20
Das Testament
In der ersten Februarwoche kam überraschend Romina hereingeschneit, Dario Monti im Schlepptau.
»Wir stören doch nicht?«, fragte sie mit einem entwaffnenden Lächeln, nachdem sie Angela herzlich begrüßt hatte. »Weißt du, ich sehe mir mit Dario gerade ein paar Wohnungen an. Was macht der Umbau?«
Angela stöhnte. »Damit bin ich noch keinen Schritt weitergekommen«, bekannte sie. »Es war einfach zu viel los in den vergangenen beiden Wochen. Vittorio hat versprochen, mir zu helfen …«
»Warum Vittorio bemühen«, warf Dario Monti freundlich ein. »Der hat doch in Venedig genug zu tun. Lass mich das machen.« Und als er sah, dass Angela widersprechen wollte, fügte er rasch hinzu: »Bitte, ich helfe euch wirklich gern.«
Dabei sah er sie so flehentlich an, dass Angela es nicht übers Herz brachte, sein Angebot abzulehnen. Vermutlich war es ohnehin an der Zeit, die alten Vorbehalte gegen diesen Mann, der sich ja bereits bei ihr entschuldigt hatte, über Bord zu werfen.
Sie holte tief Luft und sagte: »Danke, das ist sehr nett von dir.«
Als sie gegen Mittag gemeinsam mit Romina und Dario zum Hotel Duse aufbrach, um dort zu Mittag zu essen, hatten sie alles so weit besprochen. Ohnehin wusste Romina am allerbesten, wie das Modeatelier einzurichten war. Angela war erleichtert, natürlich war Monti als ortsansässiger Architekt genau die richtige Adresse für den Ausbau des Ateliers. Sie blieb ein paar Schritte hinter den beiden zurück, um Vittorio anzurufen und ihm zu sagen, dass er sich nicht weiter mit dieser Sache belasten sollte. Das Wetter hatte umgeschlagen, es war warm geworden. Um die beiden Stehtische auf
der Piazza vor der Bar des Hotel Duse stand ein halbes Dutzend Männer in Anzug und Krawatte in der Mittagssonne beisammen, sie unterhielten sich aufgeregt.
»Ist das nicht diese Deutsche, die dem alten Rivalecca die Seidenvilla abgeschwatzt hat?«, hörte sie im Vorübergehen jemanden zischen. »Wer weiß, wie sie das angestellt hat …«
»Da brauchst du nicht lange zu fragen«, antwortete ein anderer höhnisch.
Angela wandte sich zu der Gruppe um – alle steckten die Köpfe zusammen und taten, als wäre nichts gewesen. Als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass sie diese Männer nur vom Sehen kannte. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Kurz erwog sie, den Stier bei den Hörnern zu packen, sich zu den Lästermäulern zu gesellen und zu fragen, wer ihr was vorzuwerfen hatte. Doch sie war zu schockiert, der Augenblick war vorüber, und sie begab sich eilig in die Bar, wo sie Romina und Dario an der Theke stehen sah. Ihr Herz schlug heftig.
Sie bestellte wie die anderen das Tagesmenü, dem Gespräch zwischen Romina und Dario konnte sie allerdings nicht recht folgen, immer wieder wanderten ihre Gedanken ab und ihre Augen hinüber zu der Gruppe vor dem Hotel. Auch wenn eine vernünftige Stimme in ihr sagte, dass sie das Gerede am besten vergessen sollte – es gelang ihr nicht.
»Angela, was ist mit dir?« Romina sah sie mit ihren dunklen Augen besorgt an.
»Äh … nichts. Warum?«
»Ich hab dich schon dreimal etwas gefragt, aber ich sag es gern noch mal.« Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Rominas Gesicht. »Wie groß wird die Belegschaft am Ende sein? Dario sollte das wissen, damit wir ausreichend Arbeitsplätze mit Stromanschluss einrichten.«
Erleichtert, sich mit etwas anderem beschäftigen zu können, wandte sie sich Romina zu. »Anfangs wirst du mit Mariola allein sein«, sagte sie. »Du hast sie ja schon kennengelernt. Sie näht mit der Hand, stickt und appliziert Perlen. An mehr Personal habe ich vorerst nicht gedacht.«
»Es gibt Platz genug. Nur falls du in ein paar Jahren noch jemanden einstellen solltest«, beruhigte Dario sie. »Die Leitungen im
Boden verlegen wir vorsorglich gleich, das ist kein Problem.« Er musterte sie aufmerksam. »Stimmt etwas nicht? Hast du schlechte Nachrichten bekommen? Du wirkst so besorgt.«
»Nein, es ist alles in Ordnung«, schwindelte Angela und zwang sich zu einem unbeschwerten Lächeln. Sie hatte ganz vergessen, welch guter Beobachter der Architekt war.
