14
Gerede
Am Montag saß sie schon um acht Uhr in ihrem Büro und rief den überraschten Glaser an, um dieselbe Scheibe erneut in Auftrag zu geben. Bei der Gelegenheit erkundigte sie sich bei ihm, ob er von ähnlichen Vorfällen in Asenza oder in der Umgebung gehört hätte. Der Handwerker wusste von keinen weiteren mutwillig zerbrochenen Scheiben.
Als Fania kam, rief sie sie zu sich und bereitete sie auf das Chaos im Maulbeersaal vor, damit sie sich nicht erschreckte. Dann zwang sie sich, den Zwischenfall auszublenden und sich ihrer Arbeit zu widmen.
Sie blätterte durch die anstehenden Projekte und sah ihr E-Mail-Postfach durch. Zwischen zahlreichen Weihnachtsmails und guten Wünschen zum neuen Jahr fand sie ein herzliches Dankesschreiben von Ruggero. Seine Mutter sei hingerissen von dem Seidentuch, das sie in letzter Minute geschickt hatten. Donatella hatte ihr außerdem eine Auswahl an Fotos gemailt, die sie auf dem Wohltätigkeitsball zeigten. Angela musste lächeln, als sie sie betrachtete. Die Marchesa Colonari wirkte auf ihnen wie ein Star unter grauen Mäusen, obwohl auch ihre illustren Gäste angemessen und durchweg teuer gekleidet waren. Auf einem der Bilder entdeckte sie Costanza in einem eierschalenfarbenen Kleid, zu dem die wundervolle Seidenstola mit eingewobenem Familienwappen perfekt gepasst hätte, die Angela ihr zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Stattdessen trug sie eine helle Pelzstola, womöglich ein Silberfuchs, das war auf dem Foto nicht genau zu erkennen.
Angela schloss die Fotodatei und seufzte. Costanza würde sie niemals akzeptieren, und das Beste wäre, sie würde sich damit abfinden.
»Alles Gute zum neuen Jahr.« Sie schreckte auf. Fioretta war hereingekommen und hängte ihren Mantel an den Haken neben der Tür. Und ehe sie sich bedanken und die guten Wünsche erwidern konnte, fügte ihre Assistentin hinzu: »Es tut mir so leid.«
»Was denn?«
»Na, ich weiß doch, wie sehr du Signor Rivalecca gemocht hast. Jeder weiß das. Und deshalb …«
»Danke, Fioretta.« Angela musste sich räuspern und tat so, als müsste sie die Ordner auf ihrem Schreibtisch umräumen, damit ihre Mitarbeiterin ihre feuchten Augen nicht sah. »Das ist sehr nett von dir. Wie bist denn du ins neue Jahr gekommen?«
Fioretta ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Sie wirkte niedergeschlagen. »Ach …« Angela erkannte bestürzt, dass ihre Assistentin mit den Tränen kämpfte. »Ich hatte schon schönere Silvesterfeiern.«
»Was ist passiert?«
Ehe Fioretta antworten konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und Carmela schleppte sich an ihren Stöcken herein. Die zierliche alte Frau wirkte zerzaust und war völlig außer Atem. Fioretta sprang auf und bot ihr ihren Platz an.
»Sie müssen etwas unternehmen!«, keuchte Carmela und ließ sich grußlos auf den Stuhl fallen. »Jemand muss diesen Bastard in seine Schranken weisen.«
»Guten Morgen, Signora Carmela.« Angela wechselte einen bestürzten Blick mit Fioretta. »Was ist denn geschehen? Von wem sprechen Sie?« Und doch hatte sie bereits eine gewisse Ahnung, wen sie meinen könnte.
»Dieses Stinktier von einem Guglielmo will mich aus dem Weinberghäuschen werfen«, stieß sie hervor. »Nicht dass ich mit dem Wicht nicht allein fertigwerden könnte«, beeilte sie sich zu versichern und reckte sich zu ihrer vollen, wenig beeindruckenden Höhe auf. »Aber schließlich sind Sie die Eigentümerin.« Sie schob sich ihre Brille zurecht und blickte Angela forschend an. »Das sind Sie doch hoffentlich, oder?«
Angela nickte, und dennoch war auch sie besorgt. Sicher. Ihr Vater hatte ihr das Weinberghäuschen geschenkt, damit sie es an Carmela vermieten konnte, die wegen ihrer kaputten Hüften so dringend eine Wohnung zu ebener Erde brauchte. Jedenfalls hatte er das gesagt. Ob die kleine Immobilie allerdings offiziell auf sie überschrieben worden war, darum hatte sie sich nie gekümmert.
