2497. Kapitel

Sex als Gespräch

Die Zustimmung erfüllt nicht all ihre Versprechen. Sie erlaubt uns nicht, klar zwischen Sex und Vergewaltigung zu unterscheiden, doch trägt sie paradoxerweise dazu bei, die zentrale Frage einer moralischen und politischen Untersuchung der Sexualität zu identifizieren und zu beantworten. Einerseits zeigt sie uns, wie wir gesehen haben, die Notwendigkeit, auf die Details einer jeden Situation zu achten, um ihre Legitimität zu bewerten. Andererseits, und das ist das, was ich jetzt zeigen werde, erlaubt sie uns, einen ethischen Horizont zu entwerfen: Wenn es darum geht, Geschlechterungerechtigkeiten zu bekämpfen und dabei die sexuelle Autonomie einer und eines jeden zu bewahren, wenn es, um eine Formulierung von Gloria Steinem zu verwenden, darum geht, eher die Gleichheit als die Herrschaft zu »erotisieren«, dann ist die sexuelle Zustimmung, die als ein erotisches Gespräch verstanden wird, zweifellos die Zukunft der Liebe und des Sexes.

Wie wir gesehen haben, ist das Konzept der Zustimmung selbst vom Geschlecht durchzogen, vor allem in der von den Libertins des 18. Jahrhunderts geerbten französischen 250Tradition. Der Mann sagt an, die Frau sagt zu. Der Mann ist der Jäger, die Frau die Beute. Selbst für den Robert historique de la langue française bedeutet »consentant« nur dann »jemanden, der eine Liebes- oder Sexualbeziehung akzeptiert«, wenn es in der weiblichen Form verwendet wird. Der Mann stimmt nicht zu, er handelt. Und in dieser Hinsicht bedeutet die Tatsache, dass die sexuelle Zustimmung zum Prüfstein der Sexualmoral gemacht wird, dass es den Frauen zukommt, dem unersättlichen und unkontrollierbaren Verlangen der Männer zu begegnen. Im besten Fall (für sie) geben sie nach, im schlimmsten Fall erwehren sie sich dessen. Bei diesem Modell haben die Männer immer Lust auf Sex (also können sie nie vergewaltigt werden), und die Frauen haben immer Lust, müssen aber so lange das Gegenteil behaupten, bis ein Mann sie zum Nachgeben bringt.

Gegenüber diesem Modell bildet sich eine kontraktualisierende Version heraus, bei der beide Partner in dem Sinne zustimmen, dass sie gegenüber dem anderen auf ihr Recht auf Gewährleistung ihrer körperlichen und sexuellen Unversehrtheit verzichten. Hier erscheint der Geschlechtsverkehr quasi als ein Tauschhandel, bei dem es nicht mehr um Liebe oder Verlangen geht, sondern einfach um eine Art Austausch von sexuellen Dienstleistungen, bei dem die Risiken und Überraschungen minimiert werden. Die Zustimmung ist wie gefangen zwischen einem sexistischen Modell der Liebe alten Stils und einem kapitalistischen Modell der Begegnung von absolut unabhängigen Individuen, zwischen denen Gefühle und Liebe unwahrscheinlich erscheinen. Bei beiden Modellen wird die Beziehung zwischen den Partnern implizit über den Modus des Antagonismus gedacht: Der Mann muss über seine Frau triumphieren, niemand darf sein Gesicht ver251lieren in einem Austausch von Lüsten und Wünschen, bei dem das Streben nach Gleichheit über die Beziehung und die affektiven Bindungen siegt.

Doch die Etymologie von »consentir« beinhaltet selbst einen dritten möglichen Weg, den des gemeinsamen Fühlens, den der Zustimmung als Übereinkunft und Achtung des anderen. Wenn angesichts all der Vorbehalte, die man gegen das Vokabular der Zustimmung einwenden kann, dieses weiterhin so häufig verwendet wird, dann genau deshalb, weil es so etwas wie das Versprechen einer Erotik unter Gleichen beinhaltet, bei der Zustimmungen eher ausgetauscht als einseitig gegeben werden.

