18
Zweite Chancen
»Also … wir haben uns das jetzt überlegt.«
Wie an jedem Montagmorgen saßen sie in der Werkstatt um den großen Arbeitstisch herum, um gemeinsam zu besprechen, was in der Woche, die vor ihnen lag, zu tun war. So aufgewühlt hatte Angela Stefano schon lange nicht mehr erlebt. Nicola hatte tiefe Ränder unter den Augen und wirkte ausgesprochen mürrisch, und sie fragte sich, ob er sich mit Edda wohl wieder ausgesöhnt hatte nach dem Wortwechsel in der vergangenen Nacht.
»Wir haben sie nämlich auch gesehen«, fügte Orsolina hinzu. »Beim Einkaufen am Samstag, ehe wir meine Schwester in Treviso besucht haben. Wir sind noch kurz in diesen Supermarkt gegangen, um ein paar Flaschen Wein mitzubringen. Und da war sie. Lidia.«
Angela nickte. Jetzt verstand sie. »Was habt ihr euch überlegt?«
»Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen«, gestand Stefano. »Sie sah so … na ja, überhaupt nicht mehr so selbstbewusst aus wie früher. Irgendwie als hätte man ihr den Lebensmut genommen.«
»Es war ganz einfach fürchterlich«, fügte Orsolina hinzu. »Wenn ich mir überlege, ich müsste das tun …«
Alle blickten betreten drein, offenbar versuchte nun jeder, sich das vorzustellen.
»Also wenn ihr meine Meinung wissen wollt … Ich war ja von Anfang an dafür, sie zu fragen, ob sie zurückkommen möchte.« Mitfühlend wie Maddalena nun mal war, wirkte sie richtig unglücklich bei dem Gedanken an das Schicksal ihrer einstigen Kollegin.
»Ist das nicht die, die euch verraten hat?« Nicola verzog geringschätzig das Gesicht. »Wer sagt uns denn, dass sie das nicht wieder tut?«
»Ich finde, du solltest in dieser Sache überhaupt kein Mitspracherecht haben.« Anna verschränkte ihre Arme vor der Brust und hob angriffslustig ihr hübsches Kinn. »Du kennst Lidia ja überhaupt nicht und kannst das nicht beurteilen.«
»Vielleicht sieht er das Ganze gerade deshalb objektiver als wir?« Wie so oft versuchte Fioretta, ausgleichend zu wirken. Oder wollte sie Nicola vor den anderen in Schutz nehmen? Er schenkte ihr jedenfalls ein dankbares Lächeln.
»Nola, was ist Ihre Meinung?« Angela war aufgefallen, dass die Betriebsälteste noch gar nichts gesagt hatte.
»Ich bin dafür, dass Sie sie fragen«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Allerdings würde ich gern ein paar Bedingungen daran knüpfen, wenn sie tatsächlich zurückkommt.«
»Unbedingt«, stimmte Orsolina ihr zu. »Keine Debatten mehr wie früher, keine Extrageschichten. Sie hat sich in unsere Gemeinschaft einzufügen so wie jeder andere hier auch.«
»Und sie soll uns nicht mehr auf die Nerven fallen«, schlug Stefano vor.
»Das kann Signora Angela ja schlecht in den Vertrag schreiben«, wandte Maddalena ein.
»Ich bin ganz eurer Meinung«, sagte Angela. »Wollen wir abstimmen? Wer ist dafür, dass ich Lidia anbiete, wieder bei uns zu arbeiten?«
Zuerst hoben Maddalena, Stefano und Orsolina ihre Hände. Fiorettas Stimme folgte, auch Anna war dafür.
»Was ist mit Ihnen, Nicola?«
»Ich dachte, ich hätte keine Stimme.« Er warf Anna einen provozierenden Blick zu. »Besser, ich enthalte mich«, fügte er jedoch rasch in ernsthaftem Ton hinzu, als er sah, dass Angela etwas einwenden wollte. »Anna hat ganz recht. Ich kann ja schlecht für oder gegen jemanden sein, den ich nicht kenne.«
Annas Miene wurde weich, und der Blick, den sie ihrem Kollegen zuwarf, sprach Bände.
