1. KAPITEL

Cesare Saracino forderte den Taxifahrer auf, zu warten. Dann schwang er die langen Beine aus dem Wagen und ging über das nasse Pflaster auf die kleine altmodische Metzgerei am Ende der fast menschenleeren schmalen Straße zu. Seine Miene drückte Entschlossenheit aus.

Die Adresse von Jilly Lees Mutter herauszufinden war überhaupt kein Problem gewesen. Der Privatdetektiv hatte sie ihm bereits einen Tag nach Aufnahme seiner Recherchen übermittelt. Doch Cesare konnte sich nicht vorstellen, dass Jilly Lee hierher zurückkehren würde, nicht in dieses Apartment über der Kleinstadtmetzgerei in der Nähe von Wales, wo überhaupt nichts los war. Sie, die Glanz und Pracht und die Gesellschaft großzügiger Männer brauchte, die sie bewunderten.

Jilly Lee war bestimmt nicht hier. Aber ihre Mutter wusste vermutlich, wo sie sich aufhielt, seit sie heimlich aus der Villa verschwunden war. Dafür würde sie büßen. Er würde sie finden und zwingen, in die Toskana zurückzukehren, und Wiedergutmachung verlangen. Außerdem würde er sie zwingen, sich auf den Job zu konzentrieren, statt auf Betrügereien und die Suche nach einem reichen Mann.

Er verzog verbittert die Lippen. Es war zu befürchten, dass Jilly Lee sowieso eines Tages in der Villa nicht mehr gebraucht wurde. Seine Großmutter wurde zusehends schwächer, obwohl sie sich, wie er sich widerwillig eingestand, seit der Ankunft der jungen Frau sichtlich erholt und wieder Freude am Leben gewonnen hatte.

„Es sind keine ernsthaften Erkrankungen festzustellen“, hatte der Spezialist, den Cesare auf Wunsch des Hausarztes hinzugezogen hatte, vor drei Monaten erklärt. „Aber Ihre Großmutter ist über achtzig und verwitwet. Wie lange lebt sie schon allein?“

„Seit dreißig Jahren.“

„Wahrscheinlich sind die meisten ihrer Freundinnen und Bekannten schon gestorben. Sie wird immer gebrechlicher, weil sie nichts mehr hat, worauf sie sich freuen kann.“

Cesare war der Meinung gewesen, dass seine Großmutter sich nicht gehen lassen dürfe und mehr Abwechslung brauche. Deshalb hatte er vorgeschlagen, eine Gesellschafterin einzustellen.

„Denkst du dabei an eine ältere Frau, die mir vorliest, während ich sticke? Und die sich über die Jugend von heute beklagt, mir etwas vorjammert und mich langweilt mit Geschichten aus ihrer eigenen Vergangenheit?“, hatte sie ihn gefragt und dabei seine Hand gestreichelt und ihn liebevoll angelächelt. „Nein, das ist nichts für mich.“

„Es muss aber jemand im Haus sein, der dir Gesellschaft leistet. Du sollst nicht mehr so oft allein sein.“

„Allein bin ich doch gar nicht bei dem vielen Personal. Maria kann mir Gesellschaft leisten.“

„Unsere Haushälterin hat genug Arbeit und bestimmt keine Zeit, mit dir im Garten zu sitzen, spazieren zu gehen und dergleichen.“

Seine Großmutter sah ihn spöttisch an. „Unsere Gärtner sind doch ständig im Garten. Sie können mir helfen, wenn ich wirklich einmal hinfallen sollte – falls du dir deswegen Sorgen machst.“

Er nahm ihre Hände. „Ich versuche, mehr Zeit hier in der Villa zu verbringen, aber ich muss sehr oft geschäftlich verreisen, wie du weißt. Natürlich mache ich mir Sorgen um dich. Du hast mich als Zwölfjährigen aufgenommen und mich großgezogen, was sicher nicht leicht für dich war, denn ich war in den ersten Jahren recht schwierig. Jetzt kann ich für dich sorgen. Eine Gesellschafterin muss doch nicht unbedingt in deinem Alter sein.“

Den Text für die Anzeige hatte er daraufhin selbst aufgesetzt und ein außergewöhnlich hohes Gehalt in Aussicht gestellt. Bei den Vorstellungsgesprächen war er dabei gewesen, und ihm war sogleich aufgefallen, dass seine Großmutter, als Jilly Lee hereingekommen war, zum ersten Mal Interesse gezeigt hatte.

