15
Familiengeheimnisse
Sie führte Signora Sembràn in den Maulbeersaal und bat sie, dort zu warten. Fania, die glücklicherweise gerade nicht in ein Buch versunken war, sondern die Küche aufräumte, wies sie an, Kaffee für die Besucherin zu machen. Dann schlüpfte sie in ihren Mantel und eilte zur Villa Serena.
»Kommen Sie herein«, begrüßte Emilia sie gut gelaunt. »Die Damen sitzen im Salon bei einer guten Tasse Tee. Möchten Sie auch eine?«
Angela verneinte, öffnete die Tür zum Wohnzimmer und blieb erstaunt auf der Schwelle stehen, überrascht von dem Bild, das sich ihr bot.
Während Pietrino in seiner Wippe schlief, saßen Nathalie und Tess auf dem Sofa, in ihrer Mitte Carmela, die zwischen ihnen so zierlich wirkte wie ein Kind. Ihre Beine reichten nicht bis auf den Boden, ihre schmale Gestalt, die Angela mehr denn je an ein mageres Vögelchen erinnerte, versank beinahe in den Polstern. Auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Fotoalbum.
»Das ist meine Mutter«, sagte sie gerade und wies mit dem Finger auf eine Fotografie. »Sie hieß Carlotta. War sie nicht hübsch?« Sie sah auf und bemerkte Angela. »Ich erkläre den beiden, wer ich eigentlich bin«, erläuterte sie und wirkte dabei so gelöst wie noch nie.
Es tat Angela leid zu stören, und doch musste es sein. Sie bat ihre Tochter, kurz zu ihr in die Eingangshalle zu kommen.
»Was ist los, Mami?«, fragte Nathalie irritiert. »Das ist unheimlich spannend! Wusstest du, dass Carmela die uneheliche Tochter von Carlotta Serena und Livio Sartori ist?«
»Nein«, antwortete Angela. »Ich werde mir das später ganz genau erklären lassen. Jetzt ist anderes wichtiger. Kannst du bitte
Pietrino holen und mit mir kommen? Ich erkläre es dir unterwegs …«
»Aber warum denn? Und wohin?« Nathalie sah ungeduldig zur Tür, hinter der Carmela offenbar gerade ihre Geschichte erzählte.
»Hör zu, Nathalie«, bat Angela ihre Tochter. »Bei mir zu Hause sitzt Monica Sembràn. Sie will dich sprechen.«
Alle Farbe wich aus Nathalies Gesicht. »O nein, das darf nicht … Nein, ich will auf keinen Fall mit ihr sprechen.«
»Ich fürchte, es lässt sich nicht umgehen«, versuchte Angela sie zu überzeugen. »Sie wirkt recht entschlossen.«
»Ich halte das für keine gute Idee, Mami.«
»Mir scheint, sie wird sich nicht so einfach abspeisen lassen. Wenn du jetzt nicht mitkommst, wird sie dich früher oder später hier aufspüren. Meinst du nicht, es wäre besser, du bringst es hinter dich?«
»Was will sie von mir?« Nathalie wirkte, als hätte sie schreckliche Angst vor dieser Frau.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Angela. »Sie will es dir selbst sagen.« Und als sie sah, wie Nathalie zögerte, fügte sie hinzu: »Komm! Du bist doch sonst so mutig.«
»Aber …«
In diesem Moment läutete es, und Nathalie fuhr zusammen. Emilia kam aus der Küche, um nachzusehen, wer gekommen war.
»Warum stehen Sie denn im kalten Flur herum?«, schalt sie, als sie Angela und Nathalie sah. »Husch, hinein in die warme Stube.« Sie öffnete die Haustür und stöhnte. »Heute geht es hier ja zu wie in einem Taubenschlag. Wer soll denn bitte das schon wieder sein?«
»Ist sie das?« Nathalie spähte über Emilias Schulter hinweg ängstlich in Richtung Tor.