Denn, wie wir gesehen haben, liegt eine der Hauptquellen für die Gewalt und das Leid in der Sexualität darin, dass sie als eine Sphäre betrachtet wird, in der Männer etwas mit Frauen machen, in der Frauen empfangen, akzeptieren und nicht initiieren sollen. Diesem Szenario liegen, wie Nicola Gavey gezeigt hat, drei Hauptthesen zugrunde: die Vorstellung von einer allmächtigen männlichen Libido; die Vorstellung, dass Frauen den Sex nicht um seiner selbst willen begehren, sondern wegen dem, was er ihnen zu erreichen erlaubt (das heißt eine stabile monogame Beziehung); und die Vorstellung, dass der Geschlechtsverkehr in der Penetration des Körpers einer Frau mit dem Penis eines Mannes besteht. Kurz gesagt, Frauen würden Liebe wollen, die Männer Sex, und die Durchsetzung ihrer Libido durch die Männer sei für die Frauen der Preis, den sie für die Liebe zu zahlen hätten. Diese Vorstellungen bilden ein kulturelles Gerüst, das eine sexuelle Ordnung aufrechterhält und weiter zu errichten erlaubt, in der Männer Frauen vergewaltigen und in der Frauen die größten Schwierigkeiten haben, sich dem Verlangen der Männer zu widersetzen. Sie unterschlagen jedoch an252dere Realitäten: die Tatsache, dass Männer möglicherweise kein Verlangen haben1 (und daher möglicherweise von anderen Männern, aber auch von Frauen zum Sex genötigt werden2), die Tatsache, dass Männer Liebesbeziehungen wollen können, die Tatsache, dass Frauen Sex um seiner selbst willen und nicht als Tauschmittel wollen können, die Tatsache, dass Sex auch etwas anderes sein kann als Penetration.

Diese Bilder tragen auch zu der Vorstellung bei, dass die Partner beim Geschlechtsverkehr nicht das Gleiche wollen können (dass der Mann also sein Begehren durchsetzen müsse) und dass sie sich grundsätzlich in einem Austausch befinden, der für sie teilweise ungünstig ist. Der Mann würde Gefahr laufen, von der liebenden Frau in eine Falle gelockt zu werden, die ihn daran hindert, sein Schicksal zu erfüllen oder einfach nur frei zu leben – diese Vorstellung findet sich bereits in der Aeneis, wo Aeneas, gefangen in der Falle der unheilvollen Liebe Didos, fast vergaß, Rom zu gründen. Die Frau würde Gefahr laufen, ihre sexuellen Gunstbezeugungen zu gewähren, ohne die soziale und moralische Stabilität einer Ehe zu erhalten – daher die Anweisung, den Mann »warten« zu lassen, die in Handbüchern unablässig wiederholt wird, die dazu gedacht sind, die Männer ein für alle Mal »festzunageln«.3 In einem solchen Kontext sind Respekt, Höflichkeit und Liebe das Vorrecht der Frauen und erscheinen den Männern als Falle: Höflich und respektvoll zu sein, könnte das Signal einer aufkeimenden Liebe sein und damit die Aussicht auf einen unwiederbringlichen Verlust der Freiheit für den Mann, der sich vor allem nicht binden will. Paradoxerweise befinden wir uns somit in einer Situation, in der das »kulturelle Gerüst der Vergewaltigung« und die Geschlechternormen die Vorstellung bestätigen, dass 253die Sexualität außerhalb der Moral liege, dass Sex ein Kampfplatz sei, der nur durch die Gesetzgebung gegen sexualisierte Gewalt reguliert werde, und dass Männer ein großes Interesse daran hätten, zu vermeiden, Frauen als Partner, Gleichgestellte oder Freunde zu betrachten.

Sich die Liebes- und Sexualbeziehungen so vorzustellen, beruht auf einem Irrtum: Dass das Strafrecht nur über das zu befinden hat, was inkriminiert ist, bedeutet nicht, dass die Moral lediglich darin besteht, das Verbotene zu unterlassen. Und es reicht nicht aus, nicht vergewaltigt oder angegriffen zu werden, um eine erfüllende oder freudvolle sexuelle Erfahrung zu machen. Die moralische Frage, was guter Sex positiv ist, ist keine Frage von geringerer Bedeutung als die Frage, was schlechter Sex ist, der verboten werden sollte. Und die untergeordnete Bedeutung, die dem Nachdenken darüber beigemessen wird, was auf der moralischen Ebene und allgemein eine gute sexuelle Beziehung ist, hat zweifellos eine Rolle dabei gespielt, dass die sexuelle Revolution für die Frauen nicht all ihre Versprechen eingelöst und den Männern erlaubt hat, Frauen weiterhin als Objekte ihrer Lust zu benutzen und nicht als Subjekte, mit denen sie eine echte sexuelle Beziehung eingehen können.

