„Er kann dich doch nicht zwingen!“, rief Cleo empört aus. Milly wünschte sich verzweifelt, die Freundin hätte recht. Aber sie liebte ihre Zwillingsschwester und konnte es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, Jilly im Stich zu lassen. Als Cleo mit Stoffmustern, Brautmodeheften und einer Flasche Wein gekommen war, hatte Milly immer noch wie betäubt auf der Treppe in dem zugigen Flur gesessen.
Während Cleo den Wein einschenkte, hatte Milly angefangen zu erzählen. „Du bist verrückt, so zu tun, als wärst du Jilly. Ruf ihn an und sag ihm, wer du wirklich bist. Wie heißt er eigentlich, und in welchem Hotel übernachtet er?“
Milly zuckte die Schultern und drehte das Weinglas mit den Fingern hin und her. „Woher soll ich das wissen? Ich konnte ihn doch nicht nach seinem Namen fragen. Dadurch hätte ich mich verraten. Er hält mich für Jilly. Sie war offenbar die Gesellschafterin seiner Großmutter. Außerdem hatte ich keine Gelegenheit, ihn zu fragen, wo er übernachtet. Er hat mich gar nicht zu Wort kommen lassen. Und ich war auch viel zu schockiert. Wie hätte ich da noch einen einzigen klaren Gedanken fassen können? Er hat mir ununterbrochen gedroht …“
„Und genau deshalb musst du ihm die Sache erklären“, warf Cleo ein. „Du hast nichts mit ihm zu tun. Jilly muss selbst geradestehen für alles, was sie getan hat.“
Obwohl Milly sich eingestand, dass Cleo recht hatte, erwiderte sie: „Ich bin ihretwegen sehr beunruhigt. Der Mann ist offenbar sehr zornig. Wenn ich ihm die Wahrheit sage und er die Suche nach Jilly fortsetzen muss, verliert er wahrscheinlich bald die Geduld und schaltet die Polizei ein. Mit ihm ist nicht zu spaßen, befürchte ich. Ich traue ihm zu, dass er sie anzeigt.“ Ihr verkrampfte sich der Magen bei dem Gedanken. „Jilly ist sehr eigensinnig, aber sie war immer ehrlich. Sie ist keine Betrügerin. Vermutlich handelt es sich um ein Missverständnis.“
„Ist es deiner Meinung nach ein Zeichen von Ehrlichkeit, dass sie deine Mutter überredet hat, das Haus mit einer Hypothek zu belasten und das Sparkonto deines verstorbenen Vaters aufzulösen, um diesen verrückten Schönheitssalon zu eröffnen?“, entgegnete Cleo scharf. „Als sie Konkurs gemacht hat, ist sie einfach verschwunden und hat deine Mutter mit dem Schuldenberg alleingelassen, sodass sie das Haus aufgeben und in diesem schäbigen Apartment zur Miete wohnen musste.“
Das hörte sich so an, als wäre Jilly wirklich sehr egoistisch. Millys schöne grüne Augen schienen plötzlich ganz dunkel zu werden. Der Fairness halber fügte sie insgeheim hinzu, dass ihre Mutter mit Jillys Plänen einverstanden gewesen war, denn es hatte ihr die Möglichkeit eröffnet, wieder in der Nähe ihrer Lieblingstochter zu sein. Durch ihre offene, charmante Art bezauberte Jilly alle, und jeder hatte sie gern. Milly hingegen war ruhig und zurückhaltend. Sie hatte nicht so viel Mut und Temperament wie ihre Zwillingsschwester, deshalb war sie zufrieden damit gewesen, im Hintergrund zu stehen.
Als ihr Vater völlig überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war, waren sie und Jilly achtzehn gewesen. Ihre Mutter war nach seinem Tod sehr verzweifelt und erschüttert und fühlte sich hilflos. Ihr Mann Arthur hatte alle Entscheidungen allein getroffen und in der kleinen Familie ein strenges Regiment geführt. Nach seinem Tod hatte Jilly ihre Mutter dazu überredet, ihr die Ausbildung als Kosmetikerin zu bezahlen. Sie hatte von zu Hause weggehen können und beinah die ganzen Ersparnisse der Familie ausgegeben. „Ich zahle dir alles zurück, sobald ich genug Geld verdiene“, hatte Jilly versprochen.
Ihre Mutter hatte nicht Nein sagen können, denn Jilly konnte jeden um den Finger wickeln. Milly musste arbeiten gehen. Sie nahm die Stelle in dem Blumenladen an und kümmerte sich um die Finanzen der Familie. Da das große frei stehende Haus mit den sechs Zimmern in der Nähe von Ashton Lacey im Unterhalt zu teuer geworden war, sorgte Milly dafür, dass es verkauft wurde. Im selben Ort kauften sie eine Doppelhaushälfte mit vier Zimmern.
Als Jilly nach bestandener Prüfung zurückgekommen war, hatte sie fantastisch ausgesehen. Dank der Besuche im Solarium war sie leicht gebräunt. Zu den engen weißen Jeans trug sie eine grüne Seidenbluse, die die Farbe ihrer Augen betonte und sie wie funkelnde Edelsteine wirken ließ.
