16
Entscheidungen
Angela träumte unruhig in der folgenden Nacht. Signora Sembràn machte der armen Carlotta mit blitzenden Augen Vorwürfe, und Lela Sartori als kleines Mädchen im überdimensionierten weißen Kleid traktierte Carmela mit einer Krücke. Dann war da auf einmal Lidia, die mit spitzen Fingern auf ihre Supermarktkasse einhackte und erklärte, dass sie ihre Rechnung noch präsentieren würde.
Lidia. Die Begegnung mit ihr hatte Angela über all dem, was inzwischen geschehen war, beinahe vergessen. Erst Carmelas Bemerkung vom Vortag über deren Mutter hatte sie wieder daran erinnert. Als sie an der Küchentheke ihren Morgenkaffee trank und im Stehen die Brioche aß, die am Tag zuvor übrig geblieben war, beschloss sie, endlich ihrer Belegschaft von ihren Beobachtungen zu erzählen, wohl wissend, wie heikel das Thema noch immer war.
Den Vormittag über war sie jedoch im Büro vollauf beschäftigt. Donatella rief an und erzählte ihr nun persönlich, wie großartig das Kleid bei ihren Freundinnen und Bekannten angekommen war. Sie gab Angela eine lange Liste von Interessentinnen durch, bei denen sie sich melden sollte. Wenn nur ein Drittel dieser Frauen Kleider bei ihr in Auftrag gab, würden Romina und Mariola bis in den Sommer hinein beschäftigt sein. Wieder dachte sie an Lidia. Ihre Stoffe wären für diesen Zweck einfach ideal.
Nach der Mittagspause und dem gemeinsamen Kaffee unter dem Maulbeerbaum ging sie mit den anderen in die Werkstatt und erzählte ihnen, wo sie Lidia gesehen hatte. Allen schien es die Sprache verschlagen zu haben. Nola war die Erste, die sich von dieser schockierenden Neuigkeit erholte.
»Sind Sie ganz sicher, dass sie es war?«, fragte sie skeptisch.
»Ja, ganz sicher.«
Angela sah von einem Gesicht zum anderen und versuchte herauszulesen, wie viel Ablehnung in den Mienen zu erkennen war.
»Wer ist Lidia?«, fragte Nicola.
»Eine Verräterin«, knurrte Stefano.
»Das ist die, die zu Ranelli gegangen ist«, klärte Nola ihn auf.
»Aber … wenn sie jetzt in einem Supermarkt arbeitet, ist sie nicht mehr bei Ranelli, oder?« Maddalena wirkte erschrocken.
»Wohl eher nicht«, antwortete Angela.
»Er hat sie rausgeworfen«, mutmaßte Orsolina mit einem Hauch von Schadenfreude. »Wahrscheinlich war sie ihm zu anstrengend.«
»Wo sie so schön weben kann …«, gab Maddalena zu bedenken.
»Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, wie es dazu kam«, ergriff Angela wieder das Wort. »Worüber ich allerdings nachdenke, ist …« Sie zögerte kurz. Dann entschloss sie sich, mit ihren Überlegungen herauszurücken. »Sollen wir versuchen, sie zurückzuholen? Dazu würde ich gern eure Meinungen hören.«
Alle starrten sie an, als hätte sie etwas Ungeheuerliches gesagt. Über Maddalenas Gesicht jedoch glitt ein Leuchten.
»Ja, ich fände das schön«, sagte sie. »Ich weiß«, fügte sie rasch hinzu, als die anderen sich ihr empört zuwandten, »sie ist nicht immer nett zu uns gewesen. Aber irgendwie fehlt sie mir. Ich weiß auch nicht, warum.«
»Also mir nicht!«, konterte Stefano. »Sie war eine Nervensäge. Immer schlecht gelaunt. Und wenn man sich mal über etwas freute, fand sie garantiert ein Haar in der Suppe.«
»Jetzt übertreib mal nicht!« Anna strich sich eine Strähne ihres blondierten Haars hinters Ohr. »Klar, einfach war es nicht mit ihr. Aber so schlimm …«
»Sie hat dafür gesorgt, dass Ranelli uns den Webstuhl aus Vidor vor der Nase wegschnappen konnte, der eigentlich uns versprochen gewesen war. Und als wäre das nicht schon genug gewesen, hat sie ihm auch noch Interna verraten. Hab ich recht, Fioretta?« Stefano sah Angelas Assistentin auffordernd an.