»Also gut«, schloss Angela die Versammlung. »Ich werde mit Lidia sprechen.«
Es war mild, der Tag versprach, frühlingshaft warm zu werden, und
als Angela den Hof überqueren wollte, sah sie, dass die Tür zum Schneideratelier offen stand.
Sie trat ein und fand Mariola mit beiden Babys, die einträchtig nebeneinander in Valentinas Stubenwagen schliefen. Sie selbst nähte etwas.
»Nathalie sagt, ich kann ihr gar nicht helfen«, erklärte die junge Neapolitanerin. »Und da wir diese Schachtel mit den schönen Stoffresten gefunden haben, mach ich jetzt Handytaschen daraus. Sieh mal. Gefällt dir das?«
»Und wie!« Bewundernd betrachtete Angela das türkisfarbene Täschchen, das Mariola gerade mit Perlen bestickte. »Wunderschön. So was geht sicher gut im Laden!«
Als Angela in den hinteren Raum kam, fand sie Nathalie auf einer Kiste sitzen. Sie war ganz versunken in ein Stück Papier.
»Du glaubst nicht, was ich gefunden habe«, sagte sie statt einer Begrüßung, und ihre dunkelgrünen Augen waren rund vor Staunen. »Ich meine, falls das hier wirklich ist, wofür ich es halte.« Sie streckte Angela das vergilbte Schriftstück entgegen. Es war ein Brief.
Angela nahm ihn und versuchte, die Handschrift zu entziffern. »Was ist das?«, fragte sie und blickte auf. »Kannst du das lesen?«
»Sieh dir doch mal die Unterschrift an.«
Nathalie hob eine Dokumententasche aus abgegriffenem Leder hoch und fuhr vorsichtig mit der Hand hinein, während Angela ihrer Aufforderung folgte.
Der erste Buchstabe war ein schwungvolles L, das war klar. »Livio?«
Angela sah fragend auf. Und dann begriff sie erst. Hinter den Vornamen hatte der Schreiber ein großes S gesetzt. Livio Sartori. Der Mann, von dem Carmela behauptete, er sei ihr Vater?
»Wie es aussieht, hat Lela in dieser Tasche ein paar private Dokumente aufbewahrt«, sagte Nathalie und beförderte weitere Schriftstücke hervor. Auch Fotos waren darunter. »Das muss man sich in Ruhe genauer ansehen«, erklärte sie und ließ die Unterlagen zurück in die Mappe gleiten. »Aber dieser Brief, Mami, der ist der Hammer.«
»Wieso denn?«
Nathalie schloss die Tasche und erhob sich. Sie trat zu ihrer
Mutter und sah ihr über die Schulter.
»Hier.« Sie deutete mit dem Finger auf eine Stelle in der Mitte des Briefes und las halblaut und stockend vor, was sie zu entziffern glaubte, denn die Schrift war wirklich schwer zu lesen. Dann übersetzte sie frei: »Die eine Sache aber, Schwester, muss doch noch gesagt sein, falls ich aus diesen verdammten Bergen nicht mehr lebend herauskomme. Es drückt mich schon seit einer Weile. Und mit diesem Unrecht will ich nicht aus dieser Welt gehen. Wir alle wissen, dass C. von keinem anderen schwanger wurde als von mir. Es ist an der Zeit, die kleine Carmela anzuerkennen. Wenn ich es nicht mehr kann, lege ich es in deine Hand, für Recht zu sorgen. Auch wenn ich weiß, wie bitter das für dich sein wird.«
Angela und Nathalie sahen einander an. »Das ist genau das, was Carmela braucht, um ihre Verwandtschaft zu beweisen«, sagte Nathalie.
»Bist du sicher, dass dies hier wirklich ›Carmela‹ heißt?« Angela hielt das vergilbte Papier mehr ins Licht.
»Ich denke schon.« Nathalie nahm ihr den Brief wieder ab und hielt ihn sich dicht vor die Augen. »Wir werden eine Lupe nehmen und alles noch mal ganz genau durchgehen. Ach, Mami, wäre das nicht phänomenal?«
»Ja, das wäre es.« Angela konnte es immer noch nicht recht glauben. »Hast du sonst noch etwas Interessantes gefunden?«
Nathalie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass man das da aufbewahren muss«, erwiderte sie und wies auf die anderen Schubladen des Aktenschranks mit den Hängeregistern. »Rechnungen, Bilanzen, Geschäftskorrespondenz. Ich denke, das kann alles weg.« Sie hob die Ledertasche. »Das hier war der Schatz, den sie versteckt hielt, diese Lela Sartori.«
»Danke, dass du mir das abgenommen hast.« Angela legte liebevoll ihren Arm um die Schultern ihrer Tochter. Aus der angrenzenden Schneiderei drang das Weinen eines und gleich darauf das zweier Babys. »Jetzt wirst du anderswo gebraucht«, sagte sie mit einem Lächeln.