»Ist Signor Sartori gerade in Asenza?«, fragte Angela.
Carmela nickte so heftig, dass ihr beinahe die Brille von der Nase gerutscht wäre. »Er ist oben im Palazzo«, knurrte sie und verzog verärgert das Gesicht. »Dabei geht das nicht, solange der Nachlass noch nicht geregelt ist. Signora Angela, Sie sind ein guter Mensch. Jemand muss diesem Mann Einhalt gebieten. Ich bitte Sie, stehen Sie der alten Carmela bei.«
Angela erhob sich. Carmela hatte recht. Allein wenn sie daran dachte, wie sehr sich ihr Vater aufregen würde, wüsste er, dass dieser mit Sicherheit wenig geliebte Verwandte seiner Frau, sei er nun Erbe oder nicht, in seinem Haus ein und aus ging, Schränke durchwühlte und Gegenstände wegtrug, war ihr klar, dass sie einschreiten musste.
»Dann werden wir ihm mal einen Besuch abstatten«, erklärte sie und griff nach ihrem Mantel.
»Seht euch vor diesem Menschen vor.« Fioretta wirkte besorgt. »Man erzählt sich nicht viel Gutes von ihm.«
Angela nickte und nahm den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche.
»Lassen Sie uns den Wagen nehmen«, schlug sie Carmela vor, die sich mühsam erhob. Offenbar hatte sich ihr Hüftleiden in den letzten Tagen verschlechtert.
»Ja.« Carmela seufzte dankbar. »Schließlich wollen wir noch vor dem Mittagessen oben am Palazzo ankommen, vero? « Ein listiges Grinsen erschien auf ihrem faltigen Gesicht. »Außerdem macht das mehr Eindruck, wenn wir mit dem Wagen vorfahren.«
Es waren zwar nur ein paar hundert Meter, und doch hätte Carmela die Steigung zwischen der Piazza della Libertà und dem Palazzo Duse oben auf dem Berg nur schwer bewältigen können. Während Angela den Wagen an der Friedhofsmauer abstellte und der alten Frau heraushalf, sah sie hinüber zum Anwesen ihres Vaters. Das schmiedeeiserne Tor des Palazzos stand offen. Ein Lieferwagen, der schon bessere Tage gesehen hatte, parkte in der Auffahrt.
»Das ist Guglielmos Klapperkiste«, zischte Carmela und stützte sich auf ihre Stöcke. Vor Wut war sie ganz bleich geworden.
»Möchten Sie lieber hier warten?« Angela machte sich Sorgen um sie.
»Auf keinen Fall«, entgegnete Carmela entschlossen und begann, zur Einfahrt zu humpeln.
Sie hatten die Freitreppe zur Eingangstür noch nicht erreicht, als Guglielmo Sartori erschien, die alte Kaminuhr aus dem Herrenzimmer im Arm. Beim Anblick der beiden Frauen stockte er.
»Was habt ihr hier zu suchen?«, blaffte er sie an.
»Das möchte ich gern von Ihnen wissen«, gab Angela zurück. Der Mann reizte sie, seine ganze selbstgefällige Erscheinung. Und der Anblick von Lorenzos Uhr gab ihr den Rest. »Soweit ich weiß, ist der Nachlass von Signor Rivalecca noch nicht offiziell geregelt«, fügte sie hinzu. »Wie kommen Sie dazu …«
»Was geht Sie das an?« Guglielmo verstaute die Uhr im Lieferwagen, dann wandte er sich ihr angriffslustig zu. Carmela dagegen ignorierte er. »Hören Sie«, sagte er unfreundlich, »mir ist durchaus bekannt, dass Sie sich bei meinem Großonkel eingeschleimt haben. Welche Mittel Sie dazu eingesetzt haben, darüber muss man wohl nicht lange nachdenken.« Er starrte ihr anzüglich auf den Busen, worauf sein unverschämter Blick an ihrem Körper entlang nach unten glitt. Angela fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg vor Wut. »Womöglich haben Sie sich eingebildet, der alte Narr würde sich noch dazu hinreißen lassen, Sie auf seine letzten Tage zu heiraten.« Er lachte ein hässliches Lachen.
