12
Vorahnungen
Der letzte Kilometer war immer der schönste, Angela genoss die Auffahrt zum Stadttor jedes Mal aufs Neue. Die Enge der Gassen in der Altstadt, die Häuser aus Travertin, die an diesem Tag wie pures Gold in der Wintersonne schimmerten, die Piazza della Libertà mit ihrem rumpelnden Kopfsteinpflaster und der Anblick des Kirchturms, der das Städtchen überragte und von fast überall aus zu sehen war – das alles bedeutete für Angela inzwischen, nach Hause zu kommen. Hin und wieder warf sie Romina, die sehr schweigsam geworden war, einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Ob es ihr wohl gefiel? Oder begriff die Venezianerin jetzt erst richtig, was es bedeuten würde, in ein Provinzstädtchen zu ziehen?
Angela bat die Schneiderin auszusteigen, ehe sie den Wagen in der engen Garage, die zur Seidenvilla gehörte, parkte. Sie war voller Vorfreude, als sie das Tor abschloss und sich Romina zuwandte, die mit einem fast schon ängstlichen Ausdruck die Gasse hoch- und runterblickte.
»Da sind wir«, sagte sie und schloss die Tür zum Innenhof auf.
Wie jedes Mal, wenn sie jemanden mitbrachte, der noch nie hier gewesen war, versuchte sie alles zu betrachten, als sähe sie es zum allerersten Mal. Es war früher Mittag, und die Rinde des laublosen Maulbeerbaums schimmerte silbern in der Wintersonne. Auf der Bank saß Mimi und beobachtete aufmerksam eine lärmende Schar Meisen, die in den oberen Ästen der Krone nach den letzten vertrockneten Maulbeeren pickten, nun aber, von den beiden Frauen erschreckt, aufflatterten und sich auf dem Dachfirst über der Weberei niederließen.
Die vier zweistöckigen Flügel der Villa, die den Innenhof umschlossen, wirkten mit ihren umlaufenden Galerien hinter den steinernen Säulenbögen fast wie ein Kloster, schlicht und doch in den Proportionen ausgewogen. Romina war aus Venedig sicherlich prächtigere Bauten gewohnt, trotzdem war ihr anzumerken, wie beeindruckt sie war.
»Die Schneiderei ist erst im Aufbau«, brach Angela das Schweigen, während Mimi sich Romina neugierig näherte. »Bislang gibt es einen Raum, der notdürftig ausgestattet ist. Ich würde das Atelier gern gemeinsam mit dir einrichten, damit es genau so ist, wie es sein muss.«
Romina wirkte überrascht. »Wir fangen also bei Adam und Eva an?«
»Nicht ganz.« Angela hoffte inständig, dass sie die erfahrene Schneiderin nicht vergraulte. »Ich habe Anfragen für die nächsten sechs Monate und auch schon entsprechende Entwürfe. Was mir bislang fehlte, war jemand, der sie umsetzen kann. Was ich entwerfe, ist anspruchsvoll. Ich leite die Weberei und kann auf Dauer nicht jedes einzelne Modellkleid selbst anfertigen. Aber ich habe eine fantastische Näherin, die jahrelang Brautkleider in Handarbeit verziert hat.« Sie warf Romina einen prüfenden Blick zu. »Du hättest die Chance, dir hier den idealen Arbeitsplatz zu schaffen.«
Romina seufzte und beugte sich zu Mimi hinunter, die um ihre Beine strich. »Den idealen Arbeitsplatz hatte ich«, sagte sie wehmütig und nahm das Kätzchen hoch, so als wären die beiden längst beste Freunde. Angela staunte darüber, wie willig das sonst eher widerspenstige Tier sich in Rominas Arm schmiegte. »Aber gut. Jammern hilft nichts. Willst du mir den alten Kasten mal von innen zeigen?«
Sie führte Romina zuerst durch die Weberei, denn sie hoffte, der Anblick der herrlichen Stoffe würde die an kostbare Materialien gewöhnte Schneiderin am ehesten begeistern. Und tatsächlich verfehlten die Proben, die Angela aus dem Schrank holte, ihre Wirkung nicht. Auch der omaccio schien Romina zu faszinieren. Stefano hatte seine Arbeit an einem wunderschönen Petrolton für eine neapolitanische Villa während der Weihnachtsferien ruhen lassen, und als Angela das schützende Leintuch anhob, brachte die Mittagssonne das Webstück zum Funkeln. Am meisten allerdings begeisterten Romina die Jacquard-Stoffe, die Nicola gefertigt hatte.