Nathalie drückte ihr seufzend die Ledermappe in den Arm.
»Dann werde ich mal wieder zur Milchpackung mutieren«, bemerkte sie mit einem Zwinkern und ging hinüber zu Mariola und den beiden Babys.
Angela fand gerade noch Zeit, die Mappe mit dem kostbaren Inhalt in ihre Wohnung zu bringen, als auch schon das Hupen des Touristenbusses erklang, der auf der Piazza della Libertà achtzig Engländerinnen ausspuckte, die gleich darauf den Laden der tessitura di Asenza
stürmten.
»Ich hab gerade mit dem Filialleiter der Supermarktkette telefoniert«, erklärte Fioretta am folgenden Morgen mit einem strahlenden Lächeln, als Angela ins Büro kam. »Stell dir vor, ich hab herausgefunden, in welcher Schicht Lidia diese Woche arbeitet. Denn du kannst sie ja schlecht an der Kasse ansprechen, oder?«
»Wie hast du denn das geschafft?« Angela staunte einmal mehr über die Findigkeit ihrer Assistentin.
»Ach, ich hab ihm einfach ein kleines Märchen erzählt«, entgegnete Fioretta leichthin. »Dass ich ihre beste Freundin wäre und wir eine Überraschung für sie planen.« Ihr Grinsen wurde breiter. »Bis auf die beste Freundin stimmt das ja sogar, nicht? Also. Sie hat Frühschicht und verlässt den Laden um sechzehn Uhr. Der Personaleingang ist links um die Ecke vom Parkplatz. Schau mal, hier.« Sie wies auf ihren Bildschirm, wo sie den Lageplan des Supermarkts aufgerufen hatte. Dann warf sie Angela einen neugierigen Blick zu. »Wann wirst du fahren?«
Angela nahm an ihrem Schreibtisch Platz und ging rasch im Geist ihre To-do-Liste durch.
»Am besten gleich heute«, beschloss sie, und das Strahlen in Fiorettas Augen verriet ihr, wie gespannt ihre Assistentin war, was Lidia zu ihrem Vorschlag sagen würde.
Normalerweise brauchte sie eine Stunde mit dem Wagen bis Treviso. Um jedoch auf keinen Fall zu spät zu kommen, verließ Angela bereits um halb drei die Seidenvilla. Sie hatte den Morgen genutzt und reiflich über das Angebot nachgedacht, das sie Lidia unterbreiten wollte. Im vergangenen Frühjahr hatte die Weberin ihr Ärger bereitet, als sie mit den Konditionen, die sie gemeinsam festgelegt hatten, nicht mehr einverstanden gewesen war. Als Angela die Seidenvilla übernommen hatte, waren sie übereingekommen, dass alle Mitarbeiter gleich viel verdienen sollten und dass sie aufgrund
der schweren körperlichen Belastung an den alten Webstühlen ihre Arbeitszeit selbst einteilen konnten. Mit dieser Regelung waren sie gut gefahren. Angela mischte sich nicht ein, wenn eine Weberin aus persönlichen Gründen einmal kürzertrat, denn sie wusste, dass ihre Leute ihr Bestes gaben. Ihr war ebenso klar, dass es nur dann erstklassige Seidenstoffe gab, wenn der Weber oder die Weberin sich wohlfühlte. Jede Gereiztheit schlug sich in der Qualität des Produkts nieder. Ein einziges Wortgefecht konnte viele Meter Stoff verderben, also gab sie ihren Leuten den notwendigen Freiraum, damit es ihnen gut ging.
