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Pläne
»Ich weiß nicht, was ich machen soll!« Tiziana sah Angela aus ihren wunderschönen, riesengroßen Augen, in denen Tränen schimmerten, an. »Du glaubst nicht, wie sehr ich dich und Vittorio beneide. Seit eurer Verlobung hat Costanza sich wohl damit abgefunden, dass ihr heiraten werdet, vero
? Nun schau dir mal meine Eltern an!« Die junge Architektin beugte sich vor. »Sie haben mir den Krieg erklärt. Sie wollen, dass ich die Verlobung mit Solomon löse.«
»Du bist ein erwachsener Mensch«, wandte Angela ein, »und kannst heiraten, wen immer du willst.«
»Du hast recht.« Tiziana seufzte. »Aber leider nur theoretisch.« Schon wieder liefen die Tränen. »Wenn ich nur nicht so ein Familienmensch wäre. Allein der Gedanke, nie mehr nach Hause gehen zu können, meinen Vater nicht mehr zu sehen …« Die Stimme versagte ihr.
»Natürlich«, murmelte Angela. »Das wäre schrecklich.«
Im Grunde wusste sie nicht, was sie Tiziana raten sollte. Die junge Architektin hatte sich heimlich mit einem hinreißenden New Yorker Anwalt verlobt, einem Amerikaner jüdischer Abstammung, was Tizianas Eltern einfach nicht akzeptieren wollten. Auch Angela hätten die Intrigen von Vittorios Mutter fast um den Verstand gebracht. Denn ihr Lebensgefährte entstammte genau wie Tiziana einem uralten italienischen Adelsgeschlecht. Die Fontarini hatten bereits im 11. Jahrhundert Venedigs Stadtoberhäupter gestellt, die sogenannten Dogen. Und Tizianas Familie war sogar noch älter. Zum Glück interessierte Vittorio das alles kein bisschen. Der alte Adel war in Italien schon seit vielen Jahren offiziell abgeschafft worden, nur innerhalb ihrer eigenen Zirkel legten die Nachkommen von Fürsten
und Herzögen heute noch Wert auf die Titel und die alten Traditionen. Außerdem achteten sie streng darauf, nur innerhalb ihrer Kreise zu heiraten.
Vittorios Mutter hatte alles dafür getan, ihre Beziehung zu zerstören. Es war ihr nicht gelungen, und heute trug Angela den Ring mit dem kostbaren Rubin an ihrem Finger, der seit Jahrhunderten den Verlobten und Ehefrauen des Erben der jüngsten Generation vorbehalten war. Wenn Tiziana jedoch glaubte, die Principessa Costanza Fontarini hätte sie als künftige Schwiegertochter inzwischen akzeptiert, so war Angela nach wie vor auf der Hut.
Zum Glück hatte sich Vittorio mittlerweile dem Einfluss seiner Mutter fast völlig entzogen, doch Tiziana fiel das, obwohl sie schon fünfunddreißig Jahre alt war, offenbar schwerer. Wie sie so auf ihrem Sofa saß, die langen Beine unter sich gezogen und trotz der verweinten Augen schön wie ein Topmodel, tat sie Angela aufrichtig leid.
»Möchtest du Nathalie besuchen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Oh, ja, con piacere
! Wo ist sie denn?«
»Sie ist mit Fania in die Villa Serena umgezogen«, erzählte Angela, während sie sich erhoben. »Meine Haushälterin hat sich als fantastisches Kindermädchen entpuppt.« Es war eine wahre Freude, die beiden jungen Frauen und das Kind zu besuchen, was Angela täglich und manchmal sogar mehrmals tat. Ihre Tochter hatte sich in den vergangenen zehn Tagen gut erholt, obwohl Pietrino jede Stunde gestillt werden wollte. »Bei Tess ist genügend Platz, sie haben ein ganzes Stockwerk für sich«, erklärte sie Tiziana, als sie die Seidenvilla verließen und die Straße in Richtung Piazza della Libertà hinaufgingen.