»Bitte lassen Sie die Dame herein«, sagte Angela zu Emilia. Sie hatte die Gestalt im beigen Wollmantel sofort erkannt. »Können wir mit ihr ins Esszimmer gehen?«
»Wenn ihr für euch sein müsst, nehmt mein Turmzimmer.«
Tess war in der Tür zum Wohnzimmer erschienen. Ihre klugen blauen Augen wanderten von Angela zu Nathalie und dann zu der Frauengestalt, die entschlossen die Einfahrt heraufkam.
»Es ist …«
»Schon gut«, unterbrach Tess Angela liebevoll und mit
bedeutungsvollem Blick in Richtung ihrer Haushälterin. »Emilia, sei so lieb und mach Tee für die drei Damen. Und leg ein bisschen von deinem Mandelgebäck dazu.«
»Selbstverständlich«, grummelte Emilia. »Wenn die Villa Serena zu einem Durchgangsbahnhof werden soll – meinetwegen.« Sie machte kehrt und begab sich in ihre Küche.
Als Angela sich umwandte, stand Monica Sembràn auf der Schwelle und fixierte Nathalie mit ihren dunklen Augen.
»Sagen Sie mal, Signora, sind Sie mir jetzt tatsächlich gefolgt?« Bei allem Verständnis, aber das Verhalten dieser Frau ging auch ihr langsam zu weit. »Ich hatte Sie gebeten zu warten …«
»Tut mir leid, ich hab in letzter Zeit einfach keine Geduld mehr. Warten! Warten! Ich habe keine Kraft mehr zu warten.« Monica Sembràns Stimme klang brüchig, durchdrungen von verhaltenem Zorn und Resignation.
Nathalie hatte keine Zeit gehabt, sich herzurichten, ihr prächtiges Haar etwa kunstvoll zu arrangieren, wie sie es immer tat, wenn sie schwierige Situationen zu meistern hatte, und sich schön zu schminken. An diesem Nachmittag trug sie Jeans und einen bequemen Baumwollpulli, ihr Haar war locker zu einem Zopf geflochten, aus dem sich einzelne Locken gelöst hatten. Signora Sembràn hingegen war elegant gekleidet, sie trug ein sorgfältiges Make-up, und dennoch las Angela in ihren Augen die Demütigung einer müden, frustrierten Mittdreißigjährigen angesichts der jugendlichen Frische einer gerade mal zwanzigjährigen Rivalin. Einer vermeintlichen Rivalin, korrigierte Angela sich in Gedanken.
»Lassen Sie uns hineingehen«, schlug sie vor. »Bitte geben Sie mir Ihren Mantel.«
»Nein, ich …«
»Doch, Signora«, unterbrach Angela sie bestimmt. »Sie haben mich ausfindig gemacht, mich ohne Vorwarnung überfallen und sind mir bis hierher gefolgt. Sicherlich nicht nur, um meine Tochter anzustarren. Wir werden uns jetzt wie vernünftige Menschen zu einem Gespräch zusammensetzen. Bitte, Nathalie, hol dein Kind.«
Nathalie wollte widersprechen, dann besann sie sich und verschwand im Wohnzimmer. Angela geleitete Signora Sembràn zum Treppenhaus und hoch in den ersten Stock in Tess’ Turmzimmer.
Wenig später kam Nathalie. Sie hatte Pietrino auf dem Arm und nahm zögernd an dem Tisch vor dem Panoramafenster Platz, wo sie oft mit Tess zusammensaßen. Von hier aus hatte man einen traumhaften Ausblick über die Hügellandschaft bis über die südliche Ebene, wo man ganz in der Ferne an besonders klaren Tagen sogar Venedig sehen konnte. Doch Monica Sembràn hatte nur Augen für sie und ihr Baby.
Solche Geliebte suchte sich also ihr Mann aus … Angela war es, als könnte sie Monicas Gedanken lesen, so deutlich spiegelten sie sich in ihrer Miene.
Aus dem Tragetuch vor Nathalies Brust drangen brabbelnde Laute. Sie löste den Knoten und hob ihr Baby heraus. Keine von ihnen sprach, die Atmosphäre war so dicht, dass Angela den Eindruck hatte, man könnte die Luft zwischen ihnen schneiden. Nur Pietrino gab leise Töne von sich, wandte den Kopf und schien die Besucherin intensiv zu fixieren.