Im aktuellen Kontext, der aus diesen Vorstellungen und den sozialen Dominanzen besteht, die unsere Sexualität strukturieren, ist es von der Realität zu weit entfernt, sich eine Sexualität zwischen vollkommen autonomen 254und gleichberechtigten Individuen vorzustellen. Aber man kann darüber nachdenken, was auf der moralischen Ebene gute sexuelle Beziehungen erlauben kann. Die als verbale Vereinbarung verstandene Zustimmung macht es möglich, dass die Interaktion weder in den Bereich der Vergewaltigung noch zu den problematischsten Fällen der Grauzone gehört. Sie reicht jedoch nicht, um positiv darüber nachzudenken, worin eine gute Sexualität bestehen könnte.

Die Unzulänglichkeit des sexuellen Verlangens

Die erste Antwort besteht in der Annahme, dass guter Sex gewünschter Sex in dem Sinne ist, dass er auf dem sexuellen Verlangen beruht, doch die Evidenz dieser Antwort ist trügerisch. Einerseits ist es durchaus möglich, eine sexuelle Beziehung zu begehren, ohne sie zu wollen oder ihr zuzustimmen. Stellen wir uns zum Beispiel folgenden Fall vor: Sascha trifft eine äußerst attraktive Person, nach der Sascha ein sofortiges sexuelles Verlangen hat, doch befindet sich Sascha in einer Beziehung mit jemandem, dem Sascha versprochen hat, keine sexuellen Interaktionen mit anderen Personen zu haben, und Sascha möchte dieses Versprechen halten. Es versteht sich von selbst, dass die Person, der Sascha begegnet, seine Zustimmung nicht allein auf der Grundlage seines Verlangens hätte. Dieser Fall zeigt, dass das sexuelle Verlangen nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Person einer sexuellen Beziehung zustimmt. Außerdem haben wir gesehen, dass das Patriarchat unsere Wünsche und unsere Erotik so prägt, dass man die Erfahrung machen kann, sich bestimmte Erfahrungen zu wünschen, sie aufregend 255zu finden – zum Beispiel die sexuelle Unterwerfung –, ohne sie umsetzen zu wollen.4

Andererseits erkennt man im Alltag, dass man Dinge tun will, die man nicht möchte, indem man sie als Mittel für andere Zwecke betrachtet (zum Beispiel putzen, um eine saubere Wohnung zu haben). Es scheint schwierig zu sein, zu behaupten – auch wenn dieses Argument regelmäßig verwendet wird –, dass die Sexualität einen besonderen Status hat, der solche Abwägungen unterbindet. Es scheint keine rationale Grundlage für die Annahme zu geben, dass es moralisch inakzeptabel ist, sexuelle Beziehungen zu einem anderen Zweck zu haben als dem Geschlechtsverkehr selbst. Beispielsweise wurde bereits erwähnt, dass es insbesondere in festen Beziehungen möglich ist, mit dem Partner sexuell zu interagieren, um ihm eine Freude zu machen oder ihn auf andere Gedanken zu bringen. Die Soziologen Jennifer Hirsch und Shamus Khan sprechen in ihrer sehr umfangreichen Untersuchung der Sexualität von Studierenden an der Columbia University hier von einem »sexuellen Projekt« und beschreiben es wie folgt:

Ein sexuelles Projekt umfasst die Gründe, aus denen jemand eine bestimmte sexuelle Interaktion oder Erfahrung suchen kann. Die Lust ist ein Projekt, das einem klar in den Sinn kommt; ein sexuelles Projekt kann aber auch sein, eine Beziehung aufzubauen oder aufrechtzuerhalten; oder es kann sich um das Projekt handeln, keine sexuelle Interaktion zu haben; oder durch Sex Zuspruch zu finden; oder Kinder zu haben; oder die eigene Position oder den Status in einer Gruppe zu verbessern oder den Status der Gruppe zu verbessern, der man angehört. Ein sexuelles Projekt kann auch darin bestehen, eine bestimmte Art von Erfahrung zu machen, zum 256Beispiel zwischen den Regalen der Bibliothek Geschlechtsverkehr zu haben; Sex kann das Ziel oder eine Strategie für ein anderes Ziel sein. Menschen haben nicht nur ein einziges sexuelles Projekt. Sie können viele davon haben. Intimität zu wollen schließt nicht aus, dass man auch andere Dinge will, wie zum Beispiel ab und zu einen »One-Night-Stand«.5