Die Altstadt erstrahlte in weihnachtlichem Schmuck. Über den Straßen hatte man große Metallgestänge in Form von Sternen und Rentieren angebracht, an denen viele Glühkörper befestigt waren. Dabei war es für Angelas Geschmack inzwischen wieder viel zu mild, um vorweihnachtliche Gefühle aufkommen zu lassen. Vor der Bar des Hotel Duse hatte sich wie immer um diese Zeit kurz vor dem Abendessen eine Gruppe Menschen versammelt, die mit einem Aperitif in der Hand die Neuigkeiten austauschten. Angela winkte kurz Fausto zu, dem barista
der Bar des Hotel Duse, dann bogen sie in die steile Gasse ein, die zu Tess’ Villa führte.
Sie klingelten an dem schmiedeeisernen Tor, und als es sich mit einem Summen öffnete, musste Angela an das allererste Mal denken, als sie hier für einen Kurzurlaub, wie sie damals geglaubt hatte, angekommen war. Nachdem sie ihren todkranken Mann zwei Jahre lang gepflegt hatte, war sie völlig erschöpft gewesen. Die alten Rosen im Vorgarten trugen immer noch ein paar prächtige Blüten. Der Schnee am Tag von Pietrinos Geburt war nur wenige Stunden liegen geblieben. Nun schien in diesen ersten Tagen des Dezembers wieder die Sonne, als wollte sie den Winter überspringen und direkt mit dem Frühling beginnen.
»Dieses Städtchen steckt voller Überraschungen«, sagte Tiziana gerade und betrachtete mit dem geschulten Auge einer Architektin die Villa Serena. »In der Mitte – das muss ein alter Wehrturm sein«, sagte sie erstaunt. »Die Villa hat man später um ihn herumgebaut, vero
?«
»Ganz genau. Letztes Jahr haben wir hier ein wenig saniert.« Angela wies auf die praktische und gleichzeitig elegante Rampe aus Naturstein, die statt der früheren Stufen nun ebenerdig in das Foyer der Villa führte. »Tess musste ihr Knie operieren lassen, und wir haben das zum Anlass genommen, die Villa altersgerecht umzubauen. Seitdem das Gebäude einen Fahrstuhl hat, muss Tess nicht mehr so viele Treppen steigen. Sie liebt den Turm, dort hält sie sich meistens auf. Außerdem habe ich die Bäder erneuern lassen und so manches mehr.«
»Du hast den Umbau geleitet?« Tiziana schien sie mit ganz neuen Augen zu betrachten.
»Na ja, mithilfe eines hier ansässigen Architekten«, antwortete Angela.
»Dennoch ist so was keine Kleinigkeit«, bemerkte Tiziana. »Die Rampe sieht toll aus. Modern, und doch fügt sie sich perfekt in die historische Architektur ein. Hast du sie entworfen?«
Angela nickte, nicht ohne Stolz.
»In meinem vorigen Leben, wenn man das so sagen darf, habe ich in der Baufirma meines verstorbenen Mannes mitgearbeitet. Deshalb war das nicht so schwierig für mich.«
»Das wusste ich gar nicht … Ich meine, dass du schon einmal verheiratet warst …« Tiziana sah sie mitfühlend an. »Genau wie Vittorio«, fügte sie leise hinzu. »Es war ja so furchtbar, als Sofia diesen Unfall hatte.«
Darauf wusste Angela nichts zu sagen. Sie standen vor der Villa in der Sonne, in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Die uralte Zeder, die ihre Zweige über einen Teil des Daches spannte, duftete, und auf einmal schien die Zeit stillzustehen. In diesem Augenblick erkannte Angela einmal mehr, wie gut das Leben, das sie nach dem Schicksalsschlag hierhergeführt und mit einer neuen Liebe beschenkt hatte, es mit ihr meinte. Das Leben geht weiter, hatte Peter kurz vor seinem Tod zu ihr gesagt. Und jetzt hatte ihre Tochter einen kleinen Jungen namens Peter geboren …
»Kommt endlich rein!«
Tess stand in der offenen Haustür und empfing sie mit einem Strahlen. Ihr silbergraues Haar, zu einem kurzen Bob geschnitten, schimmerte in der Wintersonne, ihre kobaltblauen Augen funkelten vor Freude.