»Ja, das ist wahr«, räumte Fioretta mit einem verlegenen Seitenblick auf ihre padrona ein. Denn Angela hatte diese Details damals nicht an die übrige Belegschaft weitergegeben, um sie nicht unnötig zu verunsichern.
»Wenn das stimmt«, mischte Nicola sich ein, »wieso sollten wir dann so jemanden wieder bei uns haben wollen?«
Es war klar, dass er gegen jeden Vorbehalte hegte, der zu Ranelli abgewandert war. Schließlich hatten seine Cousins zu seinem Ärger genau dasselbe getan.
»Du kannst da gar nicht mitreden«, fuhr ihm Anna über den Mund. »Du kennst Lidia ja überhaupt nicht.«
Es war offensichtlich, dass Anna sauer auf ihren Kollegen war, und Angela brauchte nicht lange nachzudenken, warum. Nicola schien allerdings noch immer keine Ahnung davon zu haben, welchen Kummer er ihr und Fioretta bereitete. Verwundert riss er die Augen auf und hob fragend die Brauen.
»Willst du sie etwa zurückhaben?« Wie immer hielt Stefano zu seinem Kollegen.
»Na ja«, wandte Nola ein, »ich verstehe schon, warum Signora Angela sich das überlegt. Denn Lidias Stoffe könnten wir gut gebrauchen, vero
Angela nickte. »Das stimmt«, erwiderte sie. »Aber ich werde keine Schritte in diese Richtung unternehmen, wenn auch nur ein Einziger von Ihnen dagegen ist.«
Nachdenkliche Stille entstand. Am Fenster summte eine Fliege auf der Suche nach einem Ausweg ins Freie.
»Trotz allem tut sie mir schon auch leid«, brach Anna das Schweigen. »Stellt euch mal vor, ihr würdet an einer Supermarktkasse arbeiten …«
»Das hat sie sich selbst zuzuschreiben.« Stefano wirkte unversöhnlich.
»Aber Stefano«, wandte sich seine Frau an ihn, »du sprichst so oft davon, dass Signora Angela dir eine zweite Chance gab und …«
»Hab ich meinen Unfall etwa selbst verschuldet?«, unterbrach er sie empört.
»Natürlich nicht.«
»Wir müssen das ja nicht heute entscheiden«, erklärte Angela. »Denkt einfach darüber nach. In ein paar Tagen können wir das Thema noch mal besprechen. Va bene? «
Stefano verschränkte unversöhnlich seine Arme vor der Brust, so als müsste er nicht länger über diese Sache nachdenken. Die anderen jedoch murmelten Zustimmung, erhoben sich und nahmen ihre Arbeit auf.
»Signora, Sie müssen mir helfen.«
Angela seufzte und sah auf, wer sie nun schon wieder störte. Sie musste dringend mit Fioretta den Jahresabschluss durchgehen, doch nun stand Fania außer Atem und mit hochrotem Kopf im Büro.
»Was gibt es denn?« Angela bemühte sich, nicht genervt zu klingen.
