Wagen, und Milly fühlte sich während der Fahrt nicht mehr ganz so unbehaglich wie zuvor. Sobald ich mit Cesare unter vier Augen reden kann, werde ich ihm endlich die Wahrheit sagen, nahm sie sich fest vor. Alles Weitere würde sich ergeben.

Sie biss die Zähne zusammen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und ihr verkrampfte sich der Magen bei der Vorstellung, wie sehr er sie hassen und verachten würde. Warum nahm er sie überhaupt mit nach Florenz? Und was hatte er damit gemeint, sie könne sich nachher umziehen? Das Ganze kam ihr rätselhaft vor, und sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Schweigend, in Gedanken versunken und mit undefinierbarer Miene saß er neben ihr.

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, was das alles zu bedeuten habe. Aber sie wusste genau, er würde sie, solange sie nicht allein waren, mit einer lapidaren Antwort abspeisen.

Als sie schließlich vor dem Palazzo Saracino, dem Hotel, das zu seinem Firmenimperium gehörte, anhielten, betrachtete Milly beeindruckt das wunderbare Renaissance-Gebäude. Filomena hatte einmal beiläufig erwähnt, dass sich das Hotel schon seit Jahrzehnten im Besitz der Familie befand.

Beim besten Willen konnte Milly sich nicht vorstellen, was es bedeutete, zu so einer alten und ungemein reichen Familie zu gehören. Sie saß reglos da, während Cesare seinem Chauffeur Anweisungen auf Italienisch erteilte. Dann schwang er die langen Beine aus dem Wagen, und sie dachte, er hätte Stefano gebeten, sie irgendwo anders abzusetzen und später wieder abzuholen.

Doch in dem Moment wurde die Tür neben ihr geöffnet, und Milly blickte in Cesares markantes Gesicht. „Wir halten den Verkehr auf, steig aus“, forderte er sie ungeduldig auf.

„Entschuldige, ich war der Meinung …“

„Egal, steig endlich aus.“

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die Autos hinter ihnen hupten, und sie stieg schnell aus. Dabei rutschte der Minirock bis zu ihrem weißen Slip hoch. Vor Verlegenheit errötete sie tief. Ohne eine Miene zu verziehen, legte er ihr die Hand unter den Ellbogen und führte sie an dem Portier vorbei, der ihn respektvoll grüßte und ihnen die Tür aufhielt, in das Hotel.

Von allen Seiten wurde er freundlich und ehrerbietig gegrüßt, während sie die riesige Empfangshalle durchquerten. Milly war sich der neugierigen Blicke der Leute allzu sehr bewusst.

Wahrscheinlich dachten seine Mitarbeiter, er hätte sie auf der Straße aufgelesen. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht und brachte leise hervor: „In diesem Outfit passe ich nicht in die luxuriöse Umgebung, ich bin hier fehl am Platz. Wenn du beabsichtigst, hier zu essen, musst du es ohne mich tun.“

Cesare dirigierte sie jedoch schweigend in den privaten Aufzug. Dann lehnte er sich an die Wand und sah Milly an. Ihr silberblondes Haar war zerzaust, und in den Schuhen mit den lächerlich hohen Absätzen konnte sie kaum noch laufen. Ihr Unbehagen war so offensichtlich, dass ihm ein Stich durchs Herz ging. Er wunderte sich über die Schuldgefühle, die ihn plötzlich überkamen. Tat er das Richtige?

Wenn er ihr sagte, dass er wisse, wer sie sei, würde er sie in Verlegenheit bringen. Und das wollte er nicht. Er wollte sie nicht verletzen und nicht verwirren. Aber weshalb hatte er auf einmal das dringende Bedürfnis, sie zu beschützen? Am Ende werde ich noch so etwas wie ein Softi, dachte er leicht belustigt und wechselte die Stellung.

Es muss sein, sagte er sich dann energisch, als die Tür beinah geräuschlos aufglitt und sie das Wohnzimmer der eleganten Suite betraten, die ausschließlich für ihn reserviert war.

Die Absätze von Millys Schuhen sanken tief in den grünen Teppich, der den Boden des großen Raumes bedeckte. Einige Sessel standen um einen niedrigen Marmortisch herum, und der Raum war insgesamt geschmackvoll mit antiken Möbeln eingerichtet.