»Ich hab euch vom Fenster aus gesehen. Ihr kommt genau richtig zum Abendessen! Was für eine schöne Überraschung, Tiziana! Ich wusste gar nicht, dass du in Asenza bist.«
»Ich hab mir endlich die Seidenvilla angeschaut.« Tiziana begrüßte Tess mit den in Italien üblichen Küsschen auf beide Wangen. Sie kannte die alte Dame von jener denkwürdigen Geburtstagsfeier der Principessa Costanza Fontarini, als ihre heimliche Verlobung mit Solomon Goldstein öffentlich gemacht worden war. Ein Riesenskandal, von dem sich ihre Familie offenbar noch immer nicht erholt hatte. »Wir kommen doch nicht ungelegen?«, erkundigte sich Tiziana verlegen. »Normalerweise platze ich nicht unangemeldet zum Abendessen herein …«
»Papperlapapp«, meinte Tess nur und bat sie einzutreten. »Emilia«, rief sie dann, und sogleich wurde eine Tür geöffnet, aus der ein köstlicher Duft nach gebackenem Fleisch und Rosmarin strömte. »Wir haben zwei weitere Gäste«, erklärte sie der rundlichen Haushälterin, deren Gesicht vor Freude erstrahlte.
»Benissimo«
, rief sie. »Signora Angela, ich hatte heute direkt so ein Gefühl, dass Sie noch mal vorbeischauen würden. Deshalb hab ich gleich eine ganze Keule in den Ofen geschoben. Benvenuta
, Signorina«, fügte sie herzlich an Tiziana gerichtet hinzu. »Ich hoffe, Sie mögen Lamm?«
»Für mein Leben gern!«
»Perfetto.
Aber jetzt muss ich nach dem Essen sehen.« Und schon verschwand sie wieder in der Küche.
»Was für eine herzliche Frau!« Tiziana war sichtlich überwältigt von dem freundlichen Empfang. »Wie machst du das, Tessa? Meine Mutter hat stets nur griesgrämige und unfähige Hausangestellte.«
»Nun ja«, konnte sich die Gastgeberin mit einem kleinen Grinsen nicht verkneifen zu sagen, »ohne deiner Mutter zu nahe treten zu wollen: Es kommt darauf an, wie man die Menschen behandelt. Emilia und ihr Sohn Gianni gehören zur Familie. Wir teilen Freud und Leid miteinander. Um es kurz zu fassen – wir gehen auf Augenhöhe miteinander um.«
Tiziana seufzte tief. »Das würde meiner Mutter nie in den Sinn kommen.«
»Emilias Nichte Fania ist auch so ein Goldschatz«, fügte Angela hinzu, wohl wissend, dass die Haushälterin durch die angelehnte Küchentür hindurch ihr Gespräch aufmerksam verfolgte, denn bei all ihren guten Eigenschaften war sie die Neugier in Person. »Wie sie mit Nathalie und dem Baby umgeht – es könnte nicht besser sein.«
»Wo ist Nathalie denn?«
»Im Turm«, erklärte Tess und ging voraus zum Aufzug.
»Können wir denn da einfach so reinplatzen?«
»Aber ja. Fania hält das Chaos in Grenzen.« Tess lächelte nachsichtig, während sie die zwei Stockwerke zum Gästetrakt hinauffuhren.
Oben angekommen klopfte Angela an, und als sie Nathalies helle Stimme fröhlich »Herein!« rufen hörten, öffnete sie die Tür.
Sofort umfing sie der unverkennbare Duft nach Neugeborenen, Muttermilch und Babypuder. Auch eine fremde, würzige Note mischte sich darunter, die Angela nicht einordnen konnte.
»Ich bringe Besuch mit«, sagte sie. »Wir stören doch nicht?«
»Tizi!«, rief Nathalie freudig aus und erhob sich aus dem geblümten Lehnsessel, den Gianni aus dem unteren Salon heraufgeschleppt hatte, damit Nathalie es zum Stillen bequem hatte.
