5
Ärger
»Sieht so aus, als würde ich dir nur Unglück bringen.« Tizianas Verlobter wirkte niedergeschlagen. Trotz der Glatze inmitten seines kurz rasierten Haars fand Angela Solomon Goldstein attraktiv. Er hatte lebhafte graublaue Augen und einen ausgesprochen schön geschwungenen Mund. »Seit ich hier bin, hast du nur Ärger.«
Das Essen in der neu eröffneten Trattoria, die in den lokalen Zeitungen so gute Besprechungen erhalten hatte, war eine Enttäuschung gewesen: wenig liebevoll zubereitete Speisen und überhöhte Preise. Doch das war an diesem Abend nebensächlich.
»Nein, Darling, das darfst du nicht sagen.«
»Aber so ist es. Deine Eltern mögen mich nicht.« Der Anwalt lächelte traurig.
»Nein, das …«
»Oder sie haben etwas gegen Juden. Wieso um den heißen Brei herumreden?«
Tiziana schwieg betreten und sah auf ihre Hände, die die edle Leinenserviette kneteten.
»Vielleicht wird es Zeit, dass du Abstand von deiner Familie nimmst«, erklärte Vittorio ernst. »Du bist ihre einzige Tochter. Wenn deine Mutter merkt, dass sie dich verlieren könnte, wird sie einlenken.«
»Immerhin unterstützt dich dein Vater«, warf Angela ein. Und als sie Solomons zweifelnde Miene bemerkte, fügte sie hinzu: »Hat er das an Costanzas Geburtstagsfest, als eure Verlobung öffentlich wurde, nicht gesagt?«
»Ich fürchte, er hat seine Meinung geändert.« Tiziana wirkte wie am Boden zerstört. »Mamma hat ihn auf ihre Seite gebracht. Und vor zwei Tagen haben sie mir ein Ultimatum gestellt.«
»Honey , sag doch einfach, wie es ist«, warf Solomon ein und verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Sie erpressen dich, das trifft es besser.«
Tiziana schluckte schwer. Angela kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass die Architektin nahe daran war, in Tränen auszubrechen.
Der Kellner kam, um zu fragen, ob jemand Dessert oder Kaffee wünschte.
»Haben Sie einen guten Cognac?«, erkundigte sich Vittorio. »Ich glaube, den könnten wir jetzt alle vertragen. Hab ich recht?« Keiner widersprach. Vittorio warf Tiziana, die er seit ihrer Geburt kannte, einen besorgten Blick zu. Und als die Schwenker mit der goldbraunen duftenden Flüssigkeit vor ihnen standen, fragte er: »Nun rück schon raus damit, Tizi. Was haben sie sich ausgedacht, um dich zu erpressen?«
»Ich darf Papàs Firma nicht übernehmen, wenn ich die Verlobung nicht löse.«
Tizianas Vater war ein in ganz Italien geschätzter Architekt. Es stand seit Jahren fest, dass seine Tochter das Unternehmen weiterführen sollte. Sie hatte eine Weile im Ausland gelebt und in verschiedenen Architekturbüros gearbeitet, zuletzt in New York. Im Grunde hatte sie seit ihrer Rückkehr aus Amerika im Frühjahr bereits damit begonnen, lukrative Kunden ins Familienunternehmen zu holen. Offiziell war die Firma allerdings noch nicht überschrieben worden.
»Ihr Vater hat sie mit diesem Versprechen zurückgelockt«, warf Solomon ein. »Sie hätte in New York bleiben können. Man hat ihr die Teilhaberschaft bei Wilson & Cobb angeboten, und das ist wahrlich keine schlechte Adresse.« Er seufzte. »Wir hätten beide in New York bleiben sollen«, fügte er frustriert hinzu und ließ den Cognac, den der Kellner mittlerweile gebracht hatte, in seinem Schwenker kreisen.