»Solche Muster hab ich noch nie gesehen«, gestand sie, als Angela ihr die Proben zeigte, die Nicola bislang für das geplante Musterbuch fertiggestellt hatte. »Was man daraus alles nähen könnte …«
Angela atmete insgeheim auf. Hatte Romina Feuer gefangen? Nun wagte sie es, ihr das provisorische Schneideratelier samt Abstellraum zu zeigen und gemeinsam mit ihr zu überlegen, wie sie diese Räumlichkeiten am besten nutzen könnten.
In der Färberei war Romina die Aufmerksamkeit in Person. Als Angela den Rundgang im Laden beendete und Romina aufforderte, sich in aller Ruhe anzusehen, was immer sie wollte, auch wenn sie jedes Regal ausräumen würden, tat sie das mit Hingabe.
»Ich erkenne vier verschiedene Charaktere«, sagte sie, nachdem sie mit großem Sachverstand fast die Hälfte der Ware geprüft hatte. »Jemand liebt es, Materialien miteinander zu kombinieren.«
»Das ist Anna«, bestätigte Angela.
»Andere Stoffe sind weich und anschmiegsam.«
»Maddalena.«
»Dann haben wir hier diese ungewöhnlich schönen graphischen Muster, Streifen und Karos in allen Varianten. Sie fühlen sich auch anders an, irgendwie fester.«
»Nola.« Angela konnte nicht umhin, Romina für ihr gutes Auge zu bewundern.
»Aber da sind ein paar wenige Tücher, die ganz besonders sind«, fügte die Schneiderin hinzu und nahm vorsichtig eines der letzten Stücke aus dem Regal, das Lidia gewoben hatte. »Leicht. Knisternd. Und ein wenig kühl. Ideal für elegante Kleider.«
Angela seufzte. Wieder sah sie Lidia hinter der Supermarktkasse vor sich. Was für eine Verschwendung. Auf einmal kam ihr ein verwegener Gedanke. Oder war er das überhaupt nicht? Was, wenn Lidia in die Seidenvilla zurückkehrte?
»Diese Weberin hat uns leider verlassen«, sagte sie schließlich und versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Die anderen würden vermutlich niemals damit einverstanden sein, zu sehr hatte Lidia sie alle vor den Kopf gestoßen.
»Wie schade.«
Romina berührte mit den Fingerspitzen behutsam die fuchsiafarbene Stola und legte sie mit Händen, die darin geübt waren, mit Stoff umzugehen, rasch zusammen.
Fania hatte inzwischen die Einkäufe aus der Garage geholt, und als sie Angelas Wohnung betraten, duftete es bereits köstlich nach Busiate alla Norma, dem Gericht, das Fania am liebsten zubereitete – spiralförmig gedrehte Nudeln, die sich Emilia regelmäßig direkt aus ihrer sizilianischen Heimat schicken ließ, mit einer typisch sizilianischen Soße aus frischen Tomaten, in Olivenöl gegarten Auberginen und jeder Menge Basilikum.
Nach dem Essen machten sie einen Spaziergang durch die Altstadt, damit Romina einen Eindruck davon bekam, wo sie womöglich in Kürze leben würde. Sie tranken einen Kaffee in der Bar des Hotel Duse, und bei der Gelegenheit checkte Romina gleich in ihr Zimmer ein. Während Angela auf sie wartete, betrat Dario Monti die Bar. Instinktiv wandte sie sich ab, zu sehr nahm sie dem Architekten, der ihr beim Umbau der Seidenvilla behilflich gewesen war, noch immer die Intrige übel, wegen der sich Vittorio im ersten Sommer ihrer Liebe von ihr getrennt hatte. Doch als er sich direkt neben sie an die Theke stellte, sah sie ein, dass es gegen jede Regel der Höflichkeit verstoßen würde, sich ihm nicht zuzuwenden.