Das Kind auf ihrem Arm war in ein Tuch eingeschlagen, nur die Arme und der Kopf schauten heraus. »Was für eine schöne Überraschung! Das ist Fania«, stellte sie ihre neue Freundin vor. »Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde.« Fania wurde rot vor Freude und Verlegenheit. »Und das ist Tiziana, eine ganz phänomenale Architektin, mein großes Vorbild.« Der Kleine begann, quäkende Laute von sich zu geben. Nathalie schenkte ihm einen liebevollen Blick. »Darf ich dir meinen Sohn vorstellen, Tizi? Er heißt Peter, aber alle nennen ihn nur Pietrino. Ist er nicht hübsch?«
»Er ist einfach ganz zauberhaft«, erwiderte die Architektin strahlend und betrachtete den Kleinen, der sie mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund ansah. »Darf ich ihn mal halten?«
»Natürlich.« Behutsam legte Nathalie ihr das Kind in die Arme. Tiziana wiegte es sanft und machte lustige, schnalzende Geräusche mit der Zunge, die dem Baby zu gefallen schienen. Unkoordiniert ruderte es mit den Armen, und als Tiziana sacht die kleine Handfläche berührte, schlossen sich seine Finger darum. »Seht nur«, rief Tiziana begeistert aus. »Er hält mich fest! Ich glaube, er mag mich.«
Die Frauen lachten und verzichteten darauf, Tiziana zu erklären, dass Kinder in diesem frühen Alter das grundsätzlich taten, wenn man ihre Handfläche berührte. Fania räumte rasch ein paar Utensilien vom Sofa und zog mit Angelas Hilfe einen Clubsessel heran, sodass alle Platz fanden. Da öffnete sich die Tür, und Gianni brachte ein Tablett mit einer Karaffe Sherry samt Gläsern.
»Meine Mutter dachte, Sie möchten vielleicht den Aperitif hier oben einnehmen«, sagte er und stellte das Tablett ab. »In zwanzig Minuten ist übrigens das Essen fertig.«
»Eine wundervolle Idee. Danke!«
Tess zog den Glasstöpsel aus der geschliffenen Karaffe und füllte die Gläser für Angela, Tiziana und sich selbst. Nathalie und Fania erhielten einen köstlichen alkoholfreien Sprizz.
Angela lehnte sich zurück und betrachtete ihre Tochter, die ihrem Besuch die dramatische Geburt in den glühendsten Farben schilderte. »Alle haben gesagt, so eine Geburt dauert ewig«, sagte sie gerade. »Mein Kleiner war wohl anderer Meinung. Innerhalb einer
Stunde war er da, oder, Mami?«
»Ich hab nicht auf die Uhr gesehen«, gestand Angela mit einem Lächeln. »Dazu war einfach keine Zeit.«
»Das stimmt.« Nathalie lachte. Dann wurde sie ernst und berichtete von Carmela und ihren Zauberhänden. »Sie ist uralt, musst du wissen. Mindestens achtzig.«
»Sie ist neunundsiebzig«, warf Angela ein.
»Ihre Hände sehen aus wie Krallen«, fuhr Nathalie unbeeindruckt fort. »Aber als sie mich mit diesem Öl massiert hat, da ging es auf einmal viel leichter.«
Nachdenklich nahm sie ihr Kind von Tizianas Arm, denn Pietrino hatte begonnen, wimmernde Laute von sich zu geben. Sie schob ihren Pulli hoch, öffnete den Still-BH
und legte ihn an ihre Brust. Das alles tat sie bereits mit einer Selbstverständlichkeit, die Angela erstaunte.
»Und wie geht es dir jetzt?«, wollte Tiziana wissen. »Ich hab noch nie von einer so schnellen Geburt gehört. Hast du noch Schmerzen?«
»O ja, das kannst du mir glauben.« Nathalie zog eine Grimasse. »Aber ich massiere meinen Bauch jeden Tag mit Carmelas Öl, und ich hab das Gefühl, dass das wirklich hilft, die extreme Dehnung zurückzubilden.«
»Du hast noch von dem Öl?«
»Ja, Mami.« Nathalie sah sie lächelnd an. »Carmela hat Maddalena mit einem Fläschchen vorbeigeschickt. Ist das nicht supernett von ihr?« Deshalb duftet es hier so würzig nach Kräutern, dachte Angela. Nathalie wandte sich nun wieder Tiziana zu, und auf einmal wirkte sie ungewohnt scheu. »Ich wollte dich etwas fragen«, begann sie und warf der Architektin einen unsicheren Blick zu. »Aber du musst unbedingt Nein sagen, wenn du es nicht möchtest, versprochen?«
»Was ist es denn?« Tiziana blickte sie mit offener Herzlichkeit an.