»Das tun deine Eltern nicht«, warf Vittorio ein. »Damit drohen sie nur.«
Tiziana schüttelte den Kopf. »Papà hat ein Angebot von einem seiner Konkurrenten erhalten, der sein Büro übernehmen will. Er sagt, er nimmt es an, wenn ich mich nicht von Sol trenne. Vito, er macht Ernst.«
Vittorio schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. Angela konnte ihm ansehen, wie sehr ihn die Haltung von Tizianas Familie ärgerte. Immerhin waren ihre beiden Mütter beste Freundinnen. Solomon entschuldigte sich und verschwand in Richtung Toilette. Vittorio nutzte die Gelegenheit und beugte sich zu Tiziana hinüber.
»Bitte sag mir eines …« Er sah sie forschend an. »Liebst du diesen Mann? Ich meine, wirklich?«
»Aber natürlich liebe ich ihn.« Tiziana wirkte empört. »Was glaubst du, warum ich das ganze Theater mitmache?«
»In diesem Fall solltest du eine Entscheidung treffen. Sag deinem Vater, er soll sein Büro ruhig verkaufen.«
»Bist du verrückt geworden?«
»Nein, ganz und gar nicht, Tizi. Aber wenn du so weitermachst, wirst du verrückt werden. Und du wirst Solomon verlieren. Ich glaube nicht, dass er dieses Theater, wie du es nennst, noch lange erträgt.« Tiziana holte erschrocken Luft. Doch Vittorio war noch nicht fertig. »Willst du mit diesem Mann alt werden? Dann musst du Farbe bekennen. Offenbar wirst du nicht beides haben können: den Segen deiner Eltern und den Mann, den du liebst.«
Tiziana starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als würde er etwas Ungeheuerliches von ihr verlangen.
Noch ehe sie etwas erwidern konnte, kehrte Solomon an den Tisch zurück. Um das Thema zu wechseln, erkundigte sich Angela bei ihm, ob er in Italien bereits eine adäquate Arbeit gefunden hatte.
»Meine Brüder und ich besitzen in Manhattan eine Kanzlei für internationales Recht. Da geht es vor allem um Streitfälle zwischen US -amerikanischen und europäischen Parteien. Deshalb wäre eine Dependance hier sinnvoll.« Er warf seiner Verlobten einen nachdenklichen Blick zu. »Aber wenn Tiziana wieder zurück in die Staaten möchte, ist das für mich auch kein Problem. In diesem Fall würden wir einen unserer leitenden Anwälte, dessen Familie aus Frankreich stammt, herschicken. Paris wäre ein ebenso guter Standort für ein europäisches Büro.«
Angela hatte das Gefühl, dass Solomon Goldstein längst einen Plan B vorbereitete. Für den Fall, dass Tizianas Familie noch länger Schwierigkeiten machte. Oder sich seine Verlobte gegen ihn entscheiden sollte.
»Hat sich deine Mutter eigentlich bei dir gemeldet?«
Tizianas Probleme mit ihren Eltern erinnerten sie unweigerlich daran, dass auch Costanza in den vergangenen Monaten alles dafür getan hatte, um sie auseinanderzubringen.