Auf einmal, als folgte sie einem Impuls, hielt Nathalie der fremden Frau den Säugling entgegen, und nach einem Moment des Zögerns nahm Signora Sembràn ihn tatsächlich und hielt ihn in ihren Armen. Sie betrachtete den Kleinen, der ihr aufmerksam ins Gesicht blickte, mit seinen Ärmchen ruderte und winzige Spuckebläschen produzierte.
Im Turmzimmer schien die Zeit stillzustehen. Nur Pietrinos Gebrabbel war zu hören. Er fühlte sich auf dem Arm der fremden Frau, die nichts weiter tat, als ihn anzusehen, sichtlich wohl. Ganz allmählich ließ ihre Anspannung ein wenig nach. Schließlich wurden Pietrinos Schmatzlaute intensiver, und als er zu wimmern begann, sah sie endlich auf.
»Er hat Hunger«, sagte sie und reichte ihn Nathalie zurück, die ihren Pulli hochschob, den Still-BH
öffnete und ihr Kind an die Brust legte. »Stimmt es, dass mein Mann sein Vater ist?«
Nathalie zuckte unmerklich zusammen. Nach dem langen Schweigen erschienen auch Angela die Worte wie Peitschenhiebe.
»Ja«, gab Nathalie schlicht zur Antwort.
»Und was sagt er dazu?«
»Er weiß es nicht.«
Monica Sembràn starrte Nathalie verständnislos an. »Sie haben
es ihm nicht erzählt?« Nathalie schüttelte den Kopf und wandte trotzig den Blick ab. »Warum nicht?«
»Weil …« Nathalies Stimme brach, sie musste sich räuspern. »Weil ich es so beschlossen habe.«
Monica Sembràn musterte Nathalie verständnislos. »Sie wollen die Heldin spielen und alles auf Ihre Kappe nehmen?«, fragte sie empört. »Ihn nicht einmal zur Rechenschaft ziehen?« Der Zug um ihren Mund verhärtete sich wieder. »Wussten Sie denn gar nicht, dass er verheiratet ist und drei Kinder hat?«
»Er hat gesagt, er lebt in Trennung.«
»Vor einem Jahr?« Monica Sembràn lachte böse auf. »Das ist ja lächerlich.«
»Er hat mich genauso angelogen wie Sie.«
Nathalie und die Frau ihres ehemaligen Geliebten maßen sich mit feindseligen Blicken, und keine von beiden gab nach.
»Damit darf er nicht durchkommen«, sagte Monica Sembràn schließlich entschlossen. »Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass ich die Scheidung eingereicht habe. Unsere Kinder sind sechs, vier und eineinhalb Jahre alt. Er wird dafür bezahlen, was er ihnen und mir angetan hat. Und für Pietrino wird er auch geradestehen müssen. Dafür werde ich sorgen.«
»Was Sie für sich und Ihre Kinder unternehmen, das ist Ihre Sache«, konterte Nathalie. »Ich möchte das auf keinen Fall.«
»Wieso nicht?« Monica Sembràns Augen funkelten. »Wollen Sie Ihrem Sohn den Unterhalt vorenthalten, den sein Vater ihm schuldet?«
»Ich will nicht, dass er sich in unser Leben einmischt.« Nathalie sah sie beinahe flehend an. »Ich habe sogar das Studienfach gewechselt, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Ich will mein Kind allein großziehen und …«
»Sie sind jung«, fiel Signora Sembràn ihr ins Wort und griff nach ihrer Handtasche. »Später würden Sie es bereuen. Francesco ist wie ein großes Kind. Was ihm gefällt, das nimmt er sich«, fuhr sie verbittert fort. »Er muss lernen, dass das Konsequenzen hat. Er kann nicht einfach Kinder in die Welt setzen und ungeschoren davonkommen. Ihre Haltung mag ehrenvoll sein, aber sie ist auch dumm. So dumm, wie sich mit ihm überhaupt eingelassen zu haben.«
»Ich finde, Sie sollten sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und meine Tochter in Ruhe lassen«, mischte sich nun Angela ein. »Ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind. Meinen Enkel als Waffe in Ihrem Scheidungsverfahren zu benutzen wäre jedoch nicht fair …«
»Fair?« Monica Sembràn hatte sich erhoben und presste ihre Handtasche an sich. »Was ist denn bitte schön fair an dieser ganzen Sache? Ist es fair, dass Sie mit meinem Mann geschlafen haben?« Sie funkelte Nathalie zornig an. »Oder dass ich das Ganze auf demütigende Art und Weise von einer hochstehenden Dame der Gesellschaft erfahren musste …«
»Meine künftige Schwiegermutter ist selbst eine verbitterte Frau«, wandte Angela ein. »Es tut mir leid, dass Sie …«
»Wie bitte? Die Principessa Fontarini … Ihre zukünftige Schwiegermutter?«
»So ist es«, antwortete Angela schlicht. »Auch wenn es ihr nicht gefällt. Ihr Sohn und ich werden bald heiraten.«
Jetzt fuhr Nathalies Kopf überrascht herum, und Angela fiel ein, dass sie nach Lorenzos Tod überhaupt noch nicht daran gedacht hatte, ihr zu erzählen, was Vittorio und sie in der Silvesternacht beschlossen hatten.