»Ich wollte dich fragen, ob du Peters Taufpatin werden möchtest.« Nathalie wurde rot, und sie biss sich auf die Unterlippe.
Über Tizianas Gesicht ging ein Strahlen. »Du möchtest mich als madrina
? Wirklich?« Sie sprang auf und gab Nathalie zwei schallende Küsse auf die Wangen. »Von Herzen gern! Was für eine Ehre!«
Tizianas langes schwarzes Haar hatte sich wie ein Vorhang über
das Gesicht des Säuglings gelegt, der gerade trank. Empört begann er zu schreien. Doch seine künftige Patin, temperamentvoll, wie sie nun einmal war, gab auch ihm viele kleine Küsse auf die Stirn, sodass er das Weinen vergaß und fasziniert in Tizianas schöne Gesichtszüge blickte.
Beim Essen, das Nathalie noch einmal zum Stillen unterbrechen musste, plauderten sie über die neuesten Bauprojekte der Architektin.
»Ich arbeite im Moment für einen Wettbewerb«, erzählte sie, und Nathalie hob interessiert den Kopf. »Es geht um eine öffentliche Bibliothek in einem Außenbezirk von Rom.« Sie probierte von Emilias Lammkeule und schloss genüsslich die Augen. »Dieses Lamm ist vorzüglich«, sagte sie, als Emilia eine Platte mit überbackener Polenta brachte, die Nathalie so gern aß. »Ich habe keine Ahnung, wie man so gut kochen kann, Emilia. Es ist mir ein Rätsel!« Geschmeichelt bedankte sich die Köchin und legte dem Gast ein weiteres, besonders zartes Stück Fleisch auf den Teller.
»Erzähl von dem Wettbewerb«, bat Nathalie, die ebenfalls Architektin werden wollte
»Meine Mutter ist ja gebürtige Römerin«, fuhr Tiziana fort, »und sie hat ein paar Beziehungen spielen lassen. So weiß ich, wer in der Jury sitzt.« Ach, so ist das, dachte Angela, während Tiziana eine Reihe international bekannter Koryphäen der Architekturszene aufzählte. Tizianas viel beschworene Familienbindung schloss natürlich geschäftliche Vorteile mit ein. »Mein Entwurf wird außer der Ausleihe und den üblichen Lesesälen Bereiche zur kulturellen Begegnung beinhalten«, fuhr sie gerade fort. »Der Stadtteil gehört zu den sozialen Brennpunkten, und deshalb muss eine Bibliothek auch andere Aufgaben erfüllen, besonders für die Jugend.«
»Von so etwas habe ich als Kind immer geträumt«, warf Fania ein, errötete jedoch bis unter die Haarspitzen, als sich die anderen überrascht zu ihr umwandten.
»Ja, solche Orte können ein ganzes Leben verändern«, bemerkte Tiziana nachdenklich, und sogleich entspann sich ein angeregtes Gespräch, an dem auch Tess lebhaft teilnahm.
»Wenn du möchtest, besuch mich doch in meinem Büro in Venedig«, sagte Tiziana zu Nathalie und lehnte den Nachtisch ab,
sehr zu Emilias Enttäuschung. »Natürlich erst, wenn du dich wohl genug dazu fühlst. Ich zeige dir gern den Entwurf.«
Nathalie strahlte und versicherte, dass sie das unbedingt tun werde. Dann zog sie sich mit Fania in ihr Reich zurück, nicht ohne zwei Schälchen mit Tiramisu für sich und ihre Freundin mit nach oben zu nehmen.