»Nein.« Vittorio hatte sich auf Angelas Sofa im Maulbeersaal fallen lassen und legte ein Bein über das andere. »Dafür Amadeo. Er will über Weihnachten kommen.«
»Wirklich?« Donatella hatte ihr etwas anderes erzählt, offenbar hatten sich Amadeos und Costanzas Pläne geändert. »Wie schön! Dann lerne ich ihn endlich kennen.« Sie setzte sich zu ihm, streifte die Schuhe ab und zog die Füße unter die Beine. »Ich wollte dich ohnehin fragen, wie wir es an Weihnachten halten sollen.«
Nun erübrigt sich diese Frage wohl, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut. Sie wollte natürlich gern mit Nathalie und dem Kleinen zusammen feiern. Aber selbstverständlich auch mit Vittorio. Doch wenn sein Sohn kam, würde er wohl lieber in Venedig bleiben …
»Was hältst du davon, wenn wir alle zusammen hier in der Seidenvilla feiern?«, schlug er zu ihrer Überraschung vor. »Das war so schön im vergangenen Jahr. Amadeo gefällt es bestimmt auch.«
»Das wäre fantastisch!« Angela legte ihre Arme um seinen Hals und glitt auf seinen Schoß. »Du und Amadeo«, zählte sie auf. »Nathalie mit dem Kleinen und Tess.«
»Lorenzo und Costanza.«
Angela stutzte. »Meinst du das im Ernst?«
»Aber ja, jedenfalls würde ich meine Mutter gern einladen, wenn du einverstanden bist. Wenn sie es vorzieht, nicht zu kommen, ist das ihre Sache.«
Angela nickte. Natürlich. Irgendwann, wenn Vittorio und sie erst einmal heiraten würden … dann wären sie eine Familie. Auf der anderen Seite konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, diese kühle, ablehnende Frau ausgerechnet an Weihnachten …
»Und was hältst du davon, wenn wir auch Tizi und Sol einladen? Sie machen ja gerade eine schwere Zeit durch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bei Tizis Eltern feiern wollen.«
»Das ist eine fabelhafte Idee«, stimmte Angela erleichtert zu. Costanza mochte Tiziana gern, ihre Anwesenheit würde die Situation sicher entschärfen.
Sie schmiedeten weiter Pläne, und schließlich holte Angela die Entwürfe des Kleides für Vittorios Tante, um sie ihm zu zeigen.
»Deswegen muss ich gleich nach den Weihnachtstagen nach Rom fliegen.« Sie seufzte und nahm wieder neben ihm Platz. »Der Ball ist am 29. Dezember. Ohne Anprobe geht es nicht.«
»Das sieht toll aus«, rief er aus, als er die Skizzen sah. »Du schaffst es tatsächlich, dem Flakschiff Donatella eine anmutige Gestalt zu verleihen.« Er grinste über beide Ohren, als er die Geschichte von dem noch nicht gewobenen himbeerfarbenen Stoff hörte und wie geschickt Angela das neue Modell ins Spiel gebracht hatte.
»Mit sieben Pfund mehr hätte deine Tante in Himbeerrot ausgesehen wie ein Knallbonbon«, verteidigte sie sich lachend. »Ich musste ihr diese Farbe unbedingt ausreden. Und stell dir vor, ich habe noch eine gute Nachricht.«
»Da bin ich aber gespannt!« Er war aufgestanden und hatte sich hinter ihren Sessel gestellt. Nun begann er mit sanften Bewegungen ihren verspannten Nacken zu massieren.
»Ich habe eine Schneiderin gefunden. Am Montag fängt sie an.«
»Großartig! Da kann ja nichts mehr schiefgehen. Ich wollte dich gerade fragen, ob du dir mit diesen Kleidern nicht zu viel auflädst. Du leitest immerhin die Weberei.«
»Ja, ich bin auch sehr erleichtert, dass ich sie gefunden habe.« Wohlig seufzend überließ sie sich seinen Händen. Und doch. Wenn sie an Lidias makellose Seide dachte, die sie jetzt einer Fremden anvertrauen sollte, wurde ihr ganz anders.
»Was ist?«, fragte Vittorio. Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sanft ihr Ohrläppchen. »Du verspannst dich ja schon wieder!«
»Ich hab mich gerade gefragt, ob Elena Alberti die Richtige ist«, gestand sie mit einem Seufzen.
»Delegieren ist auch eine Kunst, meine Liebste. Wird Zeit, dass du das lernst.«
Am Samstagmorgen wachte Angela früh auf. Es war noch dunkel, als sie sich vorsichtig aus Vittorios Umarmung löste. Sie erhob sich leise, schlüpfte in den wattierten Kimono, den sie sich kürzlich aus grauen, roten und schwarzen Seidenresten genäht hatte und der mit seinem aus der Not heraus entstandenen graphischen Muster äußerst extravagant wirkte. Es war erst fünf Uhr, doch sie fühlte sich hellwach und voller Energie.