»Du Schweinehund!«, krächzte Carmela und drohte mit ihrem Stock. »Was hast du nur für schmutzige Gedanken!«
»Na, das liegt doch auf der Hand«, höhnte Guglielmo. »Aber Sie werden sich noch wundern, tedesca «, fuhr er mit finsterer Miene an Angela gewandt fort. »Er kann nicht bei Trost gewesen sein, als er Ihnen die Seidenvilla zu diesem Spottpreis verkauft hat. Nein, Ihr Geschwätz können Sie sich sparen, bei mir verfängt das nicht. In den Kaufunterlagen steht alles schwarz auf weiß. Und wissen Sie was? Das wird Sie noch teuer zu stehen kommen. Ich werde Sie nämlich verklagen. Denn dass der Alte in den letzten Jahren nicht mehr ganz richtig im Kopf war, das weiß ganz Asenza. Ich werde diesen Kauf anfechten und die Seidenvilla zurückbekommen.« Er grinste hämisch und fixierte Carmela. »Und du, alte Vettel, hast wohl gedacht, du bringst Verstärkung mit, was? Da hast du dich geschnitten, alte Hexe. Ich gebe dir eine Woche, deinen Krempel zu packen. Und komm mir nicht mit dem Märchen, das Weinberghäuschen gehöre dieser sauberen Dame hier. Das Weinberghäuschen gehört mir, so wie alles andere auch.«
»Das tut es nicht«, schrie Carmela außer sich. »Ich stehe in der Erbfolge in genau derselben Reihe wie du. Das weißt du ganz genau.«
»Nur dass du das nicht beweisen kannst, figlia di puttana
»Das werden wir schon noch sehen, stramaledetto
»Cretina!«
»Pezzo di merda!«
»Kommen Sie, Carmela«, mahnte Angela. »Wir werden uns hier nicht länger beschimpfen lassen, sondern anderswo unser Recht suchen.«
Carmela jedoch ließ noch nicht so schnell von ihrem verhassten Verwandten ab, tauschte noch einige malerische Schimpfwörter mit Guglielmo, ehe es Angela gelang, sie zum Wagen zu führen.
Sie fuhr die aufgebracht vor sich hin murmelnde Frau nach Hause und beschloss, sofort zu handeln. Ihr war plötzlich eingefallen, dass sie ja Davide Bramante, den Kämmerer der Stadt, aus ihrer allerersten Zeit in Asenza recht gut kannte. Damals hatte sie mit ihm und Dario Monti ab und zu Tennis gespielt, und sie wechselten jedes Mal ein paar Worte miteinander, wenn sie sich im Hotel Duse sahen. Als sie jetzt seine Sekretärin bat, einen kurzfristigen Termin bei ihm zu bekommen, war das kein Problem.
»Was hast du auf dem Herzen, Angela?«, fragte der Kämmerer, nachdem sie sich nach seiner Familie und dem chronischen Leiden in seiner rechten Schulter erkundigt hatte. »Suchst du einen Tennispartner? Tut mir leid, ich kann seit Längerem nicht mehr spielen.«
Angela schüttelte seufzend den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wie ich beginnen soll«, gestand sie. »Ich habe zwei Fragen, und ich hoffe, du kannst mir helfen. Zum einen hat mir mein … ich meine, Lorenzo Rivalecca …« Sie biss sich auf die Unterlippe. Beinahe hätte sie sich verplappert. »Er hat mir im vergangenen Jahr das Weinberghäuschen in der Via del Monte Grappa überlassen, damit ich es an Carmela Ponzino vermieten konnte. Carmela ist ja die Mutter einer meiner Weberinnen, und sie ist so schlecht zu Fuß. Er wollte sich damit nicht abgeben und hat mir erlaubt, mich darum zu kümmern, hat sogar gesagt, er wolle mir das Häuschen schenken, was ich aber nicht ernst genommen habe. Nun ja, jetzt spielt sich dieser Guglielmo Sartori als sein Erbe auf und will Carmela aus dem Häuschen werfen.« Sie holte tief Atem und blickte Davide verlegen an. »Ich habe keine Ahnung, ob Signor Rivalecca das damals nur so gesagt hat oder ob er mir tatsächlich … Ich meine … Kannst du für mich herausfinden, ob mir das Weinberghäuschen gehört oder nicht?«
Davides Augen waren immer größer geworden. Offenbar fragte er sich, warum der als geizig verschriene Lorenzo Rivalecca so etwas getan haben sollte.