»Das war ein wunderschöner Abend.« Tizianas Augen funkelten, als sie sich von Tess verabschiedete. »Grazie mille
. Weißt du, Tessa, ich war vollkommen verzweifelt, als ich heute Nachmittag hier ankam. Die arme Angela kann ein Lied davon singen, ich hab ihr allerhand vorgeheult. Jetzt fühle ich mich wieder viel besser. Und das hab ich euch zu verdanken!«
»Lass dich von deiner Mutter nicht ins Bockshorn jagen«, riet Tess, die über ihre Freundin Donatella mit der Familie Pamfeli bekannt war. »Wenn sie dich zu Hause zu arg quälen, komm zu uns. Und bring das nächste Mal deinen Verlobten mit, ich würde mich sehr freuen, ihn näher kennenzulernen!«
»Das mach ich«, erklärte Tiziana mit einem tiefen Seufzen. »Sol wird glücklich sein, hier endlich einmal von jemandem herzlich aufgenommen zu werden. Wenn das so weitergeht, fürchte ich, geht er irgendwann zurück nach New York.«
»Wenn er dich liebt, dann hält er das durch.« Tess wirkte sehr überzeugend. »Hauptsache, du stehst fest zu ihm.«
»Das tu ich, Tessa«, beteuerte Tiziana, und Angela befürchtete, sie könnte gleich wieder in Tränen ausbrechen. »Das tu ich wirklich.«
»Das ist alles von der Zeitungsredaktion«, sagte Fioretta ein paar Tage später und legte Angela einen dicken Stapel Briefe auf den Schreibtisch, den sie einem großen braunen Umschlag entnommen hatte. »Und per Mail sind auch noch eine Reihe Bewerbungen eingegangen.«
Es war Montag, und Angela hatte ein zauberhaftes Wochenende in Venedig bei Vittorio verbracht. Am Sonntag hatten sie ausgeschlafen und sich danach die aktuelle Ausstellung im Peggy-Guggenheim-Museum angesehen. Wie immer war die Zeit viel zu schnell vergangen.
»Tatsächlich?«
Angela zählte zwölf Umschläge. Vielleicht befand sich genau die Schneiderin darunter, die sie suchte. Am liebsten hätte sie die Bewerbungen sofort durchgesehen, doch sie wurde in der Weberei gebraucht.
Sie liebte die Werkstatt mit den vier Webstühlen, die aus dem 19. Jahrhundert stammten und mechanisch bedient wurden. Das Schultertuch für Mrs. Whitehouse war längst fertig und auf dem Weg in die USA
. Angela zeigte ihren Mitarbeiterinnen das Foto einer anderen begeisterten Kundin, auf der diese mit einer Stola aus der Seidenvilla zu sehen war, und eine Diskussion entspann sich darüber, wer dieses Tuch gewoben hatte. Nola beanspruchte es für sich, doch Maddalena hielt das Foto ganz nah vor ihre Augen.
»Nein, Nola, da täuschst du dich«, sagte sie schließlich. »Dieses Tuch hat Lidia gemacht.«
Augenblicklich wurde es still. Das Thema Lidia war ein wunder Punkt unter den Kolleginnen. So schwierig es mit der streitbaren Weberin auch gewesen sein mochte, seit sie der Seidenfabrikant Ranelli Seta, Angelas größter Konkurrent, im Frühjahr abgeworben hatte, fehlte sie an allen Ecken und Enden. Zum Glück hatte Angela Nicola Coppola überzeugen können, aus Neapel zu ihnen zu kommen. Dass er darüber hinaus seinen historischen Jacquard-Webstuhl mitgebracht hatte, auf dem man komplizierte Muster weben konnte, war ein unverhoffter Glücksfall für die Seidenvilla, denn solche Webstühle waren inzwischen äußerst rar. Die Muster entstanden mithilfe von riesigen Lochstreifenkarten, die durch eine spezielle Mechanik das Heben und Senken der Kettfäden steuerten. Jede dieser viele Meter langen, zusammenfaltbaren Lochkarten erzeugte ein anderes Muster. Nicola war im Besitz von einem Dutzend solcher Karten mit außergewöhnlich schönen Ornamenten, die zum Teil noch aus der Renaissance stammten.