Die junge Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte er sie in dem Nachtclub in Florenz gesehen, in dem er mit einem amerikanischen Kunden gewesen war. Der Mann hatte sich an dem Abend unbedingt amüsieren wollen. Ob die Frau, an die er sich zu erinnern glaubte, wirklich Jilly Lee war, konnte Cesare jedoch nicht sagen. Die jungen Frauen in den Nachtclubs, die auf der Suche nach einem Mann waren, sahen alle ziemlich gleich aus. Sie hatten langes blondes Haar, rot geschminkte Lippen und trugen kurze, knappe Outfits, um ihre Silikonbrüste und die endlos langen Beine zu zeigen. Mit seinen vierunddreißig Jahren hatte er mehr als genug solcher jungen Damen kennengelernt. Er kannte sich mit ihnen aus. Das hatte dazu geführt, dass er in gewisser Weise ziemlich zynisch geworden war, wie seine Großmutter ihm manchmal vorhielt, ohne ihn zu kritisieren.

Ms Lee hatte langes blondes Haar, doch sie trug es mit einem schwarzen Samtband im Nacken zusammengebunden, und ihr blaues Kleid war keineswegs zu kurz, obwohl es ihre üppigen Rundungen nicht verbarg.

Wie schon bei den drei anderen Bewerberinnen, die sich vorgestellt hatten, überließ er es seiner Großmutter, die Fragen zu stellen. Er mischte sich nur ein, wenn Klärungsbedarf bestand.

Auf den ersten Blick schien Jilly Lee die ideale Besetzung zu sein. Sie war fünfundzwanzig, wirkte keineswegs langweilig und war somit für seine Großmutter durchaus akzeptabel. Sie war Engländerin, sprach jedoch recht gut Italienisch, und sie hatte ausgezeichnete Referenzen von einem Londoner Kosmetiksalon. Eine Zeit lang war sie durch Italien gereist, hatte die Sprache gelernt, mal hier, mal da gearbeitet, um ihre Ersparnisse aufzustocken, und hatte sich nie lange an einem Platz aufgehalten. Jetzt wollte sie sich dauerhaft in diesem schönen Land niederlassen, wie sie erzählte.

Nur selten blickte sie Cesare an, während sie charmant und locker plauderte. Seine Großmutter war von ihr sehr eingenommen und bat schließlich die junge Frau, sie und Cesare kurz allein zu lassen. Dann erklärte sie so aufgeregt und lebhaft wie schon lange nicht mehr: „Sie gefällt mir, sie ist jung, temperamentvoll und sehr schön. So jemanden brauche ich um mich. Schade, dass du dich beharrlich weigerst, zu heiraten und eine junge Frau ins Haus zu bringen, die mich aufheitert und durch die ich wieder Freude am Leben bekomme. Als Engländerin kann Ms Lee mir helfen, meine Kenntnisse in dieser Sprache aufzufrischen. Früher habe ich genauso gut Englisch gesprochen wie du, aber ich bin ganz aus der Übung. Sollen wir uns für sie entscheiden? Was meinst du?“

Er zögerte einen Augenblick. Auf den ersten Blick schien sie in Ordnung zu sein, doch er hatte ein ungutes Gefühl, irgendetwas störte ihn. Leicht ungeduldig zuckte er die Schultern und behielt seine Bedenken für sich. Seine Großmutter musste mit der jungen Frau zurechtkommen, nicht er. Zum ersten Mal seit vielen Monaten wirkte sie wieder fröhlich und interessiert. Offenbar hatte sie den Lebenswillen noch nicht ganz verloren und würde sich nicht selbst aufgeben.

„Wenn du glaubst, sie sei die richtige Gesellschafterin für dich, dann soll es mir recht sein.“

Für seine Großmutter tat er alles, denn er hatte ihr viel zu verdanken. Sie war der erste Mensch gewesen, der ihm echte Zuneigung entgegengebracht hatte. Seine Eltern hatten sich nicht gut verstanden, sie hatten aus Vernunftgründen geheiratet. Sein Vater war ein Workaholic und nur selten zu Hause gewesen. Um sich für die mangelnde Aufmerksamkeit und Zuneigung zu entschädigen, war seine Mutter mit dem vielen Geld allzu verschwenderisch umgegangen und hatte wechselnde Liebschaften gehabt.

Cesare nahm an, dass sie den Schein hatten wahren wollen und sich deshalb nicht scheiden ließen. In den Kreisen, in denen sie sich bewegten, war sowieso alles nur leerer und schöner Schein. Bei einer der seltenen gemeinsamen Reisen waren sie schließlich beim Absturz ihres Privatjets ums Leben gekommen. Als einziges Kind erbte Cesare das riesige Vermögen, ein Firmenimperium, das sich unter anderem aus verschiedenen petrochemischen Unternehmen und Luxushotels zusammensetzte und dem Handel mit Kunstgegenständen und Edelsteinen gewidmet war.