»Verbittert kommt sie mir allerdings nicht vor«, bemerkte Signora Sembràn spitz, und Angela bereute kurz ihre unbedachten Worte. Doch dann fand sie, dass es eigentlich egal war. Costanza Fontarini konnte ruhig wissen, was sie über sie dachte.
»Nun, Costanza Fontarini geht das Ganze nichts an«, schloss sie das Thema mit Nachdruck. »Weder Ihre Ehe noch wie meine Tochter mit der Vaterschaft ihres Kindes umgeht.«
»Mich geht es sehr wohl etwas an«, beharrte Monica Sembràn. »Und ich sehe nicht ein, aus welchem Grund ich Rücksicht auf Sie nehmen sollte. Haben Sie etwa Rücksicht auf mich und meine Familie genommen?« Sie warf Nathalie einen letzten Blick zu und vermied es dabei sorgfältig, Pietrino anzusehen. »Aber Sie sind ja nicht die Einzige«, fügte sie verächtlich hinzu. »Sie sind lediglich eine Episode in einer langen Reihe von Demütigungen. Und damit ist jetzt Schluss.«
Sie verließ das Turmzimmer, und Angela, die ihr rasch bis zur Tür
gefolgt war, sah sie mit klackernden Absätzen die Treppe hinuntergehen, ihren Mantel vom Haken nehmen und in Richtung Ausgang verschwinden.
»Puh«, machte sie und wandte sich zu ihrer Tochter um, die noch immer auf ihrem Stuhl saß, Pietrino an der Brust. Sie wirkte, als hätte jemand versucht, sie zu schlagen, und beugte sich über ihr Kind, als müsste sie es beschützen.
»Sie wird es ihm sagen«, erwiderte sie stöhnend.
»Ja, das wird sie wohl.«
Angela trat an eines der seitlichen Fenster und erhaschte durch die kahlen Kronen der Maulbeerbäume hindurch einen Blick auf die sich eilig entfernende Monica Sembràn. »Aber schlimmer als mit seiner Frau wird es wohl kaum werden, oder?« Sie musterte ihre Tochter nachdenklich. Nathalie antwortete nicht. Sie sah nicht einmal auf und wirkte, als würde sie mit ihrem Kind verschmelzen. »Brauchst du etwas? Soll ich Emilia schicken?« Nathalie schüttelte den Kopf.
»Ich möchte einen Augenblick allein sein, Mami«, sagte sie leise.
»Natürlich.« Angela zog es das Herz zusammen, als sie sah, wie unglücklich ihre Tochter war. Sie hoffte inständig, dass sich bald alles zum Guten wenden würde.
Als sie das Wohnzimmer betrat, saß Carmela noch immer auf dem großen Sofa, das Fotoalbum auf dem Schoß. Sie wackelte vergnügt mit den Füßen.