»Ciao , Angela«, sagte Dario. »Ich wünsche dir ein glückliches neues Jahr.«
»Danke, Dario«, antwortete sie und musste sich räuspern. »Das wünsche ich dir auch.«
Sie sah ihn an und stellte fest, dass er verlegen wirkte. Er war fast einen Kopf kleiner und fünfzehn Jahre älter als sie, und die kahle Stelle auf seinem Kopf hatte sich vergrößert. Auf einmal tat er ihr leid, wie er so vor ihr stand und offenbar nach den richtigen Worten suchte. Wie war er nur jemals auf die Idee gekommen, sie könnten ein Paar werden? Fausto, der jeden im Ort kannte und darüber hinaus mit allen Geheimnissen und Vorlieben seiner Gäste bestens vertraut war, stellte einen kleinen schwarzen Kaffee vor Monti hin und zwinkerte Angela beruhigend zu.
»Weißt du«, sagte Dario schließlich, »ich warte schon seit Monaten auf eine Gelegenheit, mich endlich bei dir zu entschuldigen.« Er holte tief Atem und blickte sich rasch um, als wollte er sichergehen, dass keiner zuhörte. »Die ganze Sache damals … sie ist mir peinlich. Ich war in dich verliebt, ja, ganz ehrlich. Und ich dachte wirklich, dass du …«
»Es ist gut«, unterbrach Angela ihn sanft. »Lass uns nicht mehr darüber sprechen. Wie geht es dir? Was machen die Aufträge?«
»Oh, alles läuft bestens …«, begann er erleichtert.
Dann wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem in Anspruch genommen. Von jemandem, der sich ihnen aus dem Inneren des Hotels näherte. Romina. Darios dunkle Augen weiteten sich bewundernd, als sie sich zu ihnen gesellte.
»Das Zimmer ist sehr hübsch. Und es hat einen tollen Ausblick.« Romina blickte fragend von Angela zu Dario.
»Darf ich dir vorstellen? Dario Monti, ein Architekt«, sagte Angela. »Und Romina Fulvio ist gerade zu Besuch hier.«
Sie hielt es für angebracht, mit dem Zweck ihres Besuchs noch hinter dem Berg zu halten. Denn in der Bar des Hotel Duse wäre diese Information genauso öffentlich, als hätte sie eine Annonce in die Zeitung gesetzt.
»Piacere.« Dario Montis Augen funkelten. »Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in unserem Städtchen.«
Angela bestellte einen Cappuccino für Romina, die sich erkundigte, welche Art von Häusern er baute, und Monti berichtete bereitwillig von den halb verfallenen Gehöften und Weingütern, auf deren Renovierung und Umgestaltung er sich spezialisiert hatte.
»Ich überlege mir, nach Asenza zu ziehen«, verriet die Schneiderin schließlich. »Vielleicht könnten Sie mir etwas empfehlen. Ich habe ein bisschen was gespart und frage mich gerade, ob ich nicht lieber eine Wohnung oder ein kleineres Haus kaufen sollte, statt etwas zu mieten.«
Angela horchte auf. Das waren gute Neuigkeiten, offenbar hatte Romina sich bereits entschlossen.
»Sie wollen herziehen?« Monti wirkte hingerissen. »Das ist ja großartig! Oh, da finden wir bestimmt etwas Passendes für Sie. Wie ernst ist es Ihnen damit?«
Romina nahm einen großen Schluck von ihrem Cappuccino und schien nachzudenken. Als sie die Tasse abstellte, sah sie Angela an, die ihren Blick lächelnd erwiderte.
»Sehr ernst«, sagte sie und wandte sich Monti zu.
»In diesem Fall sollte ich noch ein paar Details wissen«, meinte er eifrig. »Wo das Gebäude stehen sollte, welchen Stil Sie bevorzugen, und natürlich käme es auch auf die finanziellen Möglichkeiten an. Dafür sollten wir uns einmal etwas länger unterhalten.« Romina strahlte. Es war offensichtlich, dass sich die beiden sympathisch fanden. »Wann wollen Sie denn herziehen?«
Wieder wechselte Romina einen Blick mit Angela. »So bald wie möglich, nicht wahr?«
Angela sah den fragenden Blick des Architekten, und ehe sich in dieser Kleinstadt irgendein Gerücht verbreitete, beschloss sie, mit der Wahrheit herauszurücken.