Seine Großmutter hatte ihm in jeder Hinsicht geholfen und ihn schon während der Schulzeit und später während des Studiums auf die vor ihm liegende verantwortungsvolle Aufgabe vorbereiten lassen. Bis zu seiner Volljährigkeit wurde das Firmenimperium von den Managern geleitet, die sein Vater noch eingesetzt hatte und die seiner Großmutter regelmäßig Bericht erstatten mussten.

Aus all diesen Gründen und weil er sie sehr gern hatte, konnte er ihr keinen Wunsch abschlagen. Doch er hatte vorsichtshalber hinzugefügt: „Ich möchte mich persönlich davon überzeugen, dass mit ihr alles in Ordnung ist, und werde deshalb in den ersten Wochen ihrer Tätigkeit häufiger zu Hause sein und versuchen, meine Termine auf später zu verschieben.“

Zorn überkam ihn jetzt, als er den Durchgang neben dem Laden betrat. Jilly Lee hatte seine Großmutter dazu gebracht, ihr uneingeschränkt zu vertrauen und sich auf sie zu verlassen. Doch als Cesare der jungen Frau hatte klarmachen müssen, dass er nicht mit ihr schlafen wollte und im Traum nicht daran dachte, sie zu heiraten, hatte sie sich aus dem Staub gemacht. Und dann musste er auch noch feststellen, dass sie seiner Großmutter ziemlich viel Geld gestohlen hatte.

Aber er würde dafür sorgen, dass sie alles zurückzahlte. Mit grimmiger Miene drückte er auf die Klingel.

Milly Lee knipste die Deckenlampe an und zog die Vorhänge zu. An diesem Apriltag hatte es von morgens bis abends geregnet, was ziemlich deprimierend war. Genauso deprimierend war die kleine Wohnung, in der Milly nicht länger als unbedingt nötig bleiben wollte. Nach dem Tod ihrer Mutter hätte sie sich gern sogleich eine erschwinglichere Unterkunft gesucht, aber dann hätte ihre Zwillingsschwester Jilly nicht gewusst, wie und wo sie sie erreichen konnte. Nachdem Jilly den Job in Florenz aufgegeben hatte, hatte Milly nichts mehr von ihr gehört.

Das war typisch für Jilly. Sie war gedankenlos. Doch früher oder später würde sie sich melden. Irgendwann erinnerte sie sich immer an ihre Familie. Leider wusste Jilly noch nicht, dass ihre Mutter gestorben war. Bis ihrer Zwillingsschwester einfiel, sich zu Hause zu melden, musste Milly wohl oder übel das Apartment behalten.

Während sie sich eine Strähne des blonden Haares aus der Stirn strich, schlug sie die Abendzeitung auf, die sie sich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit gekauft hatte. Optimistisch fing sie an, die Stellenangebote durchzulesen. Sie brauchte einen neuen Job, denn an diesem Morgen hatte ihre Chefin Manda verkündet, dass sie den Blumenladen verkaufen würde. Sie und ihr Mann wollten endlich Nachwuchs haben, und da sie schon sechsunddreißig war, wurde es langsam Zeit.

„Du fängst am besten gleich an, dir eine andere Stelle zu suchen“, hatte Manda ihr geraten. „Falls du irgendwo sofort anfangen kannst, brauchst du keine Kündigungsfrist einzuhalten. Die kurze Zeit komme ich auch allein zurecht.“

Als es an der Haustür läutete, hob sich Millys Stimmung. Ihre beste Freundin Cleo hatte versprochen, heute Abend vorbeizukommen und eine Flasche Wein mitzubringen. Sie wollten über Cleos Hochzeit sprechen, auf der Milly Brautjungfer spielen sollte.

Milly lief die Treppe hinunter, froh darüber, dass ihre Freundin zwei Stunden früher als geplant hatte kommen können, und öffnete die Tür. Zu ihrer Überraschung stand ein ungemein attraktiver Fremder vor ihr.

Ein seltsames Gefühl drohenden Unheils beschlich sie, das sich noch verstärkte, als es in den dunklen Augen des Mannes triumphierend aufleuchtete. Auch sein Lächeln wirkte eher triumphierend als freundlich.

„Durch die Verkleidung lasse ich mich nicht täuschen, Jilly, aber ob Sie es glauben oder nicht, das schlichte Outfit, die dezentere Aufmachung und die neue Frisur stehen Ihnen gut“, sagte er mit tiefer Stimme.