Dieses sorgfältig ausbalancierte Gleichgewicht zwischen den Weberinnen und Webern hatte Lidia im vergangenen Jahr empfindlich gestört. Mit der Begründung, ihre Stoffe seien wertvoller als die ihrer Kollegen, hatte sie mehr Lohn gefordert und jede Menge Unfrieden gestiftet. Am Ende war sie dem lukrativen Angebot des Seidenfabrikanten Massimo Ranelli gefolgt und hatte gekündigt. Und eines war klar: Sollte Lidia je wieder in die Seidenvilla zurückkehren, durfte so etwas auf keinen Fall mehr passieren.
Über solchen Gedanken erreichte Angela Castagnole. An einer Baustellenampel mit allzu kurzen Grünphasen verlor sie viel Zeit und war froh um den Puffer, den sie eingeplant hatte. Als sie den Wagen endlich auf dem Kundenparkplatz des Supermarktes abstellte, war es zehn vor vier.
Sie stieg aus und suchte den Personaleingang, und als eine Parkbucht ganz in seiner Nähe frei wurde, stellte sie ihr Auto um. Gleich auf der anderen Straßenseite gab es ein Fastfood-Restaurant, dorthin konnte sie Lidia einladen, um alles in Ruhe zu besprechen.
Angela stellte fest, dass sie nervös war. Lidia war immer eine schwierige Gesprächspartnerin gewesen, unberechenbar, provozierend und spröde. Wieso sollte sie sich eigentlich erneut mit einer so komplizierten Mitarbeiterin belasten? Machte sie gerade womöglich einen riesengroßen Fehler?
Die digitale Zeitanzeige in ihrem Wagen sprang auf 15:57 Uhr. Lidia würde pünktlich Schluss machen, davon war auszugehen. Ich sollte besser aussteigen und zum Personalausgang gehen, dachte Angela, damit ich sie nicht verpasse. Und doch rührte sie sich nicht vom Fleck.
Es hatte auf der Hinfahrt zu regnen begonnen, und als die schwere Tür aufgestoßen wurde und zwei Frauen herauskamen, wichen sie erschrocken zurück und spannten umständlich ihre Regenschirme auf. Was, wenn Lidia in Begleitung ist, schoss es Angela durch den Kopf, als sie erkannte, dass keine der beiden Frauen die Weberin war. Oder wenn sie abgeholt wurde?
Wieder ging die Tür auf. Eine einzelne Frau verließ das Gebäude und öffnete mit eckigen Bewegungen, die Angela sehr vertraut vorkamen, einen Schirm. Ja, es war Lidia. Jetzt oder nie. Eilig stieg Angela aus dem Wagen.
Es regnete in Strömen. An einen Schirm hatte sie nicht gedacht, ihre Jacke hatte jedoch eine Kapuze, und die zog sie sich nun über den Kopf. Lidia hatte inzwischen den Vorplatz überquert und stellte sich an einen Fußgängerübergang. Die Ampel stand auf Rot. Angela fluchte innerlich. Nun hatte sie so viel Zeit gehabt und mit ihrem Zögern kostbare Minuten verloren. Mit hastigen Schritten eilte sie Lidia hinterher.
»Buonasera
, Lidia«, sagte sie, als sie außer Atem neben ihr ankam.
Unwirsch wandte die Frau den Kopf und starrte sie an, als wäre sie eine Erscheinung. Die Ampel schaltete auf Grün, die Menschen um sie herum setzten sich in Bewegung. Der Regen trommelte auf Angelas Kapuze. Wind war aufgekommen und wehte ihr die Tropfen ins Gesicht. Noch immer sah Lidia sie überrascht an, dann wandte sie sich wie in Panik ab und machte Anstalten, die Straße zu überqueren.
»Warten Sie bitte«, sagte Angela und hielt Lidia sacht am Arm fest.
Lidia riss sich brüsk los, blieb jedoch stehen. Die Ampel wurde wieder rot.
»Was wollen Sie?«, fragte sie. Ihre Stimme klang heiser. »Ich hab gewusst, dass Sie irgendwann noch mal auftauchen würden. Allora?
Haben Sie genug gesehen, um mit den anderen über mich zu lachen? Kann ich jetzt nach Hause gehen?«
»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, entgegnete Angela.