»Da müssen wir uns ans Katasteramt wenden«, sagte er schließlich. »Das kann ich natürlich für dich übernehmen, kein Problem, obwohl es nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fällt.« Er betrachtete sie verwundert. »Erlaube mir eine Frage: Warum sollte Rivalecca dir das Häuschen geschenkt haben?«
»Du weißt ja, wie er war«, meinte Angela. »Er hatte die seltsamsten Einfälle. In diesem Fall ging es um Carmela. Soweit ich weiß, hat sie sich als Angestellte von Lela Sartori die Gesundheit ruiniert. Offenbar hat Lela keine Sozialbeiträge für ihre Weberinnen einbezahlt, deshalb bezieht Carmela außer ihrer Witwenpension keine Rente. Sie lebte all die Jahre mit ihrer Tochter in einer Dachwohnung. Aber nachdem ihre Hüften so schlimm wurden, kam sie nicht mehr die Treppe herunter. Ich fand, dass das ein untragbarer Zustand war, und bat Rivalecca darum, sie in dem Häuschen unterzubringen, immerhin stand es leer. Da hat er gesagt, er schenkt es mir zu diesem Zweck.« Sie holte tief Luft und presste kurz die Lippen aufeinander. »Mir ging es nie darum, das Häuschen zu besitzen«, fügte sie rasch hinzu und hoffte, dass Davide sie nicht ebenfalls der Raffgier bezichtigte, so wie Guglielmo dies offenbar tat. »Ihre Miete deckt gerade die Unkosten. Mein Anliegen war, dass Carmela ein passendes Zuhause bekam. Als Nachfolgerin von Lela Sartori, für die sie gearbeitet hat, fühle ich mich moralisch dazu verpflichtet und …«
»Ich verstehe vollkommen«, unterbrach Davide sie. »Zu Signor Rivaleccas Lebzeiten erschien dir nicht wichtig, ob es dir gehört oder nicht. Aber jetzt spielen die Eigentumsverhältnisse eine Rolle, die privaten Absprachen, die ihr getroffen habt, sind natürlich hinfällig.« Angela nickte dankbar, und Davide machte sich eine kurze Notiz. »Und deine zweite Frage?«
»Vermutlich geht es mich nichts an«, erklärte Angela und betrachtete die Luftaufnahme von Asenza, die hinter Davides Schreibtischstuhl an der Wand hing. »Ich wüsste trotzdem gern, wie das nach einem Todesfall korrekterweise vonstattengeht. Kann der vermeintliche Erbe sofort über den Nachlass schalten und walten, wie er will? Kann er Dinge aus der Erbmasse abtransportieren und Mietern des Verstorbenen kündigen? Muss er denn nicht abwarten, bis er als Erbe offiziell bestätigt wurde?«
»Natürlich muss er das«, antwortete Davide und runzelte die Stirn. »Zunächst wird festgestellt, ob es nicht noch mehr Erben gibt. Ich habe schon gehört, dass dieser Sartori sich genau so aufführt, wie du es beschreibst.«
»Und wieso tut keiner was dagegen? Auch eine junge Mutter mit ihrem Baby ist davon betroffen.«
Davide nickte und hob die Schultern. »Wo kein Kläger …«
»Dann klage ich eben an«, unterbrach Angela ihn aufgebracht. »Ich stand Signor Rivalecca recht nahe. Sartori hat mir vor einer Viertelstunde unterstellt, ich hätte es auf sein Vermögen abgesehen«, fügte sie bitter hinzu. »Er hat mir gedroht, den Verkauf der Seidenvilla anzufechten, denn er hat die Dokumente dazu gefunden und findet den Preis, den ich damals bezahlt habe, zu niedrig. Der Mann ist die Unverschämtheit in Person. Also bitte sei so lieb und sag mir, an wen ich mich wenden muss, damit ihm jemand Einhalt gebietet.«
Davide wirkte betroffen und verlegen zugleich. »Du musst nichts unternehmen, Angela. Ich werde dem Einhalt gebieten. Ich entschuldige mich dafür, dass keiner von Amts wegen bislang eingeschritten ist. Danke, dass du dich für Carmela und für die junge Frau einsetzt, das ist sehr anständig von dir.«
»Das wirst du wirklich tun?« Angela fiel ein Stein vom Herzen. »Danke, Davide.«
»Und was die Sache mit diesem Weinberghäuschen anbelangt … Welche Adresse genau ist das denn?« Er schob ihr Block und Stift herüber, und Angela schrieb sie ihm auf. »Ich werde mich erkundigen. Und keine Sorge«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Ich mach das ganz diskret.«
Am nächsten Tag kam der Glaser und ersetzte die Scheibe. Angela beschloss, sich bei Edda die Spitzen schneiden zu lassen und bei dieser Gelegenheit herauszufinden, was im Städtchen derzeit so geredet wurde. Vor allem interessierte sie brennend, ob sie weit und breit die Einzige war, der man die Scheiben einwarf.