Es überlief Milly kalt. Der Fremde hielt sie offenbar für ihre glamouröse Zwillingsschwester. Jilly würde jedoch niemals in Jeans und einem einfachen Wollpullover herumlaufen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, deren Haar beinah bis zur Taille reichte, trug Milly das silberblonde Haar schulterlang. Sie schüttelte den Kopf und wollte dem Mann erklären, dass es sich um einen Irrtum handelte. Doch dazu kam sie nicht, denn er ging an ihr vorbei in den Flur und fuhr fort: „Sie hätten wissen müssen, dass Sie sich vor mir nicht verstecken können. Niemand wagt es ungestraft, mich und meine Angehörigen zu betrügen. Sie werden dafür büßen.“

Oh nein, was hatte Jilly jetzt schon wieder angestellt? Der Fremde blieb an der Treppe stehen und drehte sich zu Milly um. Er trug einen eleganten Anzug, hatte breite Schultern und lange Beine und wirkte so Furcht einflößend, dass es Milly die Sprache verschlug. Das dunkle Haar, in dem Regentropfen glitzerten, war perfekt geschnitten, und er hatte regelmäßige Gesichtszüge. Wenn seine Lippen nicht so sinnlich gewirkt hätten, hätte man ihn als kühl bezeichnen können. Mit den dunkelbraunen Augen sah er Milly durchdringend an.

„Meine Großmutter vermisst Sie schon, und ich werde verhindern, dass sie sich Ihretwegen aufregt. Ich habe behauptet, Sie hätten wegen einer dringenden Familienangelegenheit nach England zurückkehren müssen. Sie werden dasselbe sagen.“ Er verzog angewidert die Lippen. „Wenn es nach mir ginge, würden Sie die Villa nicht mehr betreten. Aber meiner Großmutter zuliebe bestehe ich darauf, dass Sie morgen mit mir in die Toskana zurückfliegen und weiterhin ihre Gesellschafterin spielen, jedoch mit einer Einschränkung: Sie werden nicht mehr mit ihr nach Florenz zum Einkaufen fahren und sich nichts mehr von ihr bezahlen lassen. Ist das klar?“

Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er ihr blasses Gesicht und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Als Alternative kann ich Ihnen anbieten, Sie anzuzeigen. Da ich mich selbst um die Finanzen meiner Großmutter kümmere, ist mir Ihr Betrug aufgefallen. Haben Sie wirklich geglaubt, es würde niemand merken? Die gefälschten Unterschriften auf den Schecks, die Sie vorgelegt haben, waren gerade mal gut genug, um einem Bankangestellten, der sie nur flüchtig prüft, nicht aufzufallen, weil er wusste, dass Sie die Gesellschafterin meiner Großmutter sind. Außerdem war ihm bekannt, dass sie lieber bar statt mit der Kreditkarte bezahlt. Aber mir ist die Fälschung natürlich sofort aufgefallen.“

Milly wurde noch blasser. Vor lauter Entsetzen stand sie wie erstarrt da, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. In ihrem Kopf drehte sich alles. Während sie sich die Anschuldigungen anhörte, versuchte sie, die Zusammenhänge zu begreifen. Den Irrtum aufzuklären war wahrscheinlich keine gute Lösung, denn offenbar steckte ihre Zwillingsschwester in ernsthaften Schwierigkeiten. Da der Mann ihr mit einer Anzeige drohte und ihr Betrug und Diebstahl vorwarf, hielt Milly es für besser, ihm nicht zu verraten, dass er nicht Jilly vor sich hatte.

Ehe sie sich zu der ganzen Sache äußerte, musste sie wissen, wie sie Jilly helfen konnte. Sie wünschte, es wäre nur ein böser Traum, doch leider war es Wirklichkeit.

Schließlich ging der Fremde mit großen Schritten und geschmeidigen Bewegungen wieder zur Tür und öffnete sie. Sogleich drang die feuchte und kühle Luft herein. „Morgen früh um sechs werden Sie abgeholt. Wenn Sie wieder versuchen, zu verschwinden, werde ich Sie finden. Darauf können Sie sich verlassen.“ Sein Blick wirkte kühl und hart. „Und falls Sie sich nicht an meine Anweisungen halten, werde ich Sie anzeigen und dafür sorgen, dass Sie verurteilt werden. Natürlich möchte ich es meiner Großmutter ersparen, zu erfahren, dass die Frau, die sie eingestellt und der sie vertraut hat, nur eine schäbige kleine Betrügerin ist. Wenn Sie mich jedoch dazu zwingen, bin ich bereit, ihr die Wahrheit zu sagen.“