»Signor Gonzino sagt, ich darf das Praktikum nur machen, wenn Sie Ihr Einverständnis geben.« Fania wirkte verlegen. Ihr Blick flog über die Papiere auf dem Schreibtisch. »Er sagt, er will Ihnen auf keinen Fall meine Arbeitskraft wegnehmen. Könnten Sie … ich meine, ich sehe ja, dass Sie beschäftigt sind.«
»Ja, das bin ich«, antwortete Angela. »Was brauchen Sie?«
»Könnten Sie vielleicht mit mir kommen?«
Angela fuhr sich mit der Hand über die Augen. Nahm das denn nie ein Ende? Erst musste sie Carmela beistehen, dann stand Signora Sembràn vor ihrer Tür. Von dem Ärger mit Guglielmo Sartori ganz zu schweigen. Und irgendwer warf ihr die Fensterscheiben ein. Vielleicht hätte sie doch auf Emilia hören und Fania nach Hause schicken sollen. Aber nein, rief sie sich zur Ordnung und zwang sich zu einem Lächeln. Das wäre nicht richtig. Schließlich war ihr an der Zukunft des Mädchens wirklich gelegen.
»Morgen früh gehen wir gemeinsam zu Gonzino«, erklärte sie. »Gleich um neun, wenn die Buchhandlung öffnet. Va bene? « Fania zögerte, es war ihr anzusehen, dass sie das am liebsten sofort erledigt hätte. Doch sie wagte nicht zu widersprechen. »Und nun lass uns weiterarbeiten. Hast du schon das Bad geputzt? Nein? Nun, dann wird es Zeit.«
Kaum hatten sie sich erneut in die Buchhaltung vertieft, als es zaghaft an der Tür klopfte.
»Che diamine!« , entfuhr es Fioretta, deren Nervenkostüm nicht mehr dasselbe war, seit Nicola bei Edda eingezogen war.
»Avanti« , rief Angela ungehalten.
Die Tür wurde zögernd einen Spaltbreit geöffnet, und zu ihrem Erstaunen war es Matilde, die hereinspähte.
»Soll ich später wiederkommen?«, fragte sie scheu.
»Kommen Sie nur, Matilde«, sagte Angela überrascht und sah auf die Uhr. Es war bereits kurz nach vier. »Fioretta, ich glaube, wir machen für heute Schluss. Lass uns das morgen erledigen, wenn ich mit Fania bei Gonzino war. Am besten schließen wir das Büro ab und nehmen alles zu mir hoch. Da stört uns keiner.«
Während Fioretta widerwillig die Unterlagen einsammelte, bat Angela die frühere Haushälterin ihres Vaters freundlich, Platz zu nehmen.
»Wie geht es Ihnen?«
Matilde wartete, bis Fioretta sich verabschiedet hatte, dann öffnete sie die Einkaufstasche, die sie mitgebracht hatte, und holte zwei silbern gerahmte Bilder daraus hervor. Gerührt erkannte Angela die Fotografie, die Lorenzo mit ihrer Mutter zeigte, rund achtundvierzig Jahre war das jetzt her. Gleichzeitig fuhr es ihr heiß durch alle Glieder. Woher wusste Matilde …
»Signor Rivalecca hat mich darum gebeten«, kam ihr die Hausangestellte zuvor. »Wenn mir mal was passiert, hat er gesagt, gib dieses Bild der tedesca . Sie weiß schon, warum. Und dieses hier«, Matilde wies auf die zweite Fotografie, »das ist ja Ihre Tochter mit ihrem Kleinen. Signor Rivalecca war immer so gut gelaunt, wenn die beiden ihn besucht haben. Wirklich, Sie haben ein Wunder an ihm bewirkt. Ich war ja schon so lange bei ihm, aber nie hab ich ihn so froh erlebt, wie nachdem Sie da gewesen waren. Und ehe das alles in die Hände von Signor Sartori fällt, dachte ich …« Sie wies auf die Fotografien und seufzte. »Er würde mich vermutlich eine Diebin nennen …«
»Danke«, half Angela der Haushälterin aus ihrer sichtlichen Verlegenheit. »Das ist so nett von Ihnen.« Wieder spürte sie, wie Tränen in ihr aufsteigen wollten. »Was machen Sie eigentlich jetzt, Matilde?«
Angela wurde bewusst, dass die Haushälterin ja mit Lorenzos Tod ihre Arbeitsstelle verloren hatte. Wie alt mochte Matilde sein? Vielleicht Anfang fünfzig?