Als sie kurz vor der Mittagspause in den Salon kam, waren die Geschehnisse um den Palazzo Duse Gesprächsstoff Nummer eins.
»Habt ihr schon gesehen?«, ließ sich Signora Belmondo von der pasticceria vernehmen, den Kopf voller Lockenwickler. »Das Tor ist mit einem Schloss gesichert. Heute Morgen hab ich nach dem Grab meiner Schwiegermutter gesehen, und da stand dieser Sartori mit seinem Lieferwagen davor und hat ganz schön dumm aus der Wäsche geschaut.«
»Ja«, bestätigte Dina von der Eisdiele, die in den Wintermonaten im Hotel Duse aushalf. »Er hat sich lauthals beschwert und zwei caffè corretto getrunken. ›Mit extra viel Grappa drin‹, hat er gesagt. Und schrecklich über ein paar Weiber geschimpft, die ihn noch kennenlernen würden …«
»Es war die Polizei, die das Anwesen abgesperrt hat«, glaubte eine alte Dame zu wissen. Sie wartete auf ihre Enkelin, eine pummelige Zehnjährige mit einem Buch vor der Nase, der Edda gerade die feinen Haare schnitt. »Jemand vom Nachlassgericht hat alles ordnungsgemäß versiegelt.«
»Das wurde auch höchste Zeit«, fand die Friseurin und ließ ihre Schere klappern. »Der hat sich vielleicht aufgeführt! Mamma mia, als wäre er der König von Asenza. Wie der mit der armen Carmela umgegangen ist. Nein, das ging einfach zu weit.«
Angela saß ganz still auf ihrem Platz vor einem Spiegel in der hintersten Ecke und spitzte die Ohren. So schnell hatte Davide gehandelt? Oder war es den Behörden langsam von allein zu bunt geworden? Nein, das nahm sie nicht an. Dankbarkeit durchströmte sie.
»Stimmt es eigentlich, dass Carmela mit Lela Sartori verwandt ist?« Es war die Frau des Konditors Carlucci, der das beste Konfekt weit und breit machte, die diese Frage in den Raum geworfen hatte. Eine Weile antwortete niemand. Dann sagte die alte Dame, deren Enkelin Edda eben den Nylonumhang abnahm: »Das habe ich meine Schwester neulich auch gefragt. Aber alles, was sie noch wusste, war, dass sich die beiden spinnefeind waren.«
»Dabei hat Carmela doch für Lela Sartori gearbeitet«, wunderte sich Signora Belmondo. »Sie hat ganz wundervolle Stoffe gewoben. Ich habe noch von meiner Schwiegermutter ein Set Tischwäsche. So etwas Schönes habt ihr noch nicht gesehen.«
»Natürlich hat sie für Lela Sartori gearbeitet. Wo hätte sie denn auch sonst hinsollen? Als Weberin hatte sie nicht viel Auswahl. So richtig zerstritten haben sie sich allerdings wohl erst, als Lela diesen Weinbauern heiratete, Gott hab ihn selig. Schon damals gab es Streit um den Besitz. Aber um was es damals genau ging …«
»Sie sagte jedenfalls neulich, sie sei mit Lela verwandt«, erklärte Signora Belmondo. »Nur ob das stimmt …«
»Immerhin hat Rivalecca sie am Ende in diesem Häuschen in der Via del Monte Grappa einquartiert«, versuchte Edda die Gemüter zu beruhigen. »Auf seine alten Tage wurde er direkt umgänglich. Nicht wahr, Signora Angela?«
Alle Augen wandten sich ihr erwartungsvoll zu. »Ich bin immer recht gut mit ihm ausgekommen«, sagte sie.