»Romina wird in der Seidenvilla mitarbeiten«, sagte sie.
Monti riss die Augen auf, sein Blick wanderte neugierig zwischen den beiden Frauen hin und her.
»Sie sind Weberin?«
»Nein, Schneidermeisterin.«
»Wir werden ein Modeatelier eröffnen«, verriet Angela und war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass Fausto, so desinteressiert er auch wirkte, während er seine Gläser polierte, doch kein Wort von dem versäumte, das sie sprachen. »Um Modellkleider aus unserer Seide anzufertigen. Romina ist dafür die perfekte Frau.«
Kurz war Monti sprachlos. Dann nickte er. »Natürlich!«, rief er mit einem Blick auf Rominas Kleidung, die ähnlich ausgefallen war wie an dem Tag, als sie und Angela sich kennengelernt hatten. Zu einem plissierten, weiten Hosenrock in Weinrot trug sie eine senfgelbe Jacke im Kosakenstil mit schwarzen Paspeln. Sie sah darin umwerfend aus. »Warum hab ich das nicht gleich erraten? Sie sind Modemacherin. Das sieht man sofort.«
»Nun«, wehrte Romina geschmeichelt ab, »Modemacherin ist wohl zu hoch gegriffen. Ich kann gut nähen. Wenn es sein muss, nähe ich Ihnen jedes beliebige historische Kostüm.«
Sie lächelte, und wundervolle Grübchen verschönten ihre ansonsten eher unregelmäßigen Gesichtszüge.
»Haben Sie … ich meine, habt ihr beide heute Abend schon etwas vor?«
»Warum fragen Sie?«
»Machen Sie mir die Freude, und essen Sie bei mir zu Abend. Angela wird bestätigen, dass ich ein recht passabler Koch bin.«
»Das stimmt.« Angela musste sich ein Grinsen verkneifen. Damals, als sie nach Asenza gekommen war, hatte Dario sie häufig zum Essen ausgeführt und auch für sie gekocht.
»Dann darf ich mit euch rechnen?« Dario Monti sah erwartungsvoll von Romina zu Angela. »Um acht?«
»Ich muss heute Abend noch ein paar Dinge erledigen«, schwindelte Angela und warf Romina einen ermutigenden Blick zu. »Aber dir würde ich raten, dir diese Einladung auf keinen Fall entgehen zu lassen. Dario ist ein wundervoller Koch.«
Romina betrachtete sie einen Moment lang unsicher. »Ist … ist dir das wirklich recht?«
»Aber natürlich. Und wenn Dario dir helfen kann, eine Wohnung oder gar ein Haus zu finden, wäre das doch fantastisch.«
Täuschte sie sich, oder hatte es zwischen den beiden bereits gefunkt? Wie auch immer, Angela hoffte, dass Dario nicht eine weitere Enttäuschung für Romina werden würde.
Über die Vertragsbedingungen waren Angela und Romina sich rasch einig. Das finanzielle Angebot nahm die Schneiderin, ohne zu verhandeln, an, ja, sie wirkte sogar angenehm überrascht, was Angela erleichterte. Offenbar hatte ihr früherer Lebensgefährte sie recht knausrig entlohnt. Danach widmeten sie sich der Ausstattung des Ateliers, erwogen, die Trennwand zwischen den beiden Räumen herauszunehmen, diskutierten die ideale Deckenbeleuchtung und suchten im Internet die Spezialnähmaschinen heraus, die Romina anzuschaffen empfahl. Im Geiste addierte Angela die Kosten, dabei wurde ihr flau im Magen. Brauchten sie das alles wirklich sofort? Sie gab sich selbst die Antwort: Ja. Denn sie würden von Anfang an hochprofessionelle Arbeit leisten. Und mit diesen Geräten, das sah sie ein, würden Modellkleider auch rascher zu nähen sein. Die Investition würde sich lohnen.
Es war schon dunkel, als sie sich beide erschöpft, aber glücklich zurücklehnten und fanden, dass es für diesen Tag genug war.