»Worüber denn?«
»Lassen Sie uns das im Trockenen tun«, schlug Angela vor. Sie sah Lidias Zögern, ihr Misstrauen. »Außer, Sie sagen mir hier und
jetzt, dass Ihre Stelle an der Kasse das ist, wovon Sie schon immer geträumt haben. Dann brauchen wir nicht miteinander zu sprechen, und unsere Wege trennen sich für immer.«
Um Lidias Mund zuckte es. »Na schön«, erwiderte sie. »Hier um die Ecke ist eine Bar mit ein paar Tischen. Nichts Vornehmes, aber es wird wohl gehen.«
Die Ampel sprang auf Grün. Sie überquerten die Straße, bogen in eine Seitengasse ein und betraten nach wenigen Schritten ein kleines Lokal.
Hinter der schlichten Theke polierte ein Mann Gläser. Angela steuerte den hintersten der kleinen Metalltische an. Über einen überdimensionierten Flachbildschirm flimmerten die neuesten Fußballergebnisse, zum Glück war der Ton abgeschaltet. Sie hängten ihre nassen Jacken über die verchromten Lehnen ihrer Stühle, von Lidias Schirm, den sie gegen die Wand lehnte, troff das Wasser.
Angela fröstelte. Am liebsten hätte sie ein Glas Tee bestellt. Da es in diesem Lokal jedoch keine warmen Getränke gab, nahm sie ein alkoholfreies Bier, Lidia bestellte ein Bitter Lemon.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als die Getränke vor ihnen standen.
Angela musterte Lidia eingehend. Im grellen Neonlicht der Bar wirkte sie gealtert, ihre helle, zarte Haut, die so typisch für Rothaarige war, hatte Falten bekommen. Wie früher hatte Lidia ihre rötlich blonden Brauen zu einem schmalen Bogen gezupft und mit einem Schminkstift nachgezogen. Ihre Augen waren entzündet, die Lippen rissig.
»Na, was denken Sie wohl, was passiert ist?« Es sollte vermutlich trotzig klingen, doch der selbstbewusste Ton gelang ihr nicht mehr. »Ranelli hat mich entlassen.« Sie presste ihre Lippen so fest zusammen, dass sie kaum noch zu sehen waren. »Er hat mir die Schuld daran gegeben, dass die Produktion nicht recht in Gang kam. Dabei hat er mit dieser Bande aus Neapel einfach die falschen Leute eingestellt.« Angela dachte an Nicola, der ebenfalls aus Neapel stammte. Zweifel befielen sie, ob sich die beiden vertragen würden. »Und dass der Webstuhl aus Vidor am Ende unbrauchbar war, auch daran soll ich schuld gewesen sein.«
Angela horchte auf. Also hatte sie richtig vermutet?
»Unbrauchbar?«, fragte sie sicherheitshalber nach.
»Es fehlte die Hälfte.« Lidia rieb sich die Schläfen, vielleicht hatte sie Kopfschmerzen. »Aber warum erzähl ich Ihnen das alles eigentlich?« Lidia fasste Angela misstrauisch ins Auge und beugte sich ihr über den Tisch entgegen. »Was wollen Sie von mir?«
»Würden Sie gern wieder in der Seidenvilla arbeiten?«
Einen Moment lang starrte Lidia sie an. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einer Grimasse. Angela war nicht sicher, ob sie gleich zu weinen oder zu lachen beginnen würde.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so zynisch sein können«, fauchte sie. »Mich derartig zu verspotten! Aber ja. Sie haben allen Grund, ich verstehe. Sie wollen es mir heimzahlen …«
Ihr bleiches Gesicht hatte rötliche Flecken bekommen. Sie ruckte mit ihrem Stuhl nach hinten, als wollte sie aufstehen.
»Moment, Lidia, Sie irren sich«, sagte Angela. »Ich bin weder zynisch, noch hab ich Freude daran, Sie zu verspotten. Eigentlich müssten Sie mich dafür gut genug kennen. Immerhin haben wir ein Jahr zusammengearbeitet. Und bis auf die letzten Wochen ziemlich gut, wie ich meine.« Lidia blieb auf ihrem Stuhl, ihr Blick war voller Zweifel. »Es ist mir ernst mit meiner Frage. Möchten Sie zurückkommen und wieder für die tessitura di Asenza
weben?«
»Und die anderen?«, stieß Lidia rau hervor. »Die werden mich doch lynchen.«
»Das werden sie nicht. Denn wie immer haben wir das gemeinsam besprochen«, erklärte Angela ruhig. »Wir alle haben uns das in Ruhe überlegt. Ihre früheren Kollegen sind dafür, dass wir es noch einmal miteinander versuchen. Natürlich gibt es gewisse Bedingungen, Lidia. Außerdem hat sich unsere Belegschaft vergrößert. Ich bin sehr froh, dass ich einen fähigen Jacquard-Weber mitsamt seinem Webstuhl für die Seidenvilla gewinnen konnte. Und damit Sie es von vorneherein wissen: Nicola Coppola kommt aus Neapel.« Sie sah Lidia eindringlich an, entschlossen, diese Verhandlung auf der Stelle abzubrechen, sollte Lidia sich abfällig gegen den unbekannten Kollegen äußern.