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie niedergeschlagen. »Signor Rivalecca hat ein paarmal erwähnt, dass er mich in seinem Testament bedenken wollte, ich solle mir keine Sorgen machen. Aber jetzt mach ich mir doch welche.« Sie seufzte. »Wer stellt schon eine Frau in meinem Alter ein?«
Auf einmal kam Angela eine wundervolle Idee. »Sie könnten für mich arbeiten«, sagte sie.
Matilde sah sie erstaunt an. »Ich kann nicht weben, Signora …«
»Nein, ich meine im Haushalt.«
»Aber … haben Sie nicht jemanden? Ich hab gehört, Sie hätten ein junges Mädchen eingestellt.«
»Fania möchte gern etwas anderes machen«, erwiderte Angela ausweichend. »Ich versuche gerade, ihr eine Lehrstelle zu vermitteln. Wirklich, ich wäre so froh, wenn Sie …«
»Oh, das wäre wundervoll«, unterbrach Matilde sie erleichtert. »Wenn Sie wollen, fange ich gleich morgen an. Was stellen Sie sich denn vor? Wenn Sie möchten, kümmere ich mich um das ganze Gebäude, auch die Werkstätten. Im Vergleich zum Palazzo Duse ist das ja überschaubar.«
»Wie lange waren Sie eigentlich bei Lorenzo?«
»Fast zwanzig Jahre«, antwortete Matilde wehmütig. »Und nur damit Sie es wissen: Ich kann noch mehr kochen als nur minestrone .« Sie lächelte scheu, doch als sie sah, dass Angela in schallendes Gelächter ausbrach, stimmte sie fröhlich mit ein.
»Das sind gute Nachrichten«, gab Angela zurück. »Obwohl ich Ihre minestrone immer sehr mochte.« Sie wurde ernst. »Ach, ich vermisse ihn so«, gestand sie.
»Ich auch, Signora«, pflichtete Matilde ihr bei, und ihre Augen glänzten feucht. »Ich vermisse ihn auch.«
Am nächsten Morgen um neun erschien Fania in ihrer besten Bluse und der Jeans, die sie sich von ihrem ersten Lohn gekauft hatte, das Haar zu einem kecken Knoten oben auf ihrem Kopf geschlungen, so wie Nathalie es manchmal trug. Angela fand es rührend, wie die junge Frau vorsichtig tastend einen eigenen Stil ausprobierte, sogar einen blassrosa Lippenstift hatte sie aufgelegt, den man nur wahrnahm, wenn man genau hinsah.
»Zia Emilia wollte wissen, warum ich mich für die Arbeit bei Ihnen heute so sorgfältig zurechtgemacht habe«, bekannte sie nervös, als Angela ihr ein Kompliment machte.
»Und was haben Sie geantwortet?«
»Nichts«, gab Fania trotzig zurück. »Meistens ist es besser, man lässt sich auf keine Diskussion mit ihr ein.«
Angela musste sich ein Lächeln verkneifen.
Edda schloss gerade ihren Salon auf, als sie vorübergingen, grüßte und musterte Fania und Angela neugierig. Auf der Piazza della Libertà begegneten sie Dina, die eilig in Richtung Hotel Duse ging, auch sie warf ihnen einen interessierten Blick zu.
»O weh!« Fania stöhnte. »Jetzt wissen es bald alle.«
Sie nahmen die Gasse, die zum südlichen Stadttor hinunterführte, und bogen schließlich in die Straße ein, in der sich die Buchhandlung befand. Ein fröhlicher Dreiklang ertönte, als Angela die Ladentür öffnete.