Zwei Tage blieb sie und ließ sich von ihrer Mutter, die fasziniert von ihrer schönen Tochter war, in jeder Hinsicht bedienen. Dann fuhr sie nach London zu einem Bewerbungsgespräch. Man hatte ihr angeblich eine gute Stelle in einem Kosmetiksalon mit angeschlossener Schönheitsfarm angeboten. Den Job hatte sie bekommen, was sowieso niemand bezweifelt hatte. Aber ihre Mutter wurde immer mürrischer und lächelte nur noch selten. Obwohl Milly sich sehr bemühte, sie aufzuheitern, konnte sie ihr die Lieblingstochter nicht ersetzen.
Eines Tages kam Jilly zurück und verkündete zum Erstaunen aller: „Ich habe den Job gekündigt und will hier in Ashton Lacey einen Schönheitssalon eröffnen. Warum soll ich irgendwo als kleine Angestellte arbeiten? Lieber bin ich selbstständig und streiche den Gewinn selbst ein.“
„Woher hast du das Geld?“, fragte Milly. „Es kostet doch sehr viel, ein Geschäft zu eröffnen.“
Jilly lächelte sie nachsichtig an. „Du warst schon immer ein Spielverderber, Schwesterherz.“ Mit zuckersüßem Lächeln wandte sie sich an ihre Mutter. „Du kennst doch das Sprichwort, ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt‘, oder, Mom? Ich sehe es auch so. Du könntest eine Hypothek auf das Haus aufnehmen und Dads Sparkonto auflösen. Zusammen machen wir dann das Geschäft auf. Jeder von uns beiden ist mit fünfzig Prozent daran beteiligt oder du mit sechzig und ich mit vierzig, wenn dir das lieber ist. Du wirst es nicht bereuen und sehen, wie gut es läuft. Nachdem ich zwei Jahre als Angestellte in dieser Branche gearbeitet habe, kenne ich mich bestens aus. Wir können reich werden dabei. Die Hypothek haben wir rasch zurückgezahlt, und das Geld wird nur so hereinströmen. Sag Ja, Mom. Gleich morgen fangen wir an, geeignete Geschäftsräume zu suchen.“
Natürlich war ihre Mutter einverstanden. Die Freude darüber, dass ihre Lieblingstochter zurückkommen würde, machte sie blind für die Risiken, die mit der Geschäftseröffnung und dem Schuldenmachen verbunden waren. Allzu gut erinnerte Milly sich daran, dass sie sich wie ein Miesmacher gefühlt hatte, als sie auf die Gefahren hingewiesen hatte.
Nach zwei Jahren hatte Jilly Konkurs anmelden müssen. Es gab in Ashton Lacey keine Kundschaft für einen Schönheitssalon. Dazu war der Ort zu klein. Und genau das hatte Milly vorhergesagt. Die wenigen Kundinnen, die gekommen waren, erschienen selten ein zweites Mal.
Das Haus war verkauft worden, um die Gläubiger zu befriedigen, und Jilly ging nach Italien, um dort ihr Glück zu machen, ohne ihrer Mutter zu helfen, eine andere Unterkunft zu finden. Milly mietete für sie beide das Apartment über der Metzgerei.
Zuerst schickte Jilly ab und zu eine Ansichtskarte. Sie fand eine Stelle in einem Nachtclub in Florenz und mietete sich eine kleine Wohnung hinter dem Palazzo Vecchio. Sie lernte interessante Leute kennen, hatte viel Spaß und konnte ihre Sprachkenntnisse verbessern, wie sie schrieb. Leider verdiente sie noch nicht genug, um zu helfen, die Schulden zurückzuzahlen. Sogar eine Telefonnummer, unter der sie fast immer nachmittags zu erreichen war, gab sie an. Ungefähr achtzehn Monate später traf die letzte Nachricht von ihr ein.
Ich glaube, ich habe es geschafft. Ich bin auf dem Weg nach oben. Wenn ich die Möglichkeiten, die sich mir bieten, nutze – was ich tun werde –, kann ich Dir bald das ganze Geld zurückzahlen, liebste Mom. Sogar mit Zinsen! Ich schreibe Dir bald ausführlicher und gebe Dir auch meine neue Adresse an.
Danach hatten sie nichts mehr von ihr gehört.
„Jilly wollte immer alles richtig machen, sie wollte unserer Mutter das Geld zurückzahlen“, verteidigte Milly ihre Schwester. „Sie hatte solche verrückten Ideen und war fest davon überzeugt, Erfolg zu haben. Wie sie aber glauben konnte, als Gesellschafterin ein kleines Vermögen zu verdienen, ist mir rätselhaft.“
„Wahrscheinlich wollte sie das Geld stehlen“, stellte Cleo spöttisch fest, und Milly hätte sie am liebsten geohrfeigt.