»Dario hat übrigens eine wunderschöne Wohnung für mich gefunden«, plauderte Romina weiter. »Allerdings ist sie ein bisschen groß. Und teuer ist sie auch.« Sie überlegte. »Wärst du so lieb, sie dir mal anzusehen, Angela? Ich würde dich gern um deine Meinung fragen.«
Kurz erwog Angela abzulehnen. In letzter Zeit, fand sie, wollten zu viele Leute etwas von ihr, dabei fühlte sie sich müde und niedergeschlagen. Schließlich war sie in Trauer, ihr Vater war vor Kurzem gestorben, und dass keiner wissen durfte, wie nah ihr das ging, und es darüber hinaus Leute gab, die ihre Beziehung zu dem alten Mann verdächtig fanden – das alles strengte sie mehr an, als sie vor sich selbst zugeben wollte. Doch als sie Rominas erwartungsvollen Blick sah und das Vertrauen, das aus ihm sprach, sagte sie zu.
»Am besten gleich«, schlug sie vor, »falls das geht.«
Es ging. Dario hatte die Schlüssel zu dem Appartement, das sich ganz in der Nähe des Palazzo Duse im obersten Stockwerk eines historischen Wohnhauses befand. Es stand zum Verkauf, und Romina überlegte sich, ob es das Richtige für sie war.
»Hundertzwanzig Quadratmeter«, sagte Romina hingerissen, als sie den Flur betraten. Dielen aus Kastanienholz, mit der Zeit dunkel geworden, knarrten unter ihren Tritten. »Und sieh dir mal diese Aussicht an!«
Sie öffnete eine Flügeltür zu einem lichtdurchfluteten Raum mit bogenförmigen Fenstern, die den Blick über die Dächer des Städtchens freigaben, über die Weinberge, die einstmals Lorenzo Rivalecca gehört hatten, hinunter in Richtung Ebene.
»Wunderschön«, entfuhr es Angela.
»Sieh mal hier.« Romina war ihr vorausgeeilt und öffnete eine weitere Tür gleich daneben. »Das Schlafzimmer ist etwas kleiner.«
»Nun, es hat zweiundzwanzig Quadratmeter«, meinte Dario und
warf einen Blick auf den Grundriss. »Die Fenster gehen nach Osten, also hast du Morgensonne.«
»Die Küche ist dort drüben, groß genug, um Bankette zuzubereiten.« Romina ging zum anderen Ende des Flurs. »Gleich dahinter ist noch ein schönes Zimmer, sieh mal, Angela. Es liegt ein wenig für sich. Dreißig Quadratmeter. Meinst du, ich könnte das vermieten?«
Angela betrat den Raum. Er war L-förmig geschnitten, durch zwei Fenster Richtung Westen und eines nach Norden fiel angenehmes Licht hinein.
»In die Nische könnte man ein Bett stellen«, schlug Dario vor. »Und den Rest als Wohnraum nutzen. Die Küche müsstet ihr euch teilen.«
»Wie sieht es mit dem Badezimmer aus?«
»Es gibt zwei«, antwortete Romina. »Eines mit Wanne befindet sich drüben bei dem anderen Schlafzimmer. Hier gleich nebenan ist noch eines. Es hat zwar nur eine Dusche, aber …«
»Das macht doch nichts«, sagte Angela, als sie es sich ansah. »Allerdings würde ich den alten Plastikvorhang wegwerfen und eine Glastür einbauen lassen und …«
»Naturalmente«
, unterbrach Dario sie lachend. »Das wird alles auf den neuesten Stand gebracht. Nicht wahr, Romina?«
»Soweit es meine Finanzen erlauben, ja«, antwortete die Schneidermeisterin. »Was ich brauche, ist ein Mieter. Nur dann kann ich den Kauf finanzieren. Oder besser eine Mieterin. Eine nette Frau. Kennst du jemanden, Angela?«
Natürlich kannte Angela jemanden, der eine Bleibe in Asenza suchte. Und zwar Lidia. Ob die beiden Frauen wohl miteinander klarkämen?
»Ich kenne tatsächlich jemanden«, sagte sie. »Eine Weberin fängt bald bei mir an. Sie sucht etwas Passendes zum Wohnen.«
»Du stellst eine neue Weberin ein?« Dario bekam ganz kugelrunde Augen vor Staunen.
»Lidia war früher schon mal bei uns«, antwortete Angela ausweichend. »Jetzt hat sie eine Weile woanders gearbeitet und möchte in die Seidenvilla zurückkehren.«
»Lidia. Ist das nicht die, die so wundervolle Stoffe weben kann?
Sie kommt zurück? Das ist doch fabelhaft«, warf Romina ein. »Ist sie denn nett?«
»Nun …« Angela zögerte. »Ich denke, du solltest sie kennenlernen und dir selbst ein Bild machen.«
Sie versprach, den Kontakt zwischen ihr und Lidia herzustellen, und verabschiedete sich.
Der Heimweg führte sie über den Kirchplatz. Am Palazzo Duse waren alle Fensterläden geschlossen. Ein Stück des weiß-roten Absperrbands hatte sich losgerissen und flatterte im Wind. Dürres Winterlaub lag auf dem Kiesweg. Alles wirkte so leblos auf dem Grundstück, nur der Orangenbaum neben der Freitreppe war noch voller Früchte, auch wenn die meisten heruntergefallen waren, leuchteten sie tröstlich zu Angela herüber.
Sie riss sich los und ging weiter. Als sie den Eingang zum Friedhof erreichte, konnte sie nicht anders und drückte das Tor auf. Ihre Beine trugen sie ganz von allein zu dem Grab, an dem sie ihren Vater oft hatte stehen sehen.
Ich hätte Blumen mitbringen sollen, ging es ihr durch den Kopf. Weiße Lilien oder Callas. So wie Lorenzo sie jede Woche hergebracht hatte.
Auf den Tag vor einem Monat war Lorenzo Rivalecca gestorben. Noch immer lagen die Blumengebinde und Kränze von der Beerdigung auf dem noch frischen Grabhügel, verwelkt und durch den Regen verdorben. Keiner hatte sich darum gekümmert. Angelas erster Impuls war es, die Friedhofsgärtnerei anzurufen und Order zu geben, hier Ordnung zu schaffen. Aber in welcher Funktion? Als gute Freundin des Hauses? Die Leute zerrissen sich ja jetzt schon die Mäuler über sie. Wie sehr sie das schmerzte, wurde ihr von Tag zu Tag mehr bewusst. Und wütend machte es sie. Das provisorische Holzkreuz mit Lorenzos Namen, Geburts- und Sterbedatum stand windschief, sie konnte nicht anders, als hinzugehen und es aufzurichten, und als es immer wieder in der regennassen Erde umsank, rammte sie es mit aller Kraft tiefer in den Boden.
»Na, wenn das nicht la
tedesca
ist«, schnarrte es hinter ihr, und sie fuhr erschrocken herum. »Hätte nicht gedacht, dass Sie so kräftig sind.« Es war Carmela, die sie mit schief gelegtem Kopf anlächelte.
»Ganz schöne Sauerei, was?« Sie wies mit dem Kopf auf die verfaulten Überreste des Blumenschmucks. »Er würde sich totlachen, wenn er nicht schon tot wäre.«
»Wie sind Sie denn hier hochgekommen?«, fragte Angela überrascht.
»Auf meinen vier Beinen«, gab Carmela zurück und hob einen der beiden Stöcke ein wenig an. »Mir geht es seit ein paar Tagen besser. Um genau zu sein, seit Ihrem Besuch. Man könnte sagen, Sie hätten eine Wunderheilung vollbracht.« Sie bedachte Angela mit einem breiten Lächeln, das ihr etwas zu groß geratenes Gebiss sehen ließ. »Wer rastet, der rostet«, fuhr sie fort. »Und deshalb mach ich täglich meine Runde. Und schon hab ich Sie ertappt. Wissen Sie eigentlich, dass man Sie im Städtchen für Rivaleccas Geliebte hält?«
Carmela begann zu lachen, und es schien, als könnte sie gar nicht mehr aufhören. Schließlich musste sie husten und lief puterrot an.
»Also ehrlich, ich finde das nicht lustig«, wandte Angela ein und klopfte der alten Frau sanft auf den Rücken, worauf sich der Husten legte.
»Na danke, das glaub ich Ihnen gern.« Carmela musterte sie eingehend. »Stimmt es, dass Sie einen Brief bekommen haben?«
»Was für einen Brief?«, fragte Angela und wusste doch ganz genau, was die Alte meinte.
»Na, eine Einladung zur Testamentseröffnung.« Carmela blickte sie unerbittlich an.
»Nein«, entgegnete Angela. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Edda hat das zu Maddalena gesagt. Und die hat es von Davide Bramantes Frau. Also stimmt es, oder stimmt es nicht?«
»Ich habe noch kein Schreiben bekommen«, antwortete Angela genervt. Dieses Städtchen war wirklich die reinste Klatschhölle. Carmela fixierte sie noch intensiver, falls das überhaupt möglich war.
»Irgendetwas verheimlichen Sie«, meinte sie schließlich. »Ich bin zwar nicht so verrückt zu glauben, Sie hätten sich mit dem alten Kerl eingelassen. Aber zwischen Ihnen und Lorenzo, da war doch etwas, oder? Schon allein, dass Sie jetzt hier sind, hat was zu bedeuten.« Sie wies mit ihrem Stock auf das Grab. »Keiner kommt hierher, nicht einmal Guglielmo. Weil keiner ihn leiden mochte.«
»Und warum sind dann Sie
hier?«, wollte Angela trotzig wissen.
Carmela schwieg und mümmelte auf ihrem Gebiss herum. »Ich weiß auch nicht«, gestand sie mürrisch. »Alles ist durcheinandergekommen, seit Sie hier sind. Wir haben uns gehasst, Lorenzo und ich, darauf war Verlass. Er hat mich sehr schlecht behandelt nach Lelas Tod. Dabei hatte er so viel und brauchte selbst so wenig. Was hätte es ihn gejuckt, wenn er mir und meiner Maddalena wenigstens ein bisschen von seinem Reichtum abgegeben hätte? Er hätte es nicht einmal gespürt.« Verbittert starrte Carmela auf den Haufen verwelkter Blumen. »Und dann sind Sie gekommen. Er wurde direkt zugänglich, ja, ich geb es nicht gern zu, aber es ist die Wahrheit. Dass er erlaubt hat, dass ich ins Weinberghäuschen ziehe, war ein Wunder. Und diese kleine Neapolitanerin, die er in dem Gärtnerhäuschen aufgenommen hat … Mir hat er persönlich von seiner minestrone
gebracht …« Sie schüttelte staunend den Kopf, wohl in Erinnerung an Lorenzo Rivaleccas späte Verwandlung, und richtete ihren Blick forschend auf Angela. »Sie haben ihn weichgeklopft, wie auch immer Sie das angestellt haben. Geben Sie es zu: Ihnen konnte er keine Bitte abschlagen. Warum? Dafür muss es doch einen Grund geben.« Ihre dunklen Augen lauerten hinter der dicken Brille.
»Er wollte, dass wir es für uns behalten«, sagte Angela. Sie konnte nicht länger so tun, als wüsste sie nicht, wovon Carmela sprach. Dennoch dachte sie nicht daran, das Geheimnis zu lüften. »Ich respektiere seinen Wunsch.«
Carmela sah sie lange an. »Eines Tages komme ich dahinter«, prophezeite sie, drehte sich um und humpelte davon.
Angela sah ihr nach, bis ihre schmächtige Gestalt hinter der Kirche verschwand.
Drei Tage später trafen die Briefe ein. Davide behielt recht, sowohl Angela als auch Nathalie bekamen eine Einladung zur Testamentseröffnung. Und Matilde ebenfalls.
»Fehlt nur noch Pietrino«, scherzte Tess, als sie sich, auf Matildes Kochkünste neugierig geworden, an Emilias freiem Tag bei Angela zum Essen eingeladen hatte. »Jetzt zieh kein solches Gesicht«, versuchte sie Angela aufzuheitern. »Natürlich hat er euch in seinem
Testament bedacht, das war doch klar. Lass die anderen reden. Was kümmert es dich?«
»Sie erzählen herum, dass Mami ein Verhältnis mit Lorenzo gehabt hat«, wandte Nathalie halb belustigt, halb empört ein.
»Das ist absolut lächerlich.« Tess schüttelte unwillig ihren silbernen Bob und probierte von dem Maishühnchen. »Mmh, ist das köstlich! Das dürft ihr aber nicht Emilia weitersagen, hört ihr?« Sie tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und blickte in die Runde. »Ihr denkt doch nicht im Ernst, dass irgendjemand glaubt, Angela hätte mit diesem alten Mann …« Sie schüttelte sich. »Nein. In ein paar Wochen zerreißen sie sich das Maul über etwas anderes.«
»Beim Einkaufen hab ich auch so was gehört«, sagte Matilde mit unglücklicher Miene, die gekommen war, um eine Schüssel mit Polenta zu bringen. »Ich habe allen gesagt, dass sie sich schämen sollen.«
»Gar nicht drauf achten«, riet Tess. »Dann hört das am schnellsten auf. Was ist eigentlich mit Lidia? Wann kommt sie denn nun?«
»Anfang März«, berichtete Angela, erleichtert über den Themenwechsel. »Sie wird bei Romina einziehen.«
»Hoffentlich vertragen sich die beiden.« Tess wirkte skeptisch.
»Ich denke schon«, meinte Angela zuversichtlich. »Lidia hat sich verändert.«
»Wir werden ja sehen«, gab Tess zurück. »Im Moment ist sie ganz unten. Wenn sie erst wieder Oberwasser hat …«
»Ich mach mir da keine Sorgen.«
Angela horchte. Von der Straße klang wüstes Geschrei herauf. Und Gepolter, als würden Gegenstände auf die Straße geworfen.
»Was ist denn da los?« Auch Tess reckte den Kopf.
Nathalie sprang auf und lief zum Fenster. »Ach du liebe Zeit!«, rief sie. Erschrocken und amüsiert zugleich schlug sie sich die Hand vor den Mund.
Nun hielt es auch Angela nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie trat neben Nathalie und sah hinunter auf die Straße. Dort stand Nicola und schimpfte auf Neapolitanisch, während Kleidungsstücke auf ihn niederregneten. Sein uralter Koffer lag verdreht und halb zerrissen neben ihm auf dem Pflaster.
»Scher dich zur Hölle«, ertönte es aus Eddas Wohnung. »Mit dir bin ich fertig!«
Eine Ladung Herrenunterwäsche folgte, dann schlug klirrend ein Fenster zu.
»Herrje«, rief Angela und wandte sich ab. »Das war ja filmreif! Bitte komm vom Fenster weg, Nathalie. Das ist doch ohnehin schon peinlich genug für den armen Nicola.«
Aus der Wippe erklang Pietrinos Weinen.
»Immerhin kann Anna jetzt wieder hoffen«, konstatierte ihre Tochter trocken und kümmerte sich um ihr hungriges Baby.
»Und was ist mit der armen Fioretta?«
»Du bist nicht auf dem Laufenden, Mami. Fioretta ist seit einer Woche mit Luca zusammen.« Pietrino schrie zornig, weil er die Brustwarze nicht gleich fand. »Ja, ist ja gut. Wenn ihr Männer nicht sofort bekommt, was ihr wollt, gibt’s gleich Ärger, was?« Der Kleine fand seine Quelle und begann mit kleinen, gierigen Lauten zu trinken.
»Wie war das? Luca hat endlich bei Fioretta landen können?« Auch Tess war offenbar nicht im Bilde gewesen. »Wie schön!«
»Er hat ihr einen Ring geschenkt«, meinte Nathalie träumerisch. »Mit einem wunderschönen Brillanten.« Sie seufzte. »Ist das nicht romantisch?«
Tess und Angela wechselten einen besorgten Blick. Solche Träume hatte ihre sonst so grundpraktische Nathalie?
»Lass mich mal nachrechnen«, meinte Tess. »Soweit ich weiß, hat Luca acht Jahre auf diesen Moment gewartet. Das nenne ich Beharrlichkeit.«
»Ich
nenn es Liebe«, widersprach Nathalie wehmütig.
»Wann ist denn nun die Testamentseröffnung?«, fragte Tess, zweifellos, um das Thema zu wechseln.
»Am 2. März«, antwortete Angela mit einem Seufzen.
»Das sind ja noch fast vier Wochen«, staunte Tess. »Na, die machen es ja spannend.«
Einstweilen hallte die Seidenvilla wider vom Lärm der Handwerker, die unter Dario Montis Regie das Schneideratelier renovierten. Eine Fußbodenheizung wurde eingebaut, Wände und Decken für die elektrischen Kabel ausgefräst, ein Waschbecken installiert und
schließlich alles wieder verputzt. Holzdielen wurden verlegt und die Wände gestrichen. Im hinteren Raum ließ Angela eine Kabine für die Anprobe einpassen und Spiegel aufstellen. Auch wenn die Kosten ihr selbst gestecktes Budget überstiegen, entschloss sie sich, von einem Schreiner Wandschränke einbauen zu lassen, um genügend Platz zur Aufbewahrung der Stoffe zu haben und für das vielfältige Nähzubehör wie Garne, Knöpfe, Litzen, Borten und all die feinen Glasperlen, die Mariola für ihre Perlenstickereien benötigte. Zuletzt wurden die Arbeitstische und Stühle geliefert, Lampen montiert und die Nähmaschinen aufgestellt. Pünktlich zum Monatsende waren sowohl das Studio als auch Rominas Wohnung fertig. Angela atmete auf. Nun würde eine neue Ära beginnen.
Der Tag, an dem Lidia in die Werkstatt der Seidenvilla zurückkehrte, war von allen mit einer Mischung aus Neugier und Unruhe erwartet worden. Als es schließlich so weit war, schien es, als wäre sie nie weg gewesen.
Sie kam, grüßte die anderen, die bereits an ihren Webstühlen saßen und ihr freundlich, jedoch mit deutlicher Zurückhaltung entgegensahen, zog dieselben alten Stoffschuhe aus derselben braunen Tasche hervor, die sie, wie all die Jahre zuvor, noch immer zum Weben trug. Sie ließ sich von Angela erklären, welchen Auftrag sie ihr zugeteilt hatte, und nahm von Orsolina Seidengarn in einem sanften Hellgrün entgegen. Dann begann sie zu weben. Auch die anderen machten mit ihrer Arbeit dort weiter, wo sie am Tag zuvor aufgehört hatten. Alles schien wie immer. Und doch war alles anders.
»Sie ist irgendwie zerbrochen innerlich«, sagte Nola.
Es war am Ende der Mittagspause, und wie immer standen sie gemeinsam mit Angela unter dem Maulbeerbaum beisammen, dessen Knospen mächtig angeschwollen waren und der nur noch auf ein paar Sonnentage wartete, um endlich wieder zu ergrünen. Lidia war nach Hause gegangen und noch nicht zurück. Fioretta holte gerade Kaffee.
»Aber sie wirkt netter«, wandte Stefano ein.
»Ihr verdammter Stolz ist gebrochen«, bemerkte Orsolina und nahm auf der Bank unter dem Baum Platz.
»Lasst sie in Ruhe«, bat Maddalena. Jeder konnte sehen, wie leid Lidia ihr tat.
Anna fragte Nicola: »Wie findest du
sie?«
»Keine Ahnung«, erwiderte er und fuhr sich zerstreut durch das Haar, sodass es nach allen Richtungen abstand. »Sie ist ja erst seit ein paar Stunden hier.«
Nachdem er bei Edda rausgeflogen war, hatte Angela ihm erlaubt, vorübergehend in die Gästewohnung zu ziehen. Denn es verstand sich von selbst, dass er in Nolas Dachstübchen nicht mehr willkommen war. Der sonst stets bestens gelaunte Neapolitaner war in keiner guten Verfassung, offenbar ging ihm das Zerwürfnis mit der streitbaren Friseurin an die Nieren. Entsprechend bemühte sich Anna, ihm das Leben leichter zu machen. Doch ob er es bemerkte?
Das Tor öffnete sich, und Lidia erschien. Kurz zögerte sie, ehe sie sich zu den anderen gesellte. Verlegenes Schweigen trat ein.
Maddalena fasste sich ein Herz. »Schön, dass du wieder da bist«, sagte sie herzlich.
»Ja, äh …« Nola räusperte sich und sah der Kollegin fest in die Augen. »Es ist gut, dich wieder bei uns zu haben.«
Lidias Augen füllten sich mit Tränen. »Ich … ich bin auch sehr froh«, sagte sie und schluckte ein paarmal heftig.
Zum Glück kehrte in diesem Moment Fioretta mit dem Tablett voller kleiner Espressotassen zurück, aus denen es verführerisch duftete, und auch Romina und Mariola kamen aus dem Studio. Die Sonne brach durch die frühlingshaften Wolken, und Angela bemerkte erleichtert, dass sich Lidias Befangenheit allmählich legte. Gelächter erfüllte den Hof, als Romina von ihrem Missgeschick mit dem neuen Boiler in ihrer Wohnung berichtete.
»Das müsst ihr euch mal vorstellen: Ich mit komplett eingeseiftem Haar, und auf einmal kommt nur noch eiskaltes Wasser. Ich schreie wie am Spieß! Zum Glück hört mich Lidia.«
»Ich bin fast zu Tode erschrocken«, warf Lidia ein.
»Und wisst ihr, was die gute Seele gemacht hat?«, fuhr Romina fort. »Sie hat in der Küche einen großen Topf Wasser erwärmt und mir gebracht.«
Angela atmete auf. Alles würde gut werden. Am Maulbeerbaum entdeckte sie die ersten Blüten. Wenn sie nur schon den morgigen
Tag überstanden hätte. Denn da würde das Testament ihres Vaters endlich eröffnet.
Um Punkt zehn Uhr fanden sie sich im Rathaus ein, in dem auch die Räume des Notariats untergebracht waren: Angela und Nathalie mit dem Baby, Carmela mit Maddalena in ihren besten Sonntagskleidern, Matilde und natürlich Guglielmo Sartori, der ihnen hasserfüllte Blicke zuwarf. Im letzten Moment erschien noch ein Mann, den Angela nicht kannte. Es war Sartoris Anwalt, eine hagere Gestalt in einem schlecht sitzenden Anzug mit Schuppen auf dem Kragen.
»Wie Sie alle wissen, sind wir hier, um Lorenzo Rivaleccas letzten Willen zu erfahren.« Dottore Zapotti schob umständlich seine Goldrandbrille zurecht. »Der Verstorbene hat ein notarielles Testament verfasst, jedoch nicht bei mir. Er hat es vorgezogen, dazu nach Treviso zu fahren.« Angela glaubte eine Spur von Missbilligung in der Stimme des Notars wahrzunehmen. »Der Inhalt ist mir also nicht bekannt. Der Kollege hat mir allerdings die Liste mit den Namen der hier Anwesenden zukommen lassen. Hinzugefügt habe ich nach neueren Erkenntnissen außerdem die Signore Carmela und Maddalena Ponzino …«
»Ja genau. Warum sind die beiden überhaupt hier?«, platzte Guglielmo heraus.
»Nun, inzwischen wurden dem Nachlassgericht Dokumente nachgereicht, die die Verwandtschaft der beiden Damen mit Lela Sartori belegen …«
»Was denn für Dokumente?« Guglielmos Stimme überschlug sich. Sein Anwalt versuchte vergeblich, ihn zu beschwichtigen. »Das ist doch ein abgekartetes Spiel.«
Dottore Zapotti hob die Hand und sah ihn streng an. »Sie können gern rechtliche Schritte dagegen einleiten, wenn Sie das für richtig halten. Lassen Sie uns nun zur Sache kommen. Meine Zeit ist begrenzt.«
Er hob einen amtlich verschlossenen Umschlag hoch, eigentlich fast ein Päckchen, sodass jeder der Anwesenden die Unversehrtheit des Siegels erkennen konnte, ehe er es brach. Zum Vorschein kam ein ganzes Konvolut an Dokumenten. Der Notar verschaffte sich einen Überblick, dann nahm er mehrere zusammengeheftete und
ebenfalls mit einem amtlichen Siegel versehene Seiten in die Hand.
»Ich verlese nun den Wortlaut des Testaments.« Zapotti räusperte sich, blickte in die Runde und begann. Angela lauschte den Eingangsfloskeln, in denen Name, Geburtsort und -datum sowie der Familienstand des Verstorbenen genannt wurden. In ihren Ohren rauschte es, alles kam ihr so unwirklich vor. Sie musste sich zusammenreißen, um den geleierten Worten des Notars zu folgen, und horchte erst auf, als Zapottis Redefluss stockte. Er räusperte sich und starrte einen Moment lang auf das Dokument in seiner Hand, ehe er fortfuhr.
»Meiner treuen Haushälterin Matilde Bonetti vermache ich aus meinem Barvermögen zehntausend Euro. Sie hat genug aushalten müssen, und ich sage ihr hiermit meinen Dank. Alles andere, mein Vermögen in Form von Bankkonten, Wertanlagen und Immobilien – siehe dazu amtlich beglaubigte beigefügte Liste, vermache ich Signora Angela Steeger und ihrer Tochter Nathalie zu gleichen Teilen. Dies ist mein ausdrücklicher Wille. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Der Notar sah auf. »So steht es hier«, fügte er hinzu.
Angela fühlte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Sie musste sich verhört haben, alles andere war unmöglich. Im Raum war es mucksmäuschenstill, alle schienen wie erstarrt. Bis Pietrino, der natürlich von alldem keine Ahnung hatte, ein glucksendes Geräusch von sich gab, das wie ein erfreutes Lachen klang.
»Ma che cazzo«
, fluchte Guglielmo Sartori und erhob sich so brüsk, dass sein Stuhl polternd umfiel. »Ich hab doch gesagt, der Alte hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Er richtete seinen Zeigefinger auf Angela und brüllte: »Diese verdammte Erbschleicherin!«
»Ist die Signora in irgendeiner Weise mit dem Verstorbenen verwandt?«, erkundigte sich sein Anwalt.
Der Notar sah sie fragend an.
»Ich möchte dazu nichts sagen«, antwortete sie, während Nathalie ihr unauffällig die Hand drückte.
Sie waren sich einig, das Geheimnis von Lorenzos Vaterschaft zu wahren, egal, was geschehen würde, so hatten sie es am Morgen noch einmal besprochen.
»Che strano«
, hörten sie Carmela vor sich hin murmeln. »Wieso hat er das getan?«
»Ich kann das gut verstehen«, wandte Maddalena ein. »Signora Angela war schließlich die Einzige, die sich um ihn gekümmert hat. Du hast ihn doch immer nur angeschrien. Komm, Mamma, lass uns nach Hause gehen.«
»Damit kommen Sie nicht durch«, stieß Guglielmo Sartori heftig hervor. »Ich zerre Sie vor jedes Gericht Italiens, bis ich mein Recht bekomme, das schwöre ich Ihnen …«
»Augenblick«, unterbrach ihn der Notar und blätterte in den Unterlagen des Nachlasses. »Wir sind noch nicht fertig. Hier ist ein weiterer Umschlag.« Er nahm ihn hoch und besah ihn von allen Seiten. »Auf diesem Umschlag steht: Zu öffnen im Falle, dass jemand mein Testament infrage stellt
.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Ich nehme an, das ist der Fall.«
»Und ob das der Fall ist!«, fauchte Guglielmo Sartori.
»Madonna,
was hat denn das schon wieder zu bedeuten?«, entfuhr es Carmela, während der Notar auch dieses Kuvert öffnete und den Inhalt mehrerer Blätter überflog.
»Es ist ein medizinisches Gutachten«, sagte er. »Und ein Brief des Verstorbenen. Ich werde zunächst diesen verlesen.« Er streifte Angela mit einem schwer zu deutenden Blick, und auf einmal begann ihr Herz wie wild zu schlagen.
»Ihr fröhlich Trauernden«
, las der Notar, plötzlich war es Angela, als spräche Lorenzo selbst zu ihnen. »Da ich mir lebhaft vorstellen kann, wie herrlich du jetzt tobst, du raffgieriger Guglielmo Sartori, hab ich noch eine weitere hübsche Überraschung für dich vorbereitet, mit der sich deine sicherlich brennende Frage beantworten wird, warum niemand anderes als die Frau, die ihr
la tedesca nennt, meine unanfechtbare Erbin ist. Wie aus der beigefügten medizinischen Analyse und dem Gutachten des Experten für Humangenetik Professore Dr. Luigi Riva hervorgeht, ist Signora Angela Steeger meine leibliche Tochter, die ich mit Rita, der Liebe meines Lebens, gezeugt habe. Wir waren wohl beide zu starrsinnig, um aus dieser Liebe etwas zu machen, und dass ich eine Tochter habe, erfuhr ich erst, als Angela nach Asenza kam und mir die Seidenvilla abkaufen wollte. Sie hat meine
alten Tage reicher gemacht und manches von mir ertragen müssen. Dafür danke ich dir,
mia figlia. Und du, Guglielmo …«
, der Notar räusperte sich, ehe er fortfuhr, »… fahr zur Hölle. Lorenzo Rivalecca.«
Angela glaubte zu träumen. Natürlich, sie erinnerte sich daran, dass Lorenzo sie aufgefordert hatte, einen Vaterschaftstest zu machen. Sie hatte das abgelehnt und sich mit ihm deswegen fürchterlich gestritten. Also konnte es keinen genetischen Test geben, denn sie hatte dem nicht zugestimmt. Und doch lag jetzt ein medizinisches Fachgutachten vor? Wie war das möglich? War Lorenzo so weit gegangen und hatte ein Gutachten fälschen lassen? Zuzutrauen wäre es ihm gewesen.
Wie durch einen dichten Schleier hindurch nahm sie das wütende Gebrüll von Guglielmo Sartori wahr. Sie sah Carmelas bleiches, eingefallenes Greisinnengesicht und hörte, wie diese sagte: »Diamine!
Natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?« Und sie drückte Maddalenas Hand, die ihr ohne Bedauern gratulierte.
Angela setzte ihre Unterschrift an die Stellen, auf die der Notar deutete, nahm einen Packen mit Unterlagen in Empfang, und erst, als sie draußen auf der Piazza della Libertà in der hellen Sonne standen, legte sich die Benommenheit, die sie erfasst hatte.
»Bist du okay?« Nathalie musterte sie besorgt.
Angela nickte und betrachtete die ungewöhnlich große Menschentraube vor dem Hotel Duse. Jeder Einzelne sah so verstohlen wie neugierig zu ihnen herüber. Von Guglielmo Sartori war nichts mehr zu sehen.
»Lass uns zu Tess gehen«, schlug sie vor.
Sie hatte eine Menge Fragen. Und wenn Tess sie nicht beantworten konnte, dann gab es wohl niemanden, der dazu in der Lage war.