„Diese Suite wird nur von mir benutzt“, stellte er kühl fest. Er musste sich sehr beherrschen, Milly nicht in die Arme zu nehmen und zu küssen. Zu gern hätte er gewusst, ob sie wieder so leidenschaftlich reagierte wie an jenem unvergesslichen Morgen am Strand. „Zuweilen stelle ich sie guten Geschäftsfreunden und wichtigen Kunden zur Verfügung.“

Hatte er Jilly auch mit hierher gebracht? Hatte er die Affäre vor seiner Großmutter und dem Personal in der Villa geheim halten wollen? Aber in dem Moment fiel Milly ein, wie dumm diese Gedanken waren, denn er hielt sie ja für Jilly. Offenbar war ihre Schwester noch nie hier gewesen, sonst hätte er ihr jetzt nichts erklärt.

Dieses lächerliche und unwürdige Spiel musste beendet werden. Milly nahm ihren ganzen Mut zusammen, blickte Cesare an und wollte es hinter sich bringen. Dazu kam sie jedoch nicht.

„Ich habe etwas für dich.“ Beinah liebevoll sah er sie an und führte sie ins Schlafzimmer. Sein verführerisches Lächeln ließ sie vergessen, was sie hatte sagen wollen. „Das ist für dich.“ Er wies auf die vielen Geschenkkartons, die auf dem breiten Bett lagen. „Als Ersatz für die Sachen, die du mir zuliebe auf der Insel zurückgelassen hast, weil ich es so eilig hatte, nach Hause zu meiner Großmutter zurückzufliegen. Hoffentlich gefallen sie dir. Ich habe dich der Direktrice in der Boutique genau beschrieben und versucht rüberzubringen, was zu dir passt und was nicht.“

Milly wurde zornig. Glaubte er etwa, er müsse sie neu einkleiden, nur weil sie beinahe mit ihm geschlafen hätte? Sie konnte sich gut vorstellen, was er gekauft hatte: verführerische Dessous, Miniröcke, durchsichtige Tops und andere Outfits, die seine Fantasie anregten.

Er legte ihr die Hand auf den Rücken und wollte sie zum Bett schieben. Aber Milly blieb stehen. „Das kann ich nicht annehmen“, entgegnete sie. Weil sie nicht undankbar erscheinen wollte und er ihr oder eigentlich Jilly offenbar einen Gefallen hatte tun wollen, fügte sie hinzu: „Es ist nett von dir, doch ich kann es wirklich nicht annehmen.“ Dann atmete sie tief durch und stieß unvermittelt hervor: „Ich bin nicht Jilly, sondern ihre Zwillingsschwester. Es tut mir leid, dass ich dich getäuscht habe, ich hatte jedoch gute Gründe dafür.“ So, endlich hatte sie es geschafft.

Cesare war so erleichtert, dass er zunächst kein Wort herausbrachte. Vieles hatte darauf hingedeutet, dass Milly die Situation, in die sie sich gebracht hatte, immer unerträglicher fand. Vielleicht hatte ihre Schwester sie ja wirklich zu diesem Rollentausch gezwungen. Jedenfalls hatte sie endlich den Mut gehabt, ihm die Wahrheit zu sagen, was er bewundernswert fand. Oder empfand er für sie mehr als nur Bewunderung? Rasch verdrängte er den Gedanken.

Milly war sehr blass. Sie hatte den Kopf gesenkt und wirkte so angespannt, als erwartete sie einen Zornesausbruch. Dann musste er sie schnell eines Besseren belehren. Sanft legte er ihr den Finger unters Kinn und zwang sie, ihn anzublicken.

Sie errötete, und ihr wurde ganz schwindlig.

„Das weiß ich, Milly“, erwiderte er nachsichtig. „Als wir in der Villa eintrafen, nachdem ich dich in England gezwungen hatte, mich zu begleiten, hatte ich erste Zweifel. Und an dem Morgen, als wir auf die Insel flogen, erhielt ich einen Anruf, der meinen Verdacht bestätigte. Du bist Jilly Lees Zwillingsschwester Milly.“

„Oh!“ Ihr Herz fing an zu rasen, und sie bekam weiche Knie. „Warum hast du nie …?“

„Du meinst, warum ich nichts gesagt habe?“ Er legte ihr den Arm um die Taille und führte sie zum Sofa. Sie ließ sich darauf sinken, und man sah ihr an, dass sie am liebsten im Erdboden versunken wäre. „Mehrere Male hatte ich mir vorgenommen, dich mit der Wahrheit zu konfrontieren, aber immer passierte irgendetwas, was mich davon abhielt.“ Er setzte sich neben sie und fuhr lächelnd fort: „Im Nachhinein bin ich froh darüber. Wenn ich dir gesagt hätte, was ich wusste, hätte ich nie herausgefunden, dass du ganz anders bist als deine Schwester.“

„Das verstehe ich nicht“, erwiderte sie. Cesare saß so dicht neben ihr, dass sie den herben Duft seines Aftershaves wahrnahm. Es machte sie ganz nervös. Von seiner Nähe fühlte sie sich wie betäubt.