»Morgen stelle ich dir Mariola vor«, schlug Angela vor und fuhr den Computer herunter. »Ich bin mir sicher, dass ihr euch versteht. Bei uns herrscht ein fast schon familiäres Klima, in der Weberei geht es anders nicht, sonst gelingen die Stoffe nicht.«
Romina nickte. »Ja, das Betriebsklima ist nicht zu unterschätzen«, erwiderte sie düster. »In Enzos Laden waren wir fünfunddreißig, davon neunundzwanzig Frauen. Enzo hatte immer wieder wechselnde Lieblinge. Er dachte wohl, wenn er uns gegeneinander ausspielt, strengen wir uns alle mehr an.« Sie lachte bitter auf. »Stattdessen fehlte nicht viel, und wir hätten uns gegenseitig umgebracht. Zwar hatte ich eine Sonderrolle als seine Lebensgefährtin, jedenfalls dachte ich das lange. Gerade deshalb hassten mich die anderen.« Sie stand auf und schlüpfte in ihre Jacke. »Ich hoffe, hier geht es anders zu.«
»O ja«, beeilte Angela sich zu beteuern und erhob sich ebenfalls. »Natürlich gibt es immer mal Meinungsverschiedenheiten, doch die bekommen wir schnell in den Griff. Die meisten meiner Weberinnen und Weber kennen sich schon lange. Wir hier in der Seidenvilla, wir halten zusammen.«
Als sie den Innenhof durchquerten, fiel Angela ein, dass Romina an diesem Tag gar nicht gehustet hatte. Vielleicht lag das ja tatsächlich an der guten Luft in Asenza.
»Ich begleite dich noch zum Hotel«, schlug sie vor und sah auf ihre Armbanduhr. »In einer Stunde holt Dario dich ab.«
»Das brauchst du nicht. Es sind ja nur zweihundert Meter.« Am Tor blieb sie noch einmal stehen. »Dieser Dario Monti«, begann sie und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ist er … ich meine, hat er eine Frau?« Sie wirkte verlegen.
»Soviel ich weiß, nicht«, antwortete Angela. »Wir hatten zwar in letzter Zeit … nun ja, nicht mehr so viel Kontakt. Aber wenn Dario in einer Beziehung wäre, hätte ich das bestimmt erfahren.« Sie lachte. »Eines muss dir klar sein: Asenza ist wie ein Dorf. Jeder weiß alles von jedem.« Jedenfalls fast, fügte sie in Gedanken hinzu und dachte an das Geheimnis um ihren Vater.
»Ach, glaub bloß nicht, das wäre in Venedig anders«, gab Romina lachend zurück. »Da sind die Kreise letztlich auch recht klein, und jeder kennt jeden.« Sie stemmte die Hände in die Taschen ihrer Kosakenjacke und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Wer hätte noch vor einer Woche gedacht, dass ich hier landen würde. Bis ich dich traf, wusste ich nicht mal, dass es einen Ort namens Asenza überhaupt gibt. Na ja. Dann geh ich mal, mich ein wenig schönmachen.«
»Überhaupt nicht notwendig«, bemerkte Angela, während sie sich zum Abschied auf beide Wangen küssten. »Du bist auch so die eleganteste Frau weit und breit.«
Es war sieben Uhr abends, und Angela widerstand dem Pflichtgefühl, das ihr einflüstern wollte, auf der Stelle die von Fania sorgfältig gesammelte Post durchzusehen. Sie war müde und hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Und doch war da ein seltsam bohrendes Gefühl, so als hätte sie irgendetwas übersehen, etwas Wichtiges. Sie überlegte hin und her, ging sogar ihre Notizen für Rominas Arbeitsvertrag noch einmal durch, was das anbelangte, war allerdings alles in bester Ordnung. Was also stimmte nicht?
Sie rief Vittorio an, der überglücklich von seinem Nachmittag mit Nathalie und Amadeo berichtete. Davon, wie froh er sei, endlich seine Angst überwunden und sich Sofias Bildern gestellt zu haben.