Das Kleid … Ehe sie die von Lidia gewobene Seide zerschnitt, würde sie die von ihr angefertigten Schnitte mit jenem Futterstoff ausprobieren, den sie in einem der Abstellräume gefunden hatte. Schon am Vortag hatte sie einen grauen Ballen mit in ihre Wohnung gebracht. Nun schnitt sie die Menge ab, die sie benötigte, legte den Stoff doppelt und steckte ihn fest, damit er nicht verrutschen konnte. Sie verteilte die Schnittmusterteile darauf und fixierte auch diese mit Nadeln. Dann glitt ihre Schneiderschere nur so durch die graue Kunstseide.
Es war inzwischen Viertel nach sechs. Sie machte sich einen Kaffee, ehe sie ihre Nähmaschine holte. Die Schneiderbüste stand bereits seit geraumer Zeit in einer Ecke des Maulbeersaals. Angela rückte sie näher an den Esstisch heran und stellte sie auf Donatellas Maße ein, heftete die Stoffteile zusammen und drapierte sie über der Büste. Trennte hier auf und gab Saum nach, steckte dort ein wenig mehr ab …
»Guten Morgen!« Vittorio stand in der Tür und rieb sich verschlafen die Augen. »Was machst du denn da? Ich dachte, dafür hättest du eine Schneiderin eingestellt?«
Angela steckte die letzte Nadel fest und ging ihm entgegen.
»Guten Morgen!« Sie schloss ihn zärtlich in die Arme. »Das wird ein Prototyp. An dem Futterstoff kann ich ausprobieren, ohne Schaden anzurichten. Schließlich habe ich das Modell frei Hand entworfen. Am Ende muss es Donatella passen.«
»Was ein wahres Wunder sein wird«, gab Vittorio zu und küsste sie wieder. »Wie lange bist du schon auf? Hast du überhaupt geschlafen, oder bist du gestern Nacht heimlich aufgestanden, kaum dass ich eingeschlummert war?«
»Ich bin seit fünf wach«, erklärte sie und streckte ihre Glieder. »Wie spät ist es jetzt?«
»Halb neun.« Er horchte auf. Im Innenhof rumpelte es. »Was ist da los?«
»Das ist Luca mit seinen Freunden«, rief Angela erfreut und eilte zur Tür, die auf die umlaufende Galerie hinausführte.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Im Hof stand der junge Busunternehmer, diesmal in Arbeitskluft, mit drei Männern seines Alters, die gerade eine der alten Kisten aus dem Abstellraum zerrten.
»Buongiorno!« , rief Angela hinunter und wurde sich erst jetzt bewusst, dass sie noch immer den Kimono trug. »Kommt ihr klar?«
Luca winkte zu ihr herauf und nickte. »Sissignora« , antwortete er. »Fioretta hilft uns …«
Hinter ihm kam Angelas Assistentin aus dem Gebäudeflügel, der bald die Schneiderei beheimaten würde.
»Tutto apposto« , bestätigte auch sie. »Ich kümmere mich um alles.«
»Wollen wir bei Fausto frühstücken gehen?«, schlug Vittorio vor, als Angela in den Maulbeersaal zurückkam. Er musterte den Esstisch, der von Angelas Näharbeiten vollkommen in Beschlag genommen war.
»Gute Idee. Lass mich nur eben dies noch fertig machen …«
Am Ende war es halb elf, und das Kleid hatte auf der Schneiderbüste bereits Form angenommen, als sie es endlich in die Bar des Hotel Duse schafften. Vittorio stellte mit einem Blick fest, dass alle Hörnchen ausverkauft waren, und ging rasch hinüber zur pasticceria Belmondo, um die leckeren Brioches zu kaufen, die Angela so mochte.