Als sie leise aufstöhnte, erhob er sich und verließ den Raum. Milly wusste nicht, ob sie froh sein sollte, dass der befürchtete Zornesausbruch ausgeblieben war, oder ob sie sich gedemütigt fühlen sollte, weil er die ganze Zeit gewusst hatte, wer sie war. Insgeheim hatte er sich wahrscheinlich totgelacht über ihre sinnlosen Versuche, Jilly zu imitieren.

Wenige Sekunden später kam er zurück und reichte ihr ein Glas, ehe er sich wieder neben sie setzte. „Trink den Brandy, den brauchst du jetzt. Du stehst unter Schock, glaube ich.“

Er hört sich so verdammt selbstgefällig an, dachte Milly. Sie stürzte die Flüssigkeit hinunter, die ihr wie Feuer in der Kehle brannte, und brachte ärgerlich hervor: „Du hast es die ganze Zeit gewusst, insgeheim über mich gelacht und mir dabei zugeschaut, wie ich mich lächerlich gemacht habe. Ich hasse dich!“

„Nein, das tust du nicht“, entgegnete er so ruhig, dass sie sich noch mehr ärgerte, und nahm ihr das leere Glas aus der Hand. „Heiterkeit hast du ganz bestimmt nicht in mir ausgelöst, dafür aber einige andere Gefühle. Zugegeben, zuerst war ich schrecklich wütend, als mein Verdacht bestätigt wurde. Doch dann interessierte mich, warum du in die Rolle deiner Zwillingsschwester geschlüpft bist, obwohl ihr so verschieden seid.“

„Wir sind nicht wirklich verschieden“, widersprach sie. Der Alkohol fing an zu wirken und machte sie leichtsinnig. „Nur unsere Frisuren sind verschieden, das ist alles. Jilly würde das lange Haar nie abschneiden lassen, aber das konntest du nicht wissen.“

„Äußerlich seid ihr euch zum Verwechseln ähnlich, das stimmt. Das Äußere ist jedoch nicht wichtig, es kommt nur auf die geistig-seelischen Eigenschaften an. Und in der Hinsicht bist du völlig anders als deine Schwester.“ Er umfasste ihr erhitztes Gesicht mit beiden Händen. „Jilly ist hart und egoistisch. Sie manipuliert die Menschen und bietet ihren Charme auf, wenn er für sie nützlich ist. Um zu bekommen, was sie haben will, kokettiert sie mit ihren weiblichen Reizen. Und das finde ich abstoßend.“

Mit den Daumen streichelte er Millys Wangen. Ihr stockte der Atem, und als er fortfuhr, vergaß sie alles, was sie zur Verteidigung ihrer Schwester hatte vorbringen wollen. „Du bist wunderschön, sanft, herzlich und liebevoll. Außerdem zögerst du nicht, deine Meinung zu sagen, wenn du glaubst, jemandem sei Unrecht geschehen – so wie du mir völlig zu Recht Vorhaltungen gemacht hast, als ich meiner Großmutter gegenüber zu hart war. Das finde ich bewundernswert. Da seid ihr völlig verschieden, du und deine Schwester.“

Es war herrlich, seine Hände zu spüren. Hitze durchflutete sie, und ihre Brustspitzen richteten sich auf. Milly hätte ihn am liebsten umarmt, sich an ihn geschmiegt und ihn geküsst. Sie durfte jedoch nicht vergessen, dass er nur nett zu ihr war, weil sie soeben hatte erfahren müssen, wie lächerlich sie sich gemacht hatte. Wenn sie ihm jetzt zeigte, wie sehr sie ihn begehrte, würde sie sich nur noch lächerlicher machen.

Schließlich zog er die Hände zurück und stand auf. „Es muss sehr schwierig für dich gewesen sein. Komm.“ Er nahm ihre Hand und zog Milly hoch. „Du kannst duschen, dann ziehst du dir etwas anderes an, was besser zu dir passt, und wir gehen essen. Dabei kannst du mir erzählen, warum du dich als deine Schwester ausgegeben hast.“

Es gefiel ihr, wie er ihre Hand in seine nahm. Obwohl sie sich über ihre Schwäche ärgerte, ließ sie sich von Cesare zum Bett führen. „Such dir etwas aus“, schlug er vor. „Du hast dich sehr unbehaglich in den Sachen deiner Schwester gefühlt, das war nicht zu übersehen.“