»Und weißt du was? Es tut überhaupt nicht mehr weh.« Angela atmete auf. Erleichtert lauschte sie der Stimme ihres Geliebten. »Drei der Gemälde habe ich gleich mit ins Loft genommen, Nathalie hat geholfen, sie auszusuchen. Amadeo findet auch, dass sie einen tollen Geschmack hat, na ja, das hat sie von ihrer Mutter.« Er lachte glücklich, und sie stimmte mit ein. Dennoch hatte sie den Eindruck, dass irgendwo Unheil drohte. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich sie aufhänge?«
»Aber nein«, versicherte sie. »Ich fand die Wände in letzter Zeit tatsächlich etwas kahl. Ist mit Tess alles in Ordnung?«
»Ja. Willst du sie sprechen? Ich bin gerade bei Tizi und Sol …«
Sie sprach kurz mit jedem Einzelnen. Alle waren fröhlich und versicherten ihr, dass es ihnen gut ging. Falscher Alarm, sagte sie zu sich selbst, als sie das Gespräch beendete. Ihre Unruhe wurde sie jedoch nicht los.
Sie verließ endlich das Büro und ging hinauf in ihre Wohnung. Der riesige Christbaum im Maulbeersaal verströmte seinen harzigen Duft. Ihr Blick fiel auf den Marc di Lorenzo, den Fania auf der Küchentheke hatte stehen lassen. Da wurde ihr bewusst, dass sie ihrem Vater noch gar nicht ein gutes neues Jahr gewünscht hatte.
Es war noch nicht zu spät für einen Besuch, ein Spaziergang würde ihr guttun, und so schlüpfte sie rasch in die bequemste Jeans und zog ihre Laufschuhe an. Auf der Piazza della Libertà stand wie immer um diese Zeit eine Menschengruppe vor dem Hotel Duse beisammen, die Stimmung erschien ihr ungewöhnlich bedrückt. Sie achtete nicht darauf, an diesem Abend war ihr nicht mehr nach Dorfklatsch. Zügig stieg sie die steile Gasse hinauf zur Kirche und überquerte den Platz davor.
Das große Tor, sonst immer geschlossen und mit einem Nummerncode gesichert, war sperrangelweit auf. In der Auffahrt standen Menschen, die Angela noch nie gesehen hatte, und auf einmal wusste sie, dass etwas passiert war. Auch die Haustür war offen und der Palazzo hell erleuchtet wie zu einem Fest.
Angela begann zu rennen. Sie hörte, wie jemand »Was will denn die hier?« fragte, und achtete nicht darauf. Im Foyer entdeckte sie Matilde, die Haushälterin. Sie weinte haltlos.
»Was ist passiert?« War das ihre Stimme, so fremd und keuchend?
Dottore Spagulo kam den prächtigen Treppenaufgang aus hellem und dunklem Marmor herunter, seinen Arztkoffer in der Hand. Alles schien sich zu verlangsamen, Angela kam es so vor, als bewegte sich der Dottore in Zeitlupe auf sie zu.
»Signor Rivalecca ist gestorben«, sagte er. »Vor ungefähr einer Stunde.« Der Arzt betrachtete sie forschend. »Ich weiß, Sie haben sich um den alten Herrn gekümmert. Er hat nicht leiden müssen«, fügte er hinzu, tätschelte ihr den Oberarm und wandte sich einem großen, dicken Mann mit teigigen Gesichtszügen zu, den Angela noch nie gesehen hatte.
»Er liegt oben«, flüsterte Matilde. »Möchten Sie ihn sehen?«
Wie betäubt folgte Angela ihr die Treppe hinauf. Hinter sich hörte sie Stimmen, wieder fragte jemand, wer sie überhaupt sei und was sie hier zu suchen hätte. Ich bin seine Tochter, dachte sie, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass niemand davon Kenntnis hatte, nicht einmal Matilde. In den Augen der anderen war sie eine Fremde.
Die Haushälterin öffnete eine Tür, und das Erste, was Angela sah, war ein riesiges Bett mit einem Baldachin aus verblichenem Damast. Er musste einmal goldgelb gewesen sein, und mit Sicherheit war er in der Seidenvilla gewoben worden. Ein muffiger Geruch nach Alter und Einsamkeit hing in der Luft. Ihr Vater lag auf dem Bett, ein seidener Überwurf bedeckte ihn bis über die Brust. Sein Gesicht war von einem wächsernen Weiß, die Augen geschlossen, seine Nase schien sich noch stärker abzuheben als je zuvor. Angela sank auf den Stuhl, der neben dem Kopfende stand, und legte ihre Hand auf seine Hände, die auf der Brust übereinanderlagen, so als wollte er gerade jemandem seine Liebe gestehen. Sie waren kühl, jedoch nicht kalt.