»Wenn wir die Weihnachtsbestellungen erledigt haben«, sagte Angela an Nicola gewandt, »sollten wir mal ein Musterbuch angehen. Es wäre schön, wenn wir von jeder Lochkarte eine Probe hätten, damit ich sie unseren Kunden zeigen kann.«
Nicola runzelte seine dichten Brauen und wirkte mit seinem Lockenschopf wie ein trotziger Junge.
»Es ist ein Riesenaufwand, die Lochkarten zu wechseln«, sagte er. »Sie dürfen nicht vergessen, dass wir dafür die Kette ganz neu aufzäumen müssen, und das braucht Tage, wenn nicht Wochen. Praktischer und vor allem rentabler wäre es, ich könnte eine maximale Kettenlänge in einem Ornament weben, ehe wir es austauschen.«
Angela nickte. Er hatte recht. Auf diese Weise würde es aber mindestens ein Jahr dauern, bis sie alle Muster präsentieren könnte. Nun ja, sie leitete eine Manufaktur, da durfte man nicht ungeduldig sein.
»Dann werden wir das so machen«, sagte sie und löste die Versammlung auf.
Als Maddalena, Nola und Anna ihre Webstühle wieder in Bewegung setzten, warf Angela kurz einen Blick auf jede ihrer Arbeiten. Anna hatte eine leuchtend rote Kette und verarbeitete gerade dunkelgelbes und orangefarbenes Garn im Wechsel für den Schuss, was ein lebhaftes, in sich schillerndes Webbild ergab. Nola erledigte eine Bestellung in den Farben Cognac, Sienagelb und Umbra, die sie zu einem raffinierten Karomuster kombinierte. Und Maddalena wob ein einfarbiges Tuch in Zartrosé, dem Angela bereits im Webstuhl ansehen konnte, wie anschmiegsam es einmal sein würde. Denn keine wob so weiche, schmeichelnde Stoffe wie Maddalena.
Angela riss sich los und durchquerte die Flügeltür, die zum angrenzenden Raum führte, in dem die beiden Männer der Seidenvilla arbeiteten: Stefano an dem riesigen und kräftezehrenden omaccio
, an dem er Stoffe in Überbreite wob, und Nicola an seinem Jacquard-Webstuhl. Sie bat ihn, ihr die Streifenkarten zu zeigen, anhand deren Lochung man mit geübtem Auge die Muster erkennen konnte, und traf eine Auswahl, mit der der Weber im neuen Jahr beginnen sollte. Wenn es ihr gelänge, bald eine Schneiderin einzustellen, könnte sie die Stoffe auch bei ihren Entwürfen für Modellkleider einsetzen. Und schon jetzt juckte es ihr in den Fingern, wenn sie nur daran dachte.
Den Rest des Vormittags verbrachte sie damit, die Bewerbungen zu sichten. Die meisten konnte sie zu ihrem Bedauern gleich
aussortieren. Sie fragte sich, wie Änderungsschneiderinnen auf die Idee kamen, sich um eine leitende Stelle in einem Atelier für Modellkleider zu bewerben. Schließlich hatte sie in der Annonce klar und deutlich beschrieben, welche Voraussetzungen sie wünschte: Die Schneiderin sollte neben Erfahrung mit aufwendigen Details und kostbaren Stoffen auch die Fähigkeit mitbringen, nach Angelas Entwurfszeichnungen Schnittmuster zu erstellen. Letztlich blieben nur zwei Interessentinnen übrig. Die eine kam aus Bassano di Grappa, die zweite aus einem Dorf ganz in der Nähe.