»Setzen Sie sich zu uns«, lud die alte Frau Angela großmütig ein und klopfte mit der linken Hand auf den freien Platz neben ihr. »Ich möchte, dass Sie das alles ganz genau wissen. Sehen Sie mal. Das ist meine Mutter.«
Kurz zögerte Angela. Musste sie nicht zurück zu ihrer Arbeit? Dann nahm sie auf dem Sofa Platz und war sogleich von dem Porträt, auf das Carmela zeigte, in Bann geschlagen. Es war das Gesicht einer jungen Frau, das ihr von einer Schwarz-Weiß-Fotografie entgegenstrahlte. Sie hatte einen herzförmigen Mund und ausdrucksvolle Augen, die den Betrachter unter langen Wimpern hervor anstrahlten. Auf dem sorgsam hochgesteckten Haar trug sie ein winziges, schalenförmiges Hütchen mit einem angedeuteten
Tüllschleier, das Kinn mit der weichen Rundung war anmutig auf eine Hand gestützt.
»Carlotta Serena, meine Mamma«, wiederholte Carmela feierlich. »Sie ist in diesem Haus aufgewachsen«, fügte sie hinzu und lehnte sich zurück. »Ich war noch ein kleines Mädchen, als wir es verloren haben. Eine einzige Erinnerung daran ist mir geblieben. Da drüben, wo jetzt die Palmen stehen, war früher eine Terrasse.« Sie wies auf den Wintergarten, von dem Angela seit der Renovierung wusste, dass er erst in den Fünfzigerjahren entstanden war. »Dort hab ich gespielt … Nun ja, bald darauf hat mein Großvater die Villa verkaufen müssen und ist in die Berge zu den anderen Partisanen gegangen. Meine Mutter hat mir oft davon erzählt, wie schlimm es war, als sie alles verloren hatten.«
»Warum musste er die Villa denn verkaufen?« Angela betrachtete das zarte Gesicht der Carlotta Serena und suchte nach Ähnlichkeiten zwischen ihr und Carmela oder Maddalena.
»Zuerst hat uns sein bester Freund im Stich gelassen.« Carmela schob sich die Brille zurecht und schlug ein paar Seiten im Album zurück bis fast zum Anfang. »Sein bester Freund, das war Lelio Sartori. Hier. Auf diesem Foto sind sie beide.« Sie hielt das Album schräg, sodass Angela die Fotografie besser sehen konnte. Zwei Männer im Alter von zirka dreißig Jahren in Jagdkleidung und mit Schrotflinten über den Schultern hielten zufrieden lachend erlegte Rebhühner hoch. »Carlo Serena, mein nonno
, hatte eine Seidenraupenzucht, und sein Freund Lelio Sartori hat das Seidengarn in seiner Weberei verarbeitet.« Sie blätterte weiter, und Angela erkannte Carmelas Großvater Carlo auf einem weiteren Bild, das ihn vor einem Automobil zeigte. Sein Haar war lichter, sein Schnurbart leicht ergraut. »Das war er, mein nonno
. Er ist nicht mehr aus den Bergen zurückgekommen. Das war aber schon nach dem Zerwürfnis …«
»Nach welchem Zerwürfnis?«
Carmela seufzte tief. »Im Grunde bin ich an allem schuld. Wäre meine Mamma nicht mit mir schwanger geworden, wer weiß, wie alles gekommen wäre.«
»Unsinn, Carmela«, fiel Tess sanft ein. »So darf man nicht denken. Was ist denn damals passiert?«
»Meine Mamma und Livio Sartori, das war Lelios ältester Sohn, waren miteinander verlobt. Beide Familien waren für die Beziehung, etwas Besseres hätte nicht passieren können, die Väter waren Freunde und Geschäftspartner. Doch dann hat Livio im letzten Moment meine Mamma sitzenlassen. Da war sie schon schwanger.« Carmela ließ sich gegen die Rückenlehne des Sofas fallen und seufzte tief auf. »Dieser Schuft! Er hat so eine dumme Pute aus Venedig geheiratet, die sich immer für etwas Besseres gehalten hat. Man hat gemunkelt, dass sie eine größere Mitgift hatte. Wenn es ums Geld ging, haben die Sartoris schon immer jeden Anstand vergessen, auch Livios Vater, der alte Lelio, hat ihm nicht die Ohren lang gezogen und gesagt: Du hast das Mädchen geschwängert, jetzt wird geheiratet. Darüber haben er und mein nonno