»Buongiorno , Signora Steeger.« Es war die ältere Dame, die Angela erst kürzlich bei Edda getroffen hatte, und Angela grüßte erleichtert zurück. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Es heißt, Sie haben eine Lehrstelle zu besetzen.« Angela sah sich in der gemütlichen Buchhandlung um. Hin und wieder hatte sie ein Buch oder ein Fachmagazin bestellt und war immer freundlich bedient worden. »Signorina Fania würde gerne Buchhändlerin werden und möchte sich darauf bewerben. Ich bin überzeugt davon, dass sie die Richtige ist.«
»Arbeitet sie nicht bei Ihnen im Haushalt?« Signora Gonzino musterte Fania skeptisch. »Ich hab meinem Sohn gesagt, dass er Ihnen auf keinen Fall die Arbeitskraft wegnehmen darf.«
»Ich stelle sie gern frei«, beeilte Angela sich zu sagen. »Das Wichtigste für uns Frauen ist doch eine gute Ausbildung. Finden Sie nicht auch, Signora Gonzino?« Ihr Gegenüber nickte, ein leises Lächeln zeigte sich auf dem klugen Gesicht der älteren Dame. »Ich werde Fania nicht im Weg stehen, wenn sie diese Möglichkeit erhält. Außerdem habe ich bereits eine neue Haushälterin.«
Sie bemerkte den erschrockenen Blick sehr wohl, mit dem Fania sie streifte.
»Haben Sie Ihre Schulzeugnisse dabei?«
Fania biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf.
»Die sind zu Hause in Sizilien«, bekannte sie. »Aber ich kann sie mir schicken lassen.«
Signora Gonzino betrachtete sie streng. »Soweit ich weiß, gibt es noch eine andere Bewerbung um die Lehrstelle«, sagte sie schließlich.
»Nun, ohne den anderen Aspiranten zu kennen, kann ich sagen, dass keiner eine so große Liebe zu Büchern hat wie Fania«, bemerkte Angela im Brustton der Überzeugung. »Neben ihrer Arbeit im Haushalt hat sie meine gesamten Bücher nach Autorennamen sortiert und etliche mit Leidenschaft gelesen. Ich bin ganz sicher, dass diese junge Frau als Buchhändlerin ihre Bestimmung finden wird.«
Signora Gonzino lächelte, offenbar gefiel ihr der Eifer, mit dem Angela sich für Fania einsetzte.
»Nun, dann bleib einfach erst mal hier«, schlug sie Fania vor. »In einer Stunde kommt mein Sohn, der wird darüber entscheiden. Inzwischen kannst du mir helfen, die neue Lieferung einzusortieren.« Fania strahlte und errötete vor Freude. Rasch zog sie ihre Winterjacke aus, und Signora Gonzino erklärte ihr, wo sie sie im Hinterzimmer der Buchhandlung aufhängen konnte. An Angela gewandt sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Hand aufs Herz, Signora. Sie empfehlen die junge Dame aber nicht nur so nachdrücklich, weil Sie sie loswerden wollen?«
Angela blieb kurz die Luft weg. »Nein«, sagte sie bestimmt. »Fania interessiert sich für nichts anderes als für Bücher. Sie als Haushälterin weiter zu beschäftigen würde bedeuten, ihre Zukunft in die falschen Gleise zu lenken. Das würde ich mir nicht verzeihen. Bitte legen Sie ein gutes Wort für das Mädchen ein, ja?«
Das Lächeln der älteren Dame vertiefte sich.
»Ich will sehen, was sich machen lässt. Wissen Sie, wir kannten uns bislang nicht persönlich«, fügte sie hinzu, »aber ich wollte Ihnen schon lange sagen, dass ich es bewundere, wie Sie die Seidenvilla wiederbelebt haben. Und wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Achten Sie nicht auf das Gerede der Leute.«
Angela war zu verwirrt, um sofort nachzufragen, was genau sie damit meinte. Sie bedankte sich, wünschte Fania, die zurück in den Laden kam und nervös ihre Bluse zurechtzupfte, viel Glück und verabschiedete sich.
Als sie auf dem Rückweg erneut die Piazza della Libertà überquerte, entdeckte sie Davide Bramante, den Stadtkämmerer, mit Fausto an der Theke des Hotel Duse im Gespräch. Als er sie bemerkte, winkte er sie zu sich.