Dazu gab es nichts zu sagen, denn es stimmte. Millys Hände zitterten leicht, als sie einen Karton nach dem anderen öffnete. Zu ihrem Erstaunen hatte er ihren Geschmack genau getroffen. Sie breitete die sportlichen und eleganten Outfits auf dem Bett aus und erklärte mit Bedauern: „Ich kann das alles wirklich nicht annehmen.“

„Doch, das kannst du“, widersprach er. „Betrachte es als Bezahlung für das, was du für meine Großmutter getan hast. Vergiss nicht, du hast kein Gehalt bekommen.“

„Du hast von Anfang an keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass ich keine Bezahlung zu erwarten habe“, erinnerte sie ihn. Er hielt sie für sanft und liebevoll, obwohl sie sich selbst nie so beschrieben hätte, doch sie nahm keine Wohltaten an.

Auch darauf wusste er eine Antwort, die sich kaum widerlegen ließ. „Das habe ich gesagt, als ich der Meinung war, du seist Jilly. Aber das bist du ja nicht. Du hast dich rührend um meine Großmutter gekümmert. Du hast ihr vorgelesen, dich mit ihr unterhalten, ihr Blumen gebracht und sie von ihren Schmerzen abgelenkt. Ich kann es nicht zulassen, dass jemand umsonst für ein Mitglied meiner Familie arbeitet. Deshalb kannst du bedenkenlos alles annehmen, was hier liegt. Zieh dich bitte jetzt um.“

Cesare drehte sich um. Er war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren, ihr den lächerlich kurzen Rock und das enge Top abzustreifen und sich mit ihr unter die Dusche zu stellen. Was war eigentlich mit ihm los? Er verstand sich selbst nicht mehr.

Milly gab es auf, herausfinden zu wollen, was für ein Mensch er war. Im Grunde seines Herzens war er bestimmt ein guter Mensch. Er behandelte seine Mitarbeiter gut, war immer höflich und rücksichtsvoll, und er liebte seine Großmutter sehr. Da er gewusst hatte, dass sie nicht Jilly war, war er auch zu ihr freundlich gewesen und hatte sogar darauf verzichtet, ihr wegen der Täuschung Vorwürfe zu machen.

Der Mann war ihr ein Rätsel. Ich brauche mir gar nicht den Kopf zu zerbrechen, ich finde sowieso keine Erklärungen, sagte sie sich, als sie aus der Duschkabine herauskam. Noch nie zuvor hatte sie das Duschen so sehr genossen wie dieses Mal.

Während sie sich in das große weiche Badetuch hüllte, fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie war wie vom Donner gerührt und rang nach Atem. Als er mit ihr hatte schlafen wollen, hatte er genau gewusst, wer sie war. Er hatte sie nicht für seine Exgeliebte gehalten. Und das bedeutete, er begehrte sie und nicht ihre Schwester.

Sie bekam Herzklopfen und betrachtete sich mit weit geöffneten Augen im Spiegel. Ihre Lippen waren leicht geschwollen. Sie wirkten weich und verführerisch. Insgeheim stöhnte Milly auf und wandte sich ab. Dann fing sie an, das Haar trocken zu reiben. Nein, ich lasse mich auf nichts ein, es hat keinen Sinn, ich bin am Ende die Dumme, überlegte sie.

Schließlich benutzte sie die dezent duftende Bodylotion, die sie im Badezimmer vorgefunden hatte, und genoss es, sich wieder frisch und sauber zu fühlen. Nachdem sie sich die hübschen Dessous angezogen hatte, an die Cesare auch gedacht hatte, schlüpfte sie in eines der wunderschönen Kleider, ein traumhaft elegantes Seidenkleid, das wunderbar zu ihr passte. Darin wirkte sie kühl und zurückhaltend und wesentlich feiner als in Jillys auffallenden Outfits.

Mit der Bürste, die auf der Ablage unter dem Spiegel lag, bürstete sie sich das Haar. Dann atmete sie tief durch, zog farblich auf das Kleid abgestimmte Schuhe an und ging zur Tür. Jetzt musste sie Cesare noch davon überzeugen, dass Jilly keine Diebin oder Betrügerin war und ihn bitten, alles daranzusetzen, um sie zu finden. Milly machte sich immer größere Sorgen um ihre Schwester.

Als sie die Tür öffnete, musterte Cesare sie aufmerksam von oben bis unten. Er hatte das Jackett abgelegt und die Krawatte gelockert. Milly spürte sogleich, wie angespannt er war, was sie sich jedoch nicht erklären konnte.

Doch dann verzog er die Lippen langsam zu einem ungemein verführerischen Lächeln. „Komm her“, bat er Milly rau.