»Er hat Ihnen ja wohl auch die Seidenvilla zu ziemlich vorteilhaften Konditionen überlassen«, konnte sich Dina nicht verkneifen zu sagen. »Jedenfalls sagt das Signor Sartori.«
»Und du glaubst, was dieser aufgeblasene Kerl herumerzählt?« Eddas Schere blitzte gefährlich auf, ehe sie sie in ihren Rollständer warf.
»Wir können alle froh sein, dass die Weberei nicht geschlossen wurde«, warf die alte Dame ein, deren Namen Angela nicht kannte. »Die Seidenverarbeitung gehört zur Historie unseres Städtchens. Früher hat fast jeder Haushalt Seidenrauben gezogen, Seide aus Venezien war bekannt in ganz Europa. Es wäre ein Jammer gewesen, hätte Rivalecca das Gebäude an einen Immobilieninvestor verkauft. Ich jedenfalls freue mich jedes Mal, wenn ich am Schaufenster des Ladens der tessitura vorbeigehe.«
Sie erhob sich, nickte freundlich in Angelas Richtung und bezahlte die Rechnung für ihre Enkelin.
»Grazie , Signora Gonzino«, sagte Edda, als sie das Trinkgeld sah, und auf einmal fiel es Angela wie Schuppen von den Augen. Die alte Dame war die Mutter des Buchhändlers, bei dem Fania in die Lehre gehen wollte.
Endlich war auch die letzte Kundin gegangen, und Edda legte Angela schwungvoll den Umhang über die Schulter.
»Das Jahr ist noch so jung«, sagte sie mit einem Seufzen, »und doch ist schon so viel geschehen. Hätten Sie erwartet, dass Signor Rivalecca auf einmal so viele Verwandte hat?«
Edda warf Angela im Spiegel einen halb ironischen, halb forschenden Blick zu, auf den sie lediglich mit einem Schulterzucken und einem unverbindlichen Lächeln antwortete. Wenn die Leute wüssten, dachte sie, und ließ sich von Edda die Haare waschen.
»Mich beschäftigt etwas ganz anderes«, gestand sie, als Edda bereits begonnen hatte, ihr Haar zu stufen. »Mir wurde schon zweimal eine Fensterscheibe eingeworfen, und ich habe keine Ahnung, wer das getan haben könnte.«
»Eine Fensterscheibe?« Edda ließ schockiert die Schere sinken.
»Ja, und zwar zweimal dieselbe. Am Weihnachtsabend. Und vergangenen Sonntagabend schon wieder. Sie wissen nicht zufällig, ob hier im Ort etwas Ähnliches auch woanders passiert ist?«
Edda starrte sie noch immer an. »Unfassbar«, erwiderte sie schließlich und schüttelte den Kopf. »Und das bei uns! Waren Sie bei der Polizei?«
»Der vigile glaubt, dass es Jugendliche waren. Nur … ich weiß nicht so recht. Einmal könnte das ja noch angehen. Aber gleich zweimal so kurz hintereinander?«
»Ich frage mich manchmal, in welchen Zeiten wir eigentlich leben …« Edda seufzte. »Nein«, fügte sie nachdenklich hinzu und begann mit der letzten Stufung. »Mir hat keiner von so etwas erzählt. Das muss natürlich nichts heißen«, fuhr sie rasch fort. »Mein Salon ist ja kein Nachrichtenbüro.« Sie lächelte verschmitzt, kämmte Angelas Haar in Form und kontrollierte, ob beide Seiten gleich lang geraten waren. Aber ein bisschen schon, dachte Angela. Doch das behielt sie lieber für sich. »Allerdings werde ich Augen und Ohren offen halten«, versprach Edda und griff nach dem Föhn.
»Das wäre nett.«
Die Türglocke ging, und Angela erkannte im Spiegel Nicola, der den Friseursalon betrat.
»Bist du fertig, bella ?«, rief er gut gelaunt. Dann erst erkannte er seine padrona , der gerade die Haare getrocknet wurden, und lief über und über rot an.
Ach du Schande, fuhr es Angela durch den Kopf. Sie dachte an Anna und Fioretta, die bis über beide Ohren in ihren Kollegen verliebt waren.