Diese Aufzählung, die Beispiele aus dem untersuchten Kontext nennt, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und es ist zweifellos vorstellbar, dass ihr auch das umstrittene Projekt, Geld zu verdienen, hinzugefügt werden müsste. Während der Verkauf von sexuellen Diensten zweifellos auf patriarchalen Normen der Sexualität beruht, kann man rationalerweise der Meinung sein (ohne dass damit die Frage, welche Position der Staat zur Sexarbeit einnehmen sollte, ein für alle Mal geklärt wäre), dass das Projekt, Sex gegen Geld zu tauschen, auf der individuellen Ebene ein sexuelles Projekt unter anderen ist. Man findet hier das Dilemma der Agentivität wieder, das weiter oben thematisiert wurde, und es ist wichtig, dass der Kampf gegen das Patriarchat keinen paternalistischen Gegensatz zur Bewahrung der sexuellen Autonomie bildet.

Die moralischen Voraussetzungen der Zustimmung

Die Grundfrage lautet also, wie wir sicherstellen können, dass wir mit anderen Erfahrungen machen, die in dem Sinne einvernehmlich sind, dass sie gewollt und geschätzt werden. Die Zustimmung im Sinne des Verzichts auf seine Rechte auf körperliche Unversehrtheit ist hier keine große Hilfe, da diese Definition weit von dem entfernt zu 257sein scheint, was Partner in einer erfüllenden sexuellen Beziehung gegenüber dem anderen tun. Wie die Debatten um die kalifornische Gesetzgebung zur Umsetzung einer Norm für die affirmative Zustimmung auf dem Campus der staatlichen Universitäten 2014 gezeigt haben,6 ist eines der entscheidenden Probleme bei der affirmativen Zustimmung die Frage, wie lange man zustimmt und wozu man zustimmt. Der Text des betreffenden Gesetzes stellt für jede sexuelle Beziehung folgende Forderung auf:

Die Norm der affirmativen Zustimmung, um festzustellen, ob die Zustimmung zu einer sexuellen Aktivität von beiden Seiten gegeben wurde. Eine »affirmative Zustimmung« ist die bekundete [das heißt verbale], bewusste und freiwillige Zustimmung, sich auf die sexuelle Aktivität einzulassen. Es liegt in der Verantwortung einer jeden Person, die an der sexuellen Aktivität beteiligt ist, sicherzustellen, dass er oder sie die affirmative Zustimmung des anderen oder der anderen zur Durchführung der sexuellen Aktivität hat. Fehlender Protest oder Widerstand bedeutet nicht Zustimmung, ebenso wenig Schweigen. Die affirmative Zustimmung muss während der gesamten sexuellen Aktivität bestehen und kann jederzeit widerrufen werden.

Dieser Paragraph beschreibt die Bedingungen, die notwendig sind, um zu verhindern, dass ein Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Partner stattfindet. Er legt beispielsweise fest, dass ein Geschlechtsverkehr mit einer schlafenden oder bewusstlosen Person, die unter Alkohol- oder Drogeneinfluss steht, nicht einvernehmlich sein kann. Das entscheidende Problem liegt jedoch im letzten Satz: Was ist eine Einwilligung, die »während der gesamten sexuellen Aktivität besteht«? Einige konservative 258Kommentatoren hielten es beispielsweise für wahrhaft lächerlich, sich vorzustellen, sich bei jedem Stellungswechsel der Zustimmung der Partner versichern zu müssen, und nicht nur für unrealistisch, sondern auch für unmöglich, sich die Zustimmung anders vorzustellen als etwas, das ein für alle Mal vor der sexuellen Aktivität erfolgen muss. Wie Vanina Mozziconacci und Cécile Thomé zeigen, ist diese Vorstellung von der Zustimmung als »Liebestöter«, der den »natürlichen« Ablauf des Sexualakts unterbricht, sehr weit verbreitet und erlaubt, eine Verbindung zwischen der Verhütung und der Zustimmung herzustellen: Man kommt dazu, die Zustimmung als eine unangenehme Formalität zu betrachten, die der Eigendynamik des Verlangens und der Lust zuwiderläuft und von der man sich ein für alle Mal befreien muss.7