„Es muss sich um ein Missverständnis handeln, das weiß ich genau.“
Cleo schüttelte den Kopf. „Nach allem, was dieser Mann zu dir gesagt hat, erscheint mir das wenig plausibel. Deine Schwester ist offenbar wieder einmal weggelaufen, und ich verstehe nicht, warum du sie immer noch verteidigst.“
Sekundenlang war Milly sprachlos und blickte die Freundin zornig an. Doch dann wurde ihr bewusst, dass Cleo aufrichtig um sie besorgt war, und sie atmete tief ein. „Du kannst natürlich nicht nachvollziehen, wie nahe sich Zwillinge stehen. Als wir Kinder waren, hat sie sich sehr um mich gekümmert und mir geholfen. Unser Vater war sehr streng und … ziemlich schwierig. Wenn ich etwas falsch gemacht hatte, hat sie die Schuld auf sich genommen und die Strafe, die unser Vater ihr auferlegte, tapfer ertragen. Dafür habe ich sie sehr geliebt, und sie kann sich auf mich verlassen.“
„Es tut mir leid.“ Cleo streichelte ihr die Hand. „Ich kann den Mund nicht halten, das ist mein Problem. Es gefällt mir aber nicht, dass du mit diesem Mann, der dich oder besser gesagt die Frau, für die er dich hält, verachtet, in die Toskana fliegen willst. Was meinst du, wie reagieren er wird, wenn er herausfindet, dass du ihn zum Narren gehalten hast?“
„Das wird er nicht herausfinden“, versicherte Milly ihr im Brustton der Überzeugung. „Jilly und ich sind eineiige Zwillinge. Sie wirkt zwar glamouröser als ich, weil sie sich anders kleidet und viel Make-up benutzt. Das ist jedoch kein Problem. Sie hat genug Sachen zurückgelassen und hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich sie mir ausleihe. Wenn ich mich so zurechtmache wie sie, merkt er den Unterschied nicht. Und solange er mich für Jilly hält und ich alles tue, was er von mir verlangt, ist sie in Sicherheit. Ich gehe davon aus, dass auch eine Gesellschafterin ab und zu einen freien Tag hat. Den werde ich nutzen, sie zu suchen. Vielleicht hat sie alles hingeworfen, weil sie es leid war, nach der Pfeife einer alten Dame zu tanzen. Hinsichtlich des Geldes muss es sich um ein Missverständnis handeln. Jedenfalls hat sie bestimmt keine Ahnung, dass der Enkel der alten Dame hinter ihr her ist. Wenn ich sie finde, kann sie zurückgehen und ihm alles erklären.“
„Meinst du, du wirst sie finden?“
„Das muss ich“, erwiderte Milly mit Nachdruck. „Wenigstens weiß ich, dass ihr nichts zugestoßen ist. Wir haben uns große Sorgen gemacht, als wir so lange nichts von ihr gehört haben. Obwohl ich versucht habe, meine Mutter zu beruhigen, und sie daran erinnert habe, dass Jilly nie gern geschrieben und während ihrer Ausbildung in London auch nur einige wenige Ansichtskarten geschickt hat, war ich zutiefst beunruhigt. Sie hatte uns nicht mitgeteilt, wie sie so viel Geld verdienen wollte. Und da ich weiß, wie eigensinnig und leichtfertig sie ist, habe ich mir alles Mögliche vorgestellt. Zumindest brauche ich mir jetzt deswegen keine Sorgen mehr zu machen. Sie war bei dieser netten alten Dame gut aufgehoben. So.“ Milly sprang unvermittelt auf und ignorierte das Unbehagen, das sie beschlich. „Hilf mir dabei, Jillys Sachen durchzusehen, und sag mir, was ich einpacken soll. Ihre Dessous brauche ich nicht, ich nehme meine eigenen und auch meine Nachthemden mit. Darin sieht er mich ja nicht.“
„Okay, wenn es unbedingt sein muss.“ Cleo folgte ihr in Jillys Schlafzimmer. „Aber ich bin von dir enttäuscht. Du sollst meine Brautjungfer sein, schon vergessen?“
Milly drehte sich zu ihr um und umarmte sie. „Du heiratest doch erst in drei Monaten. Bis dahin bin ich längst wieder hier“, versprach sie zuversichtlich.
Doch als sie einige Stunden später im Bett lag und nicht einschlafen konnte, fragte sie sich, ob sie vielleicht zu viel versprochen hatte. Was wollte sie machen, wenn von Jilly jede Spur fehlte? Milly hatte schon alle Brücken hinter sich abgebrochen. Sie hatte Manda angerufen und erklärt, sie würde nicht mehr kommen, weil sie einen anderen Job gefunden hätte. Dann hatte sie dem Vermieter drei Monatsmieten im Voraus überwiesen, damit sie die wenigen Sachen, die sie besaß, und die Möbel noch in der Wohnung lassen konnte.
Morgen würde sie mit diesem einschüchternd wirkenden Fremden, der sie für eine Betrügerin hielt und sie mit Argusaugen beobachtete, so als befürchtete er, sie würde mit dem Familienschmuck verschwinden, nach Italien fliegen.
Irgendwie hatte sie das Gefühl, über ihre Zukunft nicht mehr selbst bestimmen zu können. Und das machte sie ganz mutlos.