»Coppola?«, fragte Lidia verblüfft. »Wie ist Ihnen denn das gelungen? Ich dachte, Ranelli hätte den gesamten Clan verpflichtet.«
»Ja, das hat er wohl. Bis auf Nicola. Er hat versucht, sich allein durchzuschlagen, nachdem der Rest seiner Familie weg war, aber
das ist ihm nicht gelungen. Und so haben wir uns zusammengetan.« Sie wartete die Wirkung ihrer Worte ab. Doch als Lidia noch immer verwundert schwieg, fügte sie hinzu: »Lidia, ich schätze Ihre Arbeit sehr, nur deshalb bin ich hier. Falls Sie allerdings auch nur die geringsten Vorbehalte gegen Nicola Coppola haben, weil er aus Neapel kommt und mit Ihren früheren Kollegen verwandt ist, können Sie nicht zurückkommen. Denn ich will die gute Stimmung, die bei uns herrscht, seit Sie gegangen sind, auf keinen Fall mehr aufs Spiel setzen. Wenn Sie wieder für mich arbeiten wollen, dann unter den bekannten Vertragsbedingungen. Ich biete Ihnen an, unter denselben Konditionen einzusteigen, die Sie verlassen haben. Aber eines schwöre ich Ihnen: An dem Tag, an dem Sie Unfrieden stiften oder mehr fordern als die anderen, sind Sie wieder draußen.«
Sie hatte Widerworte erwartet, stolzes Aufbäumen oder zumindest sarkastische Bemerkungen. Doch sie hatte sich getäuscht. Lidia blieb ganz still, ihre Miene noch immer voller Staunen.
»Sie … Sie meinen es tatsächlich ernst? Sie wollen mich wirklich zurückhaben?«, fragte sie schließlich mit fast kindlicher Stimme.
»Ja. Unter den genannten Bedingungen würde ich mich freuen, wenn Sie zu uns zurückkämen.«
Und dann geschah etwas, womit Angela niemals gerechnet hätte. Es war, als würden die verhärteten Züge der Weberin schmelzen und zerfließen. Ihre aufrechte Gestalt schien in sich zusammenzusinken, und sie brach lautlos in Tränen aus.
Lidia weinte, ohne dass ein Laut aus ihrem Mund drang, während ihre Schultern zitterten. Angela konnte nicht anders, sie rückte ihren Stuhl näher an sie heran und legte vorsichtig einen Arm um die schmale Gestalt. Und das Unwahrscheinliche geschah, sacht lehnte Lidia ihren Kopf gegen Angelas.
Sie spürte die Anspannung des harten, mageren Körpers, nahm das Beben wahr, das durch ihn hindurchlief, und auf einmal war ihr, als könnte sie die Einsamkeit und Verzweiflung dieser Frau fühlen, die sich immer so überlegen und feindselig gegeben hatte. Endlich beruhigte sich Lidia, trocknete ihre Tränen, und Angela ließ sie behutsam los.
»Ihr Angebot zeugt von Größe«, sagte die Weberin schließlich mit zitternder Stimme. »Ich weiß nicht, ob ich an Ihrer Stelle …« Sie
räusperte sich. »Danke. Ja, ich würde gern zurückkommen.«
Da wusste Angela, dass sie keine Sorge mehr zu haben brauchte, dass ihr diese Frau noch irgendwelche Schwierigkeiten machen würde. Ihre abweisende Fassade hatte Risse bekommen, die sich nicht mehr schließen würden. Irgendwann würde ihr Lidia möglichweise sogar erzählen, warum sie so geworden war. Und wenn nicht, war das auch in Ordnung.