Fioretta lud die erste für den folgenden Tag zu einem Vorstellungstermin ein. Dafür bereitete Angela ein paar Aufgaben vor, die ihr zeigen sollten, wie geschickt die Schneiderinnen mit der handgewobenen Seide umgehen konnten. Sie entschied sich für die Umsetzung eines Kragens nach ihrer Zeichnung und das Säumen eines Knopflochs. So einfach diese Arbeiten auch waren, so verrieten sie viel über das Geschick der Näherin. Sollten diese Proben zu ihrer Zufriedenheit ausfallen, würde sie die Bewerberinnen bitten, feine Biesen zu nähen, eine abgerundete Stoffkante und einen Volant nach eigenen Vorstellungen an einen Stoff anzufügen. Für all diese Probearbeiten suchte sie aus ihrer Truhe passende Reststücke heraus, denn sie hob jeden Fetzen ihrer kostbaren Seide auf, und sei er auch noch so klein.
Als alles vorbereitet war, blätterte sie durch das Skizzenbuch, in dem sie ihre Ideen für besondere Kleider festhielt. Als junge Frau hatte sie an der Kunstakademie studiert und sich auf Textilkunst spezialisiert. Viele Jahre hatte diese Begabung brachgelegen, doch nun schien es, als würden die Ideen nur so aus ihr herausquellen. Sie brannte darauf, die vielen Entwürfe, die ihr Skizzenbuch enthielt, endlich verwirklicht zu sehen. Elf Namen von anspruchsvollen Interessentinnen, die von ihr festlich eingekleidet werden wollten, standen auf ihrer Warteliste. Alles was sie brauchte, war jemand, der für das Modeatelier, das sie einrichten wollte, begabt und erfahren genug war.
Draußen im Hof hörte sie Stimmen. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass die Mittagspause schon vorüber war. Wieder einmal hatte sie überhaupt nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Hoffentlich hatten Tess und die anderen in der Villa Serena nicht mit dem Essen
auf sie gewartet.
Sie erhob sich und ging hinaus zu den anderen, die wie jeden Mittag noch rasch einen Kaffee miteinander tranken, den Fioretta aus der Bar des Hotel Duse holte. Selbstverständlich stand auch für Angela ein Tässchen auf dem Tablett.
»Meine Schwester kann übrigens sehr gut nähen«, sagte Nicola in Angelas Richtung.
»Mariola?«, fragte sie überrascht. »Ich dachte, sie wäre Weberin.«
»Das auch«, erklärte Nicola selbstbewusst.
»Hat sie denn eine Schneiderlehre absolviert?«
Nicola schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie ist sehr geschickt.«
»Wie geht es ihr eigentlich?«, erkundigte sich Angela. »Ich hab sie schon seit einer Weile nicht mehr gesehen.«
Nicola zuckte mit den Achseln. »Ich denke, gut.«
»Hat sie alles, was sie braucht, in dem Gärtnerhäuschen von Signor Rivalecca?«
»Sie wohnt dort oben wie eine Prinzessin«, konnte Nola sich nun doch nicht enthalten zu sagen. »Der Alte verwöhnt sie geradezu.«
»Aber sie hat Heimweh«, wandte Nicola mit einem Seufzen ein. »Nicht nach ihrem strunz di marito
«, fügte er hinzu und meinte mit dem neapolitanischen Schimpfwort Mariolas gewalttätigen Ehemann, dem sie davongelaufen war, »sondern nach ihren Eltern, Tanten und Onkeln. Und natürlich fehlt ihr Napule
.«
Wie immer, wenn er von seiner Heimatstadt sprach und sie bei ihrem Kosenamen nannte, wurde seine Stimme wehmütig.
»Möchten Sie mit Mariola über Weihnachten nach Hause fahren?«, fragte Angela. Der Weber schüttelte den Kopf.
»So gern wir das täten, es ist besser, wir lassen es. Edoardo weiß nicht, dass sie hier ist. Und es ist besser, er erfährt es auch nicht.« Er seufzte. »Wobei mein Vater neulich am Telefon sagte, dass der Schuft bereits eine andere hat.«
Angela sah Nicola bestürzt an. »Glauben Sie, dass das Mariola etwas ausmacht?«, fragte sie mitfühlend.
»Ich hoffe doch nicht«, antwortete Nicola streng. »Meiner Meinung nach sollte sie sich freuen, ihn endlich los zu sein, so übel wie er sie behandelt hat.«
Angela nickte. Und nahm sich vor, nach der jungen Frau zu sehen.