sich bis aufs Blut zerstritten.« Gedankenvoll strich Carmela mit den Fingerspitzen über das Bild von Carlo Serena, ihrem Großvater mütterlicherseits. »Lela war Livios jüngste Schwester, so ein richtiges Nesthäkchen, sie war gerade mal elf Jahre älter als ich. Hier …«, sie blätterte im Album, bis sie eine Fotografie fand, auf der Kinder in Matrosenanzügen und Rüschenkleidern zu sehen waren, »… das ist Lela.« Carmelas Fingerspitze bohrte sich fast in die alte Aufnahme. Drei Kinder waren zu sehen: ein kleines, dünnes Mädchen von etwa fünf Jahren in einem prächtigen weißen Seidenkleid, in dem es schier versank, eine hübsche, keck dreinblickende Zwölf- oder Dreizehnjährige in einem Rüschenkleid mit blonden Zöpfen und ein ungefähr gleichaltriger Junge mit blitzenden Augen in einem Matrosenanzug. »In der Mitte, das ist Lela, neben ihr, das ist Carlotta, meine Mutter. Und auf der anderen Seite, das ist Livio, der Schuft, der sie später schwängerte …«
»Das heißt, Lela Sartori war tatsächlich …«
»La mia zia«
, krächzte Carmela dazwischen und nickte. »Meine Tante. In der Tat. Nur dass Livio mich nicht als seine Tochter anerkannt hat. Das war es, was meine Mamma so früh ins Grab brachte.« Carmela richtete ihre dunklen, durch die starken Brillengläser vergrößerten Augen auf Angela. »Was glauben Sie, was das für ein Skandal damals war! Die Sache ging sogar vor Gericht. Da hat dieser farabutto
in aller Öffentlichkeit gesagt, er könne nicht sicher sein, ob er der Einzige war, der mit … Na, Sie wissen schon.
Meine Mamma war gesellschaftlich erledigt, auch wenn jeder die Wahrheit kannte, hat man mit dem Finger auf uns gezeigt. Lidias Mutter hat sich da sehr hervorgetan, die dumme Ziege. Und ganz besonders hat es mich Lela spüren lassen. Die ließ keine Gelegenheit aus, um mir klarzumachen, dass ich keinerlei Rechte in ihrer Familie hatte. Sie war eine harte Frau.« Carmelas Blick ruckte unruhig hin und her. »Glücklich ist sie allerdings nicht geworden mit all dem Reichtum, den sie angehäuft hat. Beide Brüder sind gestorben. Livio, als er Jagd auf die Partisanen gemacht hat. Und Lodovico wurde todkrank, nachdem er so lange am omaccio grande
gearbeitet hatte. Auch was die Liebe anbelangt, hatte Lela kein Glück. Ausgerechnet an diesem donnaiolo
Lorenzo Rivalecca hatte sie einen Narren gefressen, diesem zehn Jahre jüngeren Weiberheld, der überhaupt nichts von ihr wissen wollte. Jahrelang hat sie ihm den Hof gemacht.« Carmela kicherte. »Alle haben sich heimlich über sie lustig gemacht. Manche behaupteten, dass Rivalecca sein Herz an eine Erntehelferin aus dem Ausland verloren hatte und darauf wartete, dass die zurückkam. Aber entweder war das nur Gerede, oder die straniera
wollte nichts mehr von ihm wissen. Ich hab diese Geschichte sowieso nie glauben können, so romantisch war Lorenzo einfach nicht. Na ja, und dann, ein paar Jahre später, haben sie plötzlich das Aufgebot bestellt, Lorenzo und Lela. Da bin ich zu ihr gegangen und hab gesagt: Zia
, wir müssen reden. Und zwar über das Erbe. Da war meine Mamma schon tot, und ich, weil ich nichts anderes gelernt hatte, war Weberin in der Seidenvilla geworden, sobald ich mit den Füßen die Pedale erreichen konnte. All die Jahre zuvor hatte ich den Mund gehalten. Und was glauben Sie, was Lela gesagt hat, als ich mein Erbteil eingefordert hab?« Sie sah Angela an, als erwartete sie eine Antwort, um sie dann selbst zu geben: »Vaffanculo
. Scher dich zum Teufel.«
Carmela schwieg erschöpft. Die Erzählung hatte sie angestrengt. Tess schenkte ihr Tee nach und reichte ihr die Tasse.