»Subito, amore« , antwortete Edda und warf Angela einen strahlenden Blick zu. »Wir wollen die neue Pizzeria ausprobieren, die neben Gonzino aufgemacht hat. Zur Eröffnung gibt es alles zum halben Preis.« Sie hüllte Angela in eine Wolke aus Haarspray und nahm ihr den Umgang ab. »Wieso hast du mir nicht erzählt, dass bei euch eine Fensterscheibe eingeworfen wurde?« Nicola erschrak und sah von Edda, die rasch die Rechnung ausschrieb, zu Angela und wieder zurück.
»Er wusste es bislang noch nicht«, beruhigte Angela sie und beglich ihre Rechnung. »Es war ein Fenster in meiner Privatwohnung.«
»Wenn ich mir vorstelle, das wäre mir passiert«, plapperte Edda weiter, während sie die Schlüssel für die Ladentür aus ihrer Handtasche holte. »Also falls der sich traut wiederzukommen«, versicherte sie Angela, »erwischen wir den. Stimmt’s, Nicola? Schließlich geht mein Schlafzimmer auf dieselbe Straße raus.«
»Äh … ja«, stotterte er und vermied es, Angela in die Augen zu sehen.
Dass die Stimmung in der Weberei schlecht war, wunderte Angela nun kein bisschen mehr. Fioretta vermied es, in die Werkstatt zu gehen, und vergrub sich verbissen in die Endabrechnung des Weihnachtsgeschäfts und den Jahresabschluss, während Anna mit wenig Schwung an einem Tuch in hellen Frühlingsfarben arbeitete. Nolas Bemerkungen entnahm Angela, dass Nicola bei Edda bereits mehr oder weniger eingezogen war. Maddalena, die das Ganze überhaupt nicht zu interessieren schien, wirkte blass und besorgt. Carmelas Streit mit Guglielmo Sartori ließ natürlich auch sie nicht unberührt. Nur Stefano und Nicola schienen bester Laune zu sein. Bemerkte der Neapolitaner denn wirklich nicht, welche Herzen er gerade brach?
Angela war dabei, die Bestände im Laden zu prüfen, als der Dreiklang der Türglocken ertönte. Eine dunkelhaarige Frau in einem beigen Wollmantel trat ein. Als Erstes fielen Angela die Augen der Kundin auf, groß, fast schwarz und mit einem dunklen Eyeliner betont. Sie sah sich um, als suchte sie etwas. Oder jemanden.
»Buongiorno« , begrüßte Angela die Besucherin. »Möchten Sie sich erst umsehen, oder kann ich Ihnen behilflich sein?«
Die Frau fixierte sie, und auf einmal begriff Angela, dass sie nicht gekommen war, um sich Seidentücher anzusehen. Aber weswegen sonst?
»Ich suche eine Nathalie Steeger«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang rau.
Etwas in ihrer Erscheinung ließ Angela kurz zögern. Die Frau, die Nathalie suchte, mochte Mitte dreißig sein und war von gepflegter Erscheinung, jedoch wirkte sie erschöpft und desillusioniert. Harte Linien hatten sich um ihren vollen Mund gegraben. Und auf einmal kam Angela ein Verdacht.
»Ich bin Nathalies Mutter«, sagte sie.
Die Frau nickte. »Das hab ich mir gedacht, als ich Ihren Namen im Internet gefunden habe. Denn seltsamerweise ist Ihre Tochter aus Padua sang- und klanglos verschwunden.«
»Was wollen Sie von meiner Tochter?«
Die Frau maß sie mit Blicken. »Das würde ich ihr gern selbst sagen«, gab sie zurück. »Falls es stimmt, was ich gehört habe.«
Angela dachte fieberhaft nach. Seit Mariola bei Tess untergeschlüpft war, leistete Nathalie ihr dort Gesellschaft. Ehe sie die Besucherin zur Villa Serena schickte, wollte sie ihre Tochter lieber auf die Begegnung vorbereiten. Denn sie hatte da so eine Ahnung …
»Bitte kommen Sie mit mir, Signora Sembràn«, sagte sie.
Die Fremde zuckte kurz zusammen, und da wusste Angela, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Die Besucherin war niemand anderes als Monica, die Frau von Nathalies Professor. Die Frau von Pietrinos Vater. Offenbar hatte Costanza zu einem weiteren Schlag gegen sie und ihre Tochter ausgeholt.