Das ihr so vertraute ironische Lächeln lag um seinen Mund, und wäre nicht diese vollkommene Ruhe, das Fehlen von Atem und Puls gewesen, Angela hätte glauben mögen, dass er jeden Augenblick seine listigen Augen öffnen und irgendeine unerwartete Bemerkung machen würde. Als ihr klar wurde, dass dies nie wieder geschehen würde, kamen endlich die Tränen, und sie ließ ihnen freien Lauf.
Wie lange sie so dasaß, wusste sie später nicht mehr, Matilde hatte sie allein gelassen. Doch auf einmal ging polternd die Tür auf, und der Mann aus dem Foyer kam herein.
»Hier ist er«, sagte er viel zu laut, und Angela schreckte auf.
»Wer sind Sie?«, fragte sie und erhob sich.
Der Mann betrachtete sie feindselig aus blassblauen Augen über tief hängenden Tränensäcken. Hinter ihm erkannte sie den örtlichen Leichenbestatter.
»Sagen Sie mir lieber, was Sie hier verdammt nochmal verloren haben.«
»Signora Steeger hat oft nach ihm gesehen«, hörte sie Matildes Stimme vom Flur.
»Ja«, sagte er. »Und ihm dabei so manches abgeschwatzt.«
Angela erstarrte. Dann wandte sie sich ab und trat noch einmal an das Totenbett ihres Vaters. Mit diesem schrecklichen Menschen würde sie sich auf keine Diskussion einlassen. Jetzt kommt die bucklige Verwandtschaft, meinte sie ihn raunen zu hören, achte nicht auf ihn. Sie fuhr ihrem Vater kurz über die Stirn, berührte seinen Scheitel.
»Ich hab dich lieb«, flüsterte sie so leise, dass nur er es hören konnte, und verließ das Zimmer.
»Das ist Guglielmo Sartori«, raunte Matilde ihr draußen auf dem Flur zu. »Signora Lelas Großneffe. Die beiden haben sich zu ihren Lebzeiten überworfen, Signor Rivalecca konnte ihn nicht ausstehen. Aber jetzt ist er natürlich der Erbe.«
Natürlich. Es war zu spät, um Ansprüche zu stellen, und sie hatte auch keine.
Wie im Traum ging sie die Treppe hinunter. Sie war eine Fremde für die, die nach Lorenzo kamen. Noch einmal sah sie sich in dem großen Foyer um, warf einen letzten Blick in das Herrenzimmer, dessen Tür offen stand und in dem sich bereits die beiden Frauen, die kurz zuvor noch unschlüssig vor dem Haus gestanden hatten, habgierig umsahen. Dann verließ sie den Palazzo in der Gewissheit, nie wiederzukommen, ging über den Kiesweg zum Tor und drehte sich nicht mehr um.
Auf dem Kirchplatz blieb sie stehen, und auf einmal kam das große Weinen. So vieles hatte sie ihren Vater noch fragen wollen und nie daran gedacht. Wir leben, als wären wir unsterblich, fuhr es ihr durch den Kopf. Obwohl doch gerade sie ganz genau wusste, wie zerbrechlich ein Menschenleben war. Der Winterhimmel über dem Kirchplatz war sternenklar. Als sie nach einer Weile etwas ruhiger wurde, entdeckte sie im Osten den Fixstern Sirius und darüber das Sternbild des Orion. Sie zwang sich, mehrere Male tief ein- und auszuatmen, bis ihr Schluchzen verebbte. Ihr Blick glitt über den Friedhof, und auf einmal glaubte sie, dort beim Grab der Lela Sartori eine hochgewachsene, etwas gebeugte Gestalt zu sehen, die über die Stadt in Richtung Süden starrte, so wie damals, als sie Lorenzo Rivalecca zum ersten Mal begegnet war. Ungläubig blinzelte sie, und als sie wieder hinsah, war da nichts mehr.
Eine Täuschung. Oder auch nicht.