»Trinken Sie«, forderte sie die alte Frau auf. »Sie müssen ja eine ganz trockene Kehle haben.«
Folgsam nahm Carmela die Tasse und führte sie zitternd zu ihrem Mund. Nachdem sie ein paarmal geschlürft hatte, gab sie sie wieder zurück.
»Ich will, dass Sie das wissen, tedesca
«, fuhr sie müde fort. »Denn dieses Mal werde ich nicht mehr nachgeben und stillhalten wie früher. Auch Rivalecca hat mich davongejagt, nachdem Lela tot war. Jeder von den Alten weiß, dass ich Livio Sartoris Tochter bin. Und doch … beweisen kann ich es nicht.«
Das Album rutschte von ihren Knien, und ehe Angela es auffangen konnte, fiel es zu Boden. Sie und Tess wechselten einen Blick, als sie sich beide danach bückten. Mehrere der alten Aufnahmen hatten sich von den Seiten gelöst, an denen sie so viele Jahre lang angeheftet gewesen waren. Carlotta Serenas wunderschönes Porträt glitt auf dem glatten Steinboden einige Meter in Richtung Herrenzimmer. Angela stand auf und sammelte alles ein. Was für eine Geschichte. Welche Tragödie.
Und dann begriff sie erst das ganze Ausmaß des Gehörten. Im Grunde hätten sowohl Carmela als auch Maddalena ein Anrecht auf die Seidenvilla gehabt. Abgesehen von Guglielmo waren sie die einzigen Nachkommen der Weberdynastie Sartori.
»Wie ist denn Guglielmo mit Ihnen verwandt?«, erkundigte sie sich.
»Er ist der Enkel von Lodovico, Lelas anderem Bruder. Lodo war ein guter Weber, von ihm hab ich viel gelernt. Dann ist er dem Fluch des omaccio
zum Opfer gefallen.« Carmela hob den Blick und sah Angela mit einer Mischung aus Bewunderung und Schauder an. »Wissen Sie eigentlich, dass Sie es waren, die den Bann von diesem Webstuhl genommen hat?«
Angela lächelte gequält. Was sie an diesem Tag erfuhr, war fast ein bisschen zu viel auf einmal.
»Ich glaube nicht an Flüche«, entgegnete sie sanft. Doch die Alte wackelte mit dem Kopf und sah ihr eindringlich in die Augen.
»Chissà
, Signora Angela. Seien Sie sich da mal nicht zu sicher.« Sie beugte sich ihr entgegen. »Erst gestern Abend hab ich einen mächtigen Fluch gegen Guglielmo ausgesprochen. Und was ist passiert?« Sie lächelte verschmitzt. »Schon heute Morgen haben die Behörden den Palazzo abgesperrt.« Triumphierend sah sie von Tess zu ihr. Angela konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. »So, jetzt wissen Sie Bescheid über mich und Maddalena.« Carmela kämpfte sich von dem bequemen Sofa herunter und griff nach ihren Stöcken.
»Werden Sie mir helfen, meinen rechtmäßigen Anteil am Erbe zu bekommen?«
»Ich wüsste nicht, wie Angela Ihnen dabei helfen könnte«, wandte Tess ein.
»Sie wird einen Weg finden«, meinte Carmela zuversichtlich und stemmte sich auf. »Diese Frau hat nicht nur den omaccio
von seinem Fluch erlöst, sondern auch das Scheusal Rivalecca gezähmt. Ihr wird schon was einfallen.« Und an Angela gewandt fügte sie hinzu: »Ich zähle auf Sie, tedesca
!«