»Guten Morgen, Angela. Wie gut, dass ich dich treffe. Komm, lass uns einen Kaffee zusammen trinken.«
Angela willigte gern ein. Und während sich Fausto daranmachte, ihren Cappuccino so zuzubereiten, wie sie ihn am liebsten mochte, nämlich mit besonders viel geschäumter Milch, nahm Davide seine Tasse und trug sie zu einem der Außentische, auf den die ersten Strahlen der Morgensonne fielen. Angela verstand. Vielleicht hatte der Stadtkämmerer Neuigkeiten für sie, die er ihr gern ohne Zeugen mitteilen wollte.
»Ich habe inzwischen nachgefragt«, sagte er leise, nachdem Fausto Angelas Cappuccino gebracht hatte und zu einem neuen Gast an die Theke zurückgekehrt war. »Leider bist du im Grundbuch nicht als Besitzerin dieses kleinen Hauses in der Via del Monte Grappa eingetragen.« Angela nickte und bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Und doch hatte sie es eigentlich nicht anders erwartet. Vermutlich hatte ihr Vater die hingeworfene Bemerkung, dass er ihr das Häuschen schenken würde, im nächsten Moment schon wieder vergessen. »Dafür habe ich eine andere Neuigkeit für dich«, fuhr Davide Bramante fort. »Du weißt, dass ich unseren Notar sehr gut kenne.« Angela nickte. Die beiden waren sogar beste Freunde, das hatte ihr Dario Monti einmal erzählt. »Er hat mir gesagt, dass in Kürze die Testamentseröffnung ansteht.«
»Aha«, murmelte sie. Dann wurde ihr bewusst, dass Davide gespannt auf ihre Reaktion wartete. »Und was geht mich das an?«
»Auch du wirst eine Einladung erhalten.«
Angela bemerkte sehr wohl, dass er sie neugierig musterte und ihre Überraschung genau registrierte.
»Ich? Aber wieso denn ich?«
Davide zuckte mit den Schultern und hörte nicht auf, sie eingehend zu betrachten.
»Ich dachte, das wüsstest du
Angela schüttelte den Kopf und fühlte, wie ihr ganz heiß wurde. Wer kannte ihr Geheimnis? Niemand. Lorenzo hatte es mit in sein Grab genommen. Und Tess, Nathalie und sie hatten es sorgsam gehütet.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie. »Es muss sich um einen Irrtum handeln.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Davide. »Außer dir werden auch deine Tochter und seine Haushälterin eine Einladung bekommen. Bei Matilde ist das leichter zu verstehen, nicht wahr? Vermutlich wollte sich der alte Kauz für ihre treuen Dienste erkenntlich zeigen.«
Angela hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Ja, vermutlich.« Sie hatte plötzlich das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Natürlich würde es Gerede geben, wenn sie und Nathalie ebenfalls eingeladen würden.
»Man sagt, dass du ihn regelmäßig besucht hast«, fuhr Davide fort, und allmählich bekam Angela das sichere Gefühl, dass er sie ausforschen wollte.
»Das stimmt. Ich habe einmal im Monat mit ihm zu Abend gegessen. Wenn der Notar so gut unterrichtet ist, erinnert er sich vielleicht auch an diese seltsame Klausel, die Rivalecca in den Kaufvertrag schreiben ließ. Wir wissen ja alle, was für ein eigenwilliger Mensch er gewesen ist.«
Davide nickte und ließ sie nicht aus den Augen. »Ja, das war er in der Tat. Es gibt Leute, die seinen Geisteszustand angezweifelt haben.«
»Oh, sein Verstand war ausgezeichnet«, antwortete Angela heftiger, als sie beabsichtigt hatte. Langsam wurde sie ärgerlich. »Er hatte eben seine eigene Art, das Leben zu nehmen.«
Der Kämmerer nickte erneut und sah sie dabei an, als überlegte er sich, ob er noch etwas sagen sollte, dann entschied er sich offenbar dagegen.