Diese Vorstellung ist zunächst deshalb problematisch, weil sie eine soziale Tatsache fälschlicherweise zu etwas Natürlichem macht: Es gibt keinen »natürlichen« Ablauf des Geschlechtsakts, da Sex eine soziale und kulturelle Praxis ist. Unser Unbehagen angesichts der Vorstellung, den anderen um seine Zustimmung zum Geschlechtsakt zu bitten, ist wahrscheinlich weit stärker in patriarchalischen kulturellen Vorstellungen verwurzelt, gemäß denen der Mann über den sexuellen Widerstand der Frau siegen sollte, als in der vermeintlichen Unterbrechung eines natürlichen Prozesses. Und es ist schwer einzusehen, warum reden beim Sex erregend sein könnte, aber reden über die Zustimmung beim Sex ein unüberwindbares Mittel gegen die Lust sein soll.

Diese Vorstellung ist jedoch vor allem deshalb problematisch, weil sie stillschweigend annimmt, dass der Respekt und die Achtung des anderen, die in nicht sexuellen zwischenmenschlichen Beziehungen als notwendig be259trachtet werden, beim Sex nicht gelten sollten. Hier haben wir es mit einem puritanischen Reflex zu tun, der versucht, ein vermeintliches Geheimnis des Sexes zu bewahren, der als etwas Heiliges verstanden wird, das durch das Wort entweiht wird. Wenn man jedoch begreift, dass die Moral die Funktion hat, die Qualität unserer Handlungen zu bewerten, gibt es keinen Grund zu glauben, dass die üblichen moralischen Normen nicht zwischen Menschen gelten sollen, die sich lieben oder eine intime Beziehung miteinander haben. Im Gegenteil: Die Verletzlichkeit, die durch Gefühle der Liebe und Zuneigung entsteht, erfordert eine verstärkte moralische Aufmerksamkeit. Unsere Handlungen sind nicht notwendig gut, und wir sind nicht im Namen der Intimität von der moralischen Verantwortung befreit.

Hingegen stellt sich die Frage: Wenn man die Verletzlichkeit ernst nimmt, die durch affektive Gefühle und Liebe entsteht, die außerordentlich starke Spannung, die zwischen unseren sexuellen Wünschen, dem Bild, das man von sich haben möchte, und den Skripten der Geschlechter bestehen kann, und die besondere Stellung, die das Geschlecht in unserem Leben einnimmt und die es zur möglichen Quelle sowohl großen Leids als auch enormer Freude macht, wie kann man dann sicherstellen, dass die einen sich gegenüber den anderen positiv moralisch verhalten?

Sex als Beziehung unter Gleichen

Was bei dieser Form der Fragestellung durchscheint, ist die Notwendigkeit, Autonomie nicht nur als etwas zu hinterfragen, das vor Angriffen geschützt werden muss, 260sondern auch als etwas, das für seine Entwicklung günstige Bedingungen benötigt. Damit die Sexualität ihre Versprechen erfüllen kann, müssen die Partner hier als Personen, als einbezogene Subjekte, die begehren, denken und wollen, anerkannt werden können. Wie die Philosophin Ann Cahill zeigt, besteht das Problem, das das Patriarchat für unsere Sexualitäten darstellt, darin, dass es verhindert, sie als Erfahrungen zu erleben, in denen sich die Subjekte gegenseitig als Subjekte des Begehrens und der Lust anerkennen.8 Man findet hier wieder die kantische Annahme einer Zustimmung, deren Ziel nicht darin besteht, das Negative zu verhindern, sondern im Sex wie anderswo die Person als Person zu respektieren, sie nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck zu betrachten.

So gesehen kann man davon ausgehen, dass eine positiv moralische Sexualität zunächst die Herausbildung einer sexuellen Subjektivität erfordert, welche die Philosophin Linda Alcoff folgendermaßen beschreibt:

Sie umfasst nicht nur das, was uns erregt, unser Verhalten oder unsere sexuellen Entscheidungen. Sie umfasst auch eine komplexe Konstellation von Überzeugungen, Wahrnehmungen und Emotionen, die unsere innerpsychischen sexuellen Skripte orientieren und unsere Fähigkeit zur sexuellen Agentivität berühren. Da sich unsere sexuelle Subjektivität mit anderen und mit unserem sozialen Umfeld in Interaktion befindet, ist sie immer im Entstehen begriffen und verändert sich mit unseren Erfahrungen. Aus diesem Grund sind unsere sexuellen Subjektivitäten von Anfang an oder intrinsisch verwundbar.9

Die entscheidende Frage für meine sexuelle Subjektivität lautet: »Habe ich die Fähigkeit, an der Gestaltung meines 261sexuellen Seins mitzuwirken«,10 und in dieser Hinsicht versteht man sowohl die Bedeutung der sexuellen Autonomie als auch die Gefahr, die insbesondere, aber nicht nur für die Frauen von den Geschlechternormen ausgeht. Diese Vorstellung von der sexuellen Subjektivität ist ein Echo auf den – wichtigen – Platz, den Beauvoir der erotischen Erfahrung in Das andere Geschlecht einräumt:

Die erotische Erfahrung gehört zu denen, die dem Menschen die Ambiguität seines Menschseins am eindringlichsten enthüllen. Er empfindet sich dabei als Körper und als Geist, als der andere und als Subjekt. Für die Frau nimmt dieser Konflikt einen höchst dramatischen Charakter an, weil sie sich zunächst als Objekt erfaßt, weil sie in der Lust nicht sofort eine sichere Autonomie findet. Sie muß ihre Würde als transzendentes und freies Subjekt zurückerobern, indem sie ihre Fleischlichkeit annimmt: ein unbequemes und risikoreiches Unterfangen. Aber die Schwierigkeit ihrer Situation selbst bewahrt sie vor jenen Täuschungen, denen der Mann anheimfällt. Er läßt sich bereitwillig von den trügerischen Vorrechten ködern, die seine aggressive Rolle und die befriedigte Einsamkeit des Orgasmus mit sich bringen. Er zögert, sich voll als fleischlichen Körper anzuerkennen. Die Selbsterfahrung der Frau ist authentischer als die des Mannes.11

Diese Passage ist wichtig, da sie von der Tatsache zeugt, dass die Subjektivität körperlich ist: Ein Subjekt und insbesondere ein Subjekt des Begehrens zu sein bedeutet gleichzeitig, ein Körper zu sein und einen Körper zu haben, das heißt gleichzeitig ein Subjekt in einem Körper zu sein und einen Körper zu haben, der für andere ein Objekt ist. Für Beauvoir beinhaltet eine authentische Existenz, diese Ambiguität anzuerkennen, gleichzeitig Subjekt 262und Objekt, Geist und Körper, in Geschlechternormen gefangen und gleichzeitig autonom zu sein. Diese Ambiguität betrifft nicht nur die Frauen, sondern ist Teil des Menschseins. Doch die Männer haben die Fähigkeit, sich Frauen auf eine Weise vor- und darzustellen, die ihnen erlaubt, sich nicht mit dieser Ambiguität auseinanderzusetzen. Die Analyse von Beauvoir ist hier insofern originell und stark, als sie die übliche Perspektive völlig umkehrt: Sie zeigt, dass sich ein erfülltes Sexualleben nicht auf der Seite der Männer befindet. Die männliche Herrschaft beraubt die Männer im Gegenteil einer erfüllten Sexualität, indem sie ihnen eine autozentrierte, nicht authentische Vorstellung von ihrer eigenen Erotik bietet, weil sie die Frauen auf eine Weise begreifen, die sie um eine authentische Beziehung zu ihnen bringt.12

Diese Analyse Beauvoirs ist für uns hier wichtig, da sie uns zu präzisieren erlaubt, wie eine gelungene erotische Erfahrung aus der Perspektive der Beziehung des Individuums zu sich selbst aussehen muss. Eine gelungene erotische Erfahrung ist nicht einfach eine Erfahrung, bei der die Lust maximiert wird – auch wenn dies zweifellos wünschenswert ist. Eine gelungene Erfahrung ist eine Erfahrung, bei der der Mensch eine körperliche, fleischliche Erfahrung dessen macht, was er in all seiner Ambiguität ist. Und bei dieser Erfahrung ist die Beziehung zum anderen absolut essentiell. Ich erkenne mich gegenüber dem anderen selbst als ein Subjekt, weil ich ihn als einen anderen begreife. Durch den Blick des anderen entdecke ich mich oder weiß mich als Objekt. Und was die Würde und die Freiheit des Subjekts ausmacht, besteht genau darin, die Ambiguität, gleichzeitig Subjekt und Objekt zu sein, zusammenzuhalten, eine Ambiguität, die grundsätzlich eine Verletzbarkeit darstellt, aber auch die Vor263aussetzung für die Freuden der erotischen Erfahrung überhaupt ist.

Diese Ambiguität ist nun aber, und das ist der zweite grundlegende Punkt, nur bei einer Beziehung möglich, und das ist auch der Grund, weshalb die weibliche Erfahrung in den Augen Beauvoirs authentischer ist als die männliche: Männer haben das Privileg, Beziehungen vermeiden zu können, sich allein und unabhängig zu wähnen, in der Sexualität wie anderswo. Doch handelt es sich ihr zufolge hierbei um eine Selbstlüge, denn unser In-der-Welt-Sein ist ein Zusammensein mit anderen,13 und unsere Subjektivität wird in unserer Beziehung zu ihnen aufgebaut, nach und nach und wechselseitig. Deshalb ist für Beauvoir die männliche Herrschaft ein Hindernis für die erotische Entfaltung, und zwar noch mehr für die Männer als für die Frauen. Wenn die Männer jedoch zumindest auf der individuellen Ebene auf diese Herrschaft verzichten, dann ist sogar trotz der Art und Weise, wie die weibliche Sexualität durch die Geschlechternormen geformt wird, eine erotische Erfüllung möglich:

Solange ein Geschlechterkampf besteht, schafft die Asymmetrie zwischen männlicher und weiblicher Erotik unlösbare Probleme, die jedoch leicht zu bewältigen sind, wenn die Frau sich vom Mann begehrt und zugleich geachtet fühlt. Wenn er sie nämlich in ihrer Sinnlichkeit begehrt und dabei ihre Freiheit anerkennt, findet sie sich in dem Augenblick, da sie sich zum Objekt macht, als das Wesentliche wieder. Sie bleibt frei in der von ihr bejahten Unterwerfung. Unter diesen Bedingungen können die Liebenden jeder auf seine Art ein gemeinsames Genießen erleben. Die Lust wird von jedem Partner als die eigene empfunden, während sie ihre Quelle in dem anderen hat. Die Wörter ›geben‹ und ›neh264men‹ vertauschen ihren Sinn, Freude ist Dankbarkeit, Lust ist Zärtlichkeit. In konkreter und fleischlicher Form erfüllt sich die wechselseitige Anerkennung des Ichs und des anderen im schärfsten Bewußtsein von dem anderen und dem Ich. […] Die Dimension des Anderen bleibt. Tatsache ist aber, daß die Alterität keinen feindlichen Charakter mehr hat. Ebendieses Bewußtsein von der Vereinigung der Körper in ihrer Trennung macht den Geschlechtsakt so aufregend. Und er ist es umso mehr, als die beiden Wesen, die gemeinsam ihre Grenzen leidenschaftlich negieren und behaupten, gleichartig und doch unterschiedlich sind. […] Notwendig für eine solche Harmonie ist kein technisches Raffinement, sondern vielmehr eine wechselseitige Freizügigkeit von Körper und Seele auf der Basis einer unmittelbaren erotischen Anziehung.14

Gegen die Vorstellung, dass eine gute erotische Erfahrung eine Erfahrung der Nutzung des anderen ist, die dem Modell der männlichen Sexualität entspricht, sieht man, dass die moralische Qualität, aber auch die Freude und die Lust an gutem Sex aus der Tatsache resultieren, dass man gibt, dass man sich selbst gibt und dass man empfängt. Diese Beschreibung erlaubt zu verstehen, dass es für die Frauen viel leichter ist als für die Männer, Zugang zu erfüllendem Sex zu haben, da das Haupthindernis für sie darin besteht, dass die Männer aufgrund der von ihnen übernommenen Männlichkeitsnormen sich selbst und damit auch sie darum bringen. Man sieht hier klar, dass eine solche erotische Erfahrung keine Liebe im romantischen Sinne erfordert, sondern »wechselseitige Freizügigkeit« und gegenseitige Anerkennung, die die Grundlagen dafür sind, den anderen als Person zu behandeln.

Diese intersubjektive Anerkennung ist schwer zu er265langen. Die Geschlechternormen erzeugen epistemische Ungerechtigkeiten, die dazu führen, dass die Männer aufgefordert werden, die Subjektivität ihrer Partnerinnen aktiv zu ignorieren und sie als Gelegenheiten für sexuelle Lust zu betrachten, während die Frauen davon abgehalten werden, ihre Lust und ihr Verlangen auszudrücken, ja sogar zu erfassen. Sie ist auch schwer zu erlangen, weil die Sexualität tendenziell als Terrain einer Ökonomie der Maximierung der Lust mit minimalem Aufwand verstanden wird. Aber es ist wahrscheinlich, dass sie tatsächlich die Voraussetzung für eine authentische sexuelle Beziehung ist, auf die wir uns als gleichberechtigte menschliche Subjekte einlassen würden.

Konkret scheint angesichts dieser Schwierigkeiten die Lösung nicht ein für alle Mal im Austausch der Zustimmung zu finden zu sein, sondern in einem Gespräch zustimmender Subjekte über ihre Zustimmung. In einem solchen Rahmen ist die Zustimmung nicht mehr als eine einzige gültige und formelle Vereinbarung zu verstehen, sondern als Ausdruck der sexuellen Autonomie der Partner, der während der sexuellen Begegnung kontinuierlich da sein muss. Wir nähern uns also Kants Vorstellung, dass die Berücksichtigung der Zustimmung des anderen untrennbar mit dem Faktum verbunden ist, diesen anderen nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck zu behandeln. Und eine solche Behandlung setzt, wie wir gesehen haben, Respekt und Aufmerksamkeit für den anderen voraus, für seine gegenwärtige Situation, für die Einschränkungen, 266die er haben kann, für die Macht- oder Autoritätsunterschiede, die es geben kann.

Wenn man sich auf die wenigen Studien zum weiblichen Begehren stützt,15 ist es wahrscheinlich, dass die Vorstellung von einem sexuellen Einverständnis, das vor Beginn der sexuellen Begegnung ausgetauscht wird, auf einem maskulinistischen Modell des sexuellen Begehrens beruht, in dem dieses als bereits vorhandene sexuelle Erregung verstanden wird, die sich zu entladen sucht. Im Gegensatz dazu machen Frauen häufiger die Erfahrung eines Unterschieds zwischen ihrer körperlichen Erregung sowie ihrem sexuellen Begehren und einem sexuellen Begehren, das nicht bereits vorhanden ist, sondern erst allmählich im sexuellen Austausch entsteht. Dieser Unterschied zwischen körperlicher Erregung und sexuellem Begehren findet sich auch bei vielen Männern und liefert gute Gründe für die Annahme, dass man sich einerseits nicht auf die physischen Manifestationen des Begehrens verlassen kann, um dessen Vorhandensein einzuschätzen, und dass es andererseits falsch wäre, die Möglichkeit des Begehrens anhand seines Vorhandenseins zu Beginn der sexuellen Interaktion einzuschätzen.

Darüber hinaus zeigen soziologische Studien, dass die Auffassung von der Sexualität als etwas Intimes, Privates, möglicherweise Gefährliches oder Schändliches dazu führt, dass die Menschen dazu neigen, ihre »sexuellen Projekte« und ihre Wünsche und Freuden kaum zu hinterfragen, was zu einer Art Dunkelheit hinsichtlich sich selbst beiträgt, welche die Zustimmung schwierig macht.

Wenn man die Komplexität des Begehrens hingegen anerkennen will, die Tatsache, dass man vielleicht erst im gegebenen Moment genau wissen kann, was man will oder nicht will, den Wunsch, den man haben kann, be267stimmte Praktiken auszuprobieren, ohne die Gewissheit zu haben, dass sie einem die erhoffte Lust verschaffen, dann muss man die bestmöglichen Bedingungen für das erotische Experimentieren schaffen. Auf der Grundlage einer sprachphilosophischen Analyse des Sexes schlägt die Philosophin Quill Kukla so vor, Sex als eine Reihe von Verhandlungen zu begreifen, die der Tatsache Rechnung tragen, dass die erotische Sprache indirekt ist (man sagt selten einfach »ja« oder »nein«, ein Teil der Sprache ist metaphorisch).16 Insbesondere