»Hättest du Lust, heute bei Tess zu Mittag zu essen? Sie hat uns eingeladen, wann immer wir kommen wollen.« Angela biss voller Appetit in ihre Brioche und nahm einen Schluck von Faustos unvergleichlichem Cappuccino.
Vittorio nickte. »Gern! Ich hab das Baby noch gar nicht richtig gesehen. Wie alt ist der Kleine denn jetzt?«
»Fast drei Wochen.« Angela konnte nicht anders, sie strahlte wie jedes Mal, wenn sie an ihren Enkel dachte. »Weißt du was? Lass uns gleich rübergehen. Ich kann es kaum erwarten, den süßen kleinen Kerl in den Arm zu nehmen.«
Vittorio lachte und trank seinen Kaffee aus. »Hast du die beiden denn schon so lange nicht mehr gesehen?«
»Gestern das letzte Mal«, räumte Angela ein. »Aber ob du es glaubst oder nicht – diese Säuglinge verändern sich jeden Tag …«
»… vermutlich von Minute zu Minute«, scherzte Vittorio und erhob sich. »Na, dann los! Ich will keine weitere Sekunde verpassen!«
In der Villa Serena hing jedoch der Haussegen schief. Die Hausherrin selbst öffnete ihnen, aus der Küche drangen wütende Stimmen.
»Emilia ist zornig auf Fania«, erklärte Tess und reckte sich auf die Zehenspitzen, um Vittorio Küsse auf beide Wangen zu geben. »Der Kleinen muss leider der Kopf zurechtgesetzt werden, und wer könnte das besser tun als eine liebende Tante?«
In Angelas Ohren klang das, was sie hörte, allerdings überhaupt nicht nach einer liebenden Tante.
»Was hat sie denn angestellt, die Ärmste?«, fragte sie, als sie im Wohnzimmer waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten. Im Kamin prasselte ein Feuer, und Tess nahm die Flasche mit ihrem Lieblingssherry von dem Beistelltischchen, auf dem außer einem silbernen Tablett mit verschiedenen Sherrysorten zahlreiche gerahmte Fotos von John standen, Tess’ verstorbenem Mann. Angela beeilte sich, Gläser aus der Vitrine zu holen. Dann nahm sie neben Vittorio auf einem der Zweisitzer Platz.
»Nun ja«, begann Tess und schenkte ihnen ein. »Dass Fania und Nathalie sich angefreundet haben, war Emilia von Anfang an ein Dorn im Auge. Sie meint, ihre Nichte würde ihre eigentlichen Aufgaben vernachlässigen und auf dumme Gedanken kommen. Ich muss ihr leider recht geben. Fania ist hier, um dir den Haushalt zu machen, dafür bekommt sie ihr Gehalt. Ist sie überhaupt in den letzten Tagen zu dir in die Seidenvilla gekommen, wie ihr das vereinbart habt? Schließlich zahlst du ja auch die ganzen Versicherungen und so weiter für sie.«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Angela. »Vermutlich nicht, ich hab nicht darauf geachtet. Aber wenn sie Nathalie unterstützen kann …«
»Schon«, unterbrach Tess sie. »Inzwischen könnte Nathalie meiner Meinung nach gut ohne sie zurechtkommen. Mariola ist mit ihrer Kleinen ja auch die meiste Zeit allein, wenn sie nicht zum Essen kommt.«
»Oje, da hab ich dir ja allerhand aufgehalst. Plötzlich ist dein Haus voller Babys.« Angela sah Tess schuldbewusst an.
»Für mich ist das überhaupt kein Problem! Mariola ist ein liebes Mädchen. Sie und Nathalie verstehen sich prima. Und ich finde es großartig – endlich ist Leben im Haus. Mir gefällt das. Das Dumme ist nur …« Tess hob lauschend den Kopf. Das Geschrei aus der Küche war verstummt. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Die alte Dame seufzte und hob die Augenbrauen. »Fania ist eifersüchtig.«
Angela erinnerte sich, dass auch sie schon den Eindruck gehabt hatte.
»Eifersüchtig? Auf wen denn?«, fragte Vittorio verwirrt.
Ehe Tess antworten konnte, kam Nathalie herein. Vor der Brust trug sie den kleinen Pietrino in einem Tragetuch.
»Hier seid ihr!«, rief sie, umarmte ihre Mutter und küsste Vittorio zerstreut auf beide Wangen. »Mami, du musst etwas unternehmen!« Sie wandte sich aufgeregt an Angela. »Stell dir vor, Emilia will Fania zurück nach Sizilien schicken. Sie weint sich gerade die Augen aus und hat angefangen, ihren Koffer zu packen.« Hilfe suchend sah sie von ihrer Mutter zu Tess. »Das kann man Fania doch nicht antun!«
Angela wechselte einen Blick mit ihrer Freundin. »Ich spreche mit Emilia«, sagte sie. »Aber es wäre gut, wenn ihr mir erklären könntet, was genau los ist. Tess sagte gerade, Fania sei eifersüchtig?«
Nathalie ließ sich neben ihrer Gastgeberin auf die Couch gegenüber ihrer Mutter und Vittorio fallen.
»Na ja, ich würde sagen, sie ist etwas durch den Wind«, räumte Nathalie ein und hob ihr Baby, das zu quäken begonnen hatte, aus dem Tuch. Sie schob ihr T-Shirt hoch und öffnete den Still-BH . »Ich fürchte, sie ist sauer, weil ich mich mit Mariola so gut verstehe. Und dann ist da noch die Sache mit Gianni …«
»Gianni?«
Nathalie legte Pietrino an ihre Brust, es dauerte einen Augenblick, ehe er zu trinken begann.
»Ich hätte vermutlich gar nicht davon anfangen sollen«, erwiderte Nathalie verlegen.
»Wir glauben, dass er sich in Mariola verliebt hat«, verriet Tess mit einem Lächeln. »Das merkt selbst eine alte Frau wie ich. Irgendwie betrachtet Fania ihren Cousin allerdings als ihr Eigentum. Und dich, Nathalie, und dein Baby auch.«
»Und Mariola?« Angela sah gerührt zu, wie ihr Enkel trank. Dann riss sie sich von seinem Anblick los. »Erwidert sie Giannis Gefühle?«
Tess zuckte die Schultern. »Keine Ahnung«, antwortete sie und sah Nathalie an. »Was ist dein Eindruck?«
»Meine Güte, sie kennen sich erst seit ein paar Tagen.« Nathalie hob Pietrino hoch, der sich verschluckt hatte, legte ihn über ihre Schulter und wiegte ihn beruhigend. »Das ist keine Kleinigkeit, was Mariola gerade durchmacht. Schließlich ist sie vor ihrem Ehemann davongelaufen. Ihre Familie führt gerade Gespräche mit ihm, damit er sie in Ruhe lässt und in die Trennung einwilligt. Offenbar hat er schon eine andere.« Nathalie verzog missbilligend das Gesicht.
»Hauptsache, er macht keinen Ärger«, bemerkte Angela. Das fehlte noch, dass eifersüchtige neapolitanische Ehemänner in Asenza aufkreuzten und Krawall machten.
Nathalie nickte. »Das stimmt. Aber Mami, bitte, du musst unbedingt verhindern, dass Fania nach Hause geschickt wird. Glaub mir, Emilia macht Ernst, wenn du nicht einschreitest.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Erzähl bloß nichts von Gianni und …«
»Keine Sorge«, beruhigte Angela ihre Tochter. »Ich brauche Fania dringend in der Seidenvilla. Und das ist die reine Wahrheit.«
Angela klopfte an die Küchentür und öffnete sie vorsichtig. Emilia hantierte schwungvoll mit zwei Kasserollen auf dem Gasherd. Aus einem großen Topf stieg Wasserdampf auf. Die Köchin war hochrot im Gesicht, und als sie Geräusche hinter sich hörte, fuhr sie zornig herum.
»Ah, Sie sind es«, rief sie erleichtert aus und wischte sich die feuchten Hände an der Kochschürze ab. »Madonna , haben Sie mich erschreckt.« Sie reduzierte das Feuer unter den Töpfen und wandte sich Angela zu. »Gut, dass Sie da sind. Haben Sie Signor Vittorio mitgebracht? Perfetto. « Sie rieb noch immer ihre Hände gegen den Schürzenstoff, es war ihr deutlich anzusehen, dass sie nach den richtigen Worten suchte – etwas, das ihr ansonsten nie Probleme bereitete. »Ich muss mit Ihnen sprechen … wegen Fania …«
»Das trifft sich gut, denn auch ich wollte mit Ihnen über Ihre Nichte sprechen, Emilia«, unterbrach Angela sie. Jetzt durfte sie keinen Fehler machen, sonst saß Fania am Montag im Bus nach Sizilien. »Ich brauche das Mädchen wieder in der Seidenvilla, und zwar heute noch.«
Emilia starrte sie überrascht an. »Aber …«, wollte sie widersprechen, doch Angela ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Meine Tochter kommt jetzt allein mit dem Baby klar. Und falls sie Hilfe benötigt, darf sie sich bestimmt auch an Sie wenden, oder?«
»Naturalmente! Ma …«
»Wissen Sie, Emilia, in der Seidenvilla wird gerade eine Schneiderei eingerichtet. Im Augenblick werden Räume entrümpelt, deshalb wäre es großartig, wenn Fania nach dem Mittagessen gleich rübergehen könnte, um dort sauber zu machen. Bis Montag muss das Atelier eingerichtet sein, verstehen Sie?«
»Certo!« Die Aussicht, ihrer Nichte tüchtig viel Arbeit aufhalsen zu können, schien Emilias Laune zu heben. »Natürlich verstehe ich das. Fania wird Ihnen helfen. Ich werde sie gleich rufen. Sie kann hier etwas essen und dann rübergehen.«
»Das wäre schön.« Angela wandte sich zur Tür. »Und ab Montag erwarte ich sie wie immer um neun in der Seidenvilla. Va bene? «
»Signora …«
»Ja, Emilia?«
Die sonst so resolute Köchin nestelte verlegen an ihrer Schürze. »Am Montag fährt Fania wieder nach Hause zu ihrer Mutter.«
»Warum denn das? Ist das ihr eigener Wunsch?«
»Nein, natürlich nicht. Wenn es nach ihr ginge, würde sie hier mit Ihrer Tochter noch ewig herumsitzen und das Baby schaukeln.« Emilias Augen blitzten aufgebracht. »Meine Nichte ist … nun ja, ich hatte Grund, sie zurechtzuweisen. Sie nimmt sich zu viel heraus. Und daran … mi scusi , tragen auch Sie eine gewisse Schuld, Signora.« Emilia holte tief Luft und warf Angela einen prüfenden Blick zu, als fürchtete sie, zu weit zu gehen. »Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich weiß, wovon ich spreche. Sie waren zu freundlich zu ihr und haben in dem Kind Wünsche geweckt, die nicht erfüllt werden können. Sehen Sie, ich arbeite schon seit vielen Jahren bei Signora Tessa und weiß ihre Großmut zu schätzen. Dennoch kenne ich meine Rolle. Ich werde nicht dafür bezahlt, dass ich Maulaffen feilhalte und so tue, als wäre ich ihre beste Freundin. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben uns beide sehr gern, Signora Tessa hat ein goldenes Herz, und ich würde für sie durchs Feuer gehen, wenn es sein müsste. Aber mein Platz ist in der Küche, im Haushalt, meine Aufgabe ist es, ihr ein anständiges Essen zu kochen und das Haus in Ordnung zu halten. Dafür bekomme ich mein Gehalt. Fania ist noch zu jung, um Ihre Freundlichkeit richtig einzuschätzen zu können. Ihr ist zu Kopf gestiegen, dass sie nur für Nathalie und das Baby da sein sollte. Sie hat außerdem lauter Flausen im Kopf. Wissen Sie, was sie gemacht hat, statt mir zu helfen? In der Bibliothek angefangen, alles umzumodeln, sodass Signora Tessa sich gar nicht mehr zurechtfand. Ach, Signora Angela, ich werde nicht schlau aus dem Kind.«
Emilia sank auf einen Küchenhocker und tupfte sich mit ihrem Taschentuch die Stirn ab. Es war heiß in der Küche, doch Angela begriff, dass es der Streit mit ihrer Nichte war, der ihr so zu schaffen machte.
»Sie haben recht«, sagte sie. »Und ich danke Ihnen für Ihre offenen Worte, ich werde das in Zukunft beherzigen. Aber ich finde, Fania ist ein gutes Mädchen. Wir wollen ihr noch eine Chance geben, nicht wahr?« Emilia schien zu zögern. »Ich brauche sie. Sie haben selbst gesagt, dass ich …«
»Ich habe noch mehr Nichten«, unterbrach Emilia sie störrisch. »Und jede will in den Norden kommen. Das nächste Mal werde ich besser auswählen und …«
»Emilia, seien Sie nicht so hartherzig. So kenne ich Sie gar nicht. Lassen Sie es uns noch einmal mit Fania versuchen. Ich war sehr zufrieden mit ihr. Wirklich.«
»Na gut«, räumte Emilia ein. »Wenn Sie es unbedingt wünschen. Eine Chance bekommt sie noch. Aber, prego , sagen Sie es mir frei heraus, falls Sie nicht zufrieden mit ihr sind. Das müssen Sie mir versprechen. Dann schicken wir sie umgehend zurück nach Hause. E basta! «
Fania hatte ihr kleines Köfferchen bereits gepackt, als Angela in den zweiten Stock des Turms kam, um mit ihr zu sprechen. Wie ein Häufchen Elend hockte sie davor und schluchzte herzzerreißend. Als sie Angela bemerkte, erschrak sie.
»Ich habe mit deiner Tante geredet, Fania.«
Die junge Frau zuckte zusammen. »Zia schickt mich nach Hause«, sagte Fania mit erstickter Stimme.
»Sie hat es sich anders überlegt«, entgegnete Angela sanft. »Wenn du möchtest, kannst du bleiben.«
Fania sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Ist das wahr?«
»Ja«, antwortete Angela. Ein Strahlen ging über das Gesicht der jungen Frau. »Ich brauche dich in der Seidenvilla. Und zwar noch heute.«
Fania nickte. Dennoch wirkte sie, als könnte sie ihrem Glück nicht recht trauen. »Ich … ich darf wirklich bleiben?«
»In deiner ursprünglichen Stellung«, antwortete Angela. »Also ist es gut, dass du gepackt hast. Du wohnst ab jetzt wieder bei deiner Tante und arbeitest bei mir. D’accordo? «
»Und … Nathalie?«
»Die kommt jetzt allein zurecht.« Fania wirkte ernüchtert. »Ich bin dir dankbar, dass du meiner Tochter geholfen hast, Fania. Das hast du sehr gut gemacht. Nun ist dein Platz wieder bei mir.«
»Certo.«
Das klang alles andere als glücklich. Und während Angela der jungen Frau erklärte, wie sie ihr an diesem Samstagnachmittag in der Seidenvilla helfen sollte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass Fania ganz andere Vorstellungen davon hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, als ihre Tante Emilia. Hätte man sie doch nach Hause schicken sollen? Nein, auf keinen Fall. Von dieser Demütigung würde sich Fania vermutlich nur schwer erholen. Vielleicht kann ich ihr ja helfen, ihren Weg zu finden, dachte Angela. Auch wenn ich mir dann vermutlich eine neue Haushaltshilfe suchen muss.