»Ich muss wieder los.« Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und verabschiedete sich fast ein wenig zu schnell von ihr. Während er zum Rathaus ging, sah ihm Angela kopfschüttelnd hinterher. Signora Gonzino hatte von Gerede gesprochen. Man brauchte nicht viel Fantasie, um ihren »Rat« und das seltsame Verhalten des Kämmerers miteinander in Verbindung zu bringen. Es war der herzliche Kontakt, den sie zu Lorenzo Rivalecca gepflegt hatte, der für Klatsch und Tratsch sorgte.
Kaum hatte sie mit Fioretta den Jahresabschluss durchgesehen, klingelte es Sturm, und die erste der Spezialnähmaschinen wurde geliefert. Das erinnerte Angela daran, dass sie mit der endgültigen Renovierung des Schneiderateliers noch nicht weitergekommen war, dabei sollte Romina ja so bald wie möglich bei ihr anfangen. Noch ehe sie darüber nachdenken konnte, welchen Schritt sie zuerst machen sollte, hörte sie nebenan im Laden die laute und unangenehme Stimme eines Mannes, die ihr bekannt vorkam.
»Lassen Sie mich durch. Das gehört sowieso demnächst alles mir.«
Guglielmo Sartori. Als Angela in den Hof hinausging, stand er bereits unter dem Maulbeerbaum. Die Fäuste in die Hüften gestemmt und einen alten Filzhut in den Nacken geschoben, sah er sich um.
»Was wollen Sie hier?« Dieser Mann weckte in Angela etwas, das ihr sonst fremd war: Unmut und Abwehr.
»Mich ein wenig umsehen.« Er musterte sie mit seinen kleinen, habgierigen Augen.
»Dies ist Privatgelände«, konterte Angela. »Bitte gehen Sie.«
Ein Lächeln erschien auf Guglielmo Sartoris wenig vorteilhaftem Gesicht. Widerwillen erfasste Angela angesichts der fleischigen Lippen, die stets zu einem sarkastischen Grinsen verzogen waren, und den teigigen Zügen mit den hängenden Tränensäcken. Einen Moment lang betrachtete er Angela, dann wandte er sich ab und stapfte zur Färberei hinüber. Fioretta machte Anstalten, ihm hinterherzueilen, doch Angela hielt sie zurück. Keine von ihnen sollte sich an diesem Menschen die Finger schmutzig machen.
»Geh und hol Stefano«, bat sie Fioretta, die auf der Stelle davonrannte.
Sie selbst folgte Sartori, der in Orsolinas Reich eindrang, wo die Färberin gerade in einem brodelnden Sud aus Krappwurzeln rührte und auf jemanden, der nichts von ihrer Profession verstand, wirken musste wie eine Kräuterhexe. Doch noch bevor Guglielmo Sartori etwas sagen konnte, kamen Stefano und Nicola über ihn wie das Jüngste Gericht. Ehe es sich der plumpe Mann versah, hatten sie ihn rechts und links untergehakt und zogen, ja trugen ihn beinahe quer über den Hof und durch das Tor, das Fioretta ihnen flink geöffnet hatte, hinaus auf die Straße.
»Bei uns meldet man sich an«, beschied Stefano ihn. »Und wenn die padrona es für richtig hält, werden Sie vielleicht auch empfangen. Arrivederci, Signore. «
»Deine saubere padrona wird schon bald ihre Koffer packen müssen«, schrie Guglielmo außer sich vor Wut und wollte sich an Nicola vorbei zurück in den Hof drängen. »Die Seidenvilla gehört ihr nämlich gar nicht. Meine Anwälte werden das beweisen …«
»Geh nach Hause«, unterbrach Nicola ihn und gab ihm einen Schubs, der ihn wieder auf die Straße beförderte. »Und wenn ich dir einen Rat geben soll, amico : Lass dich hier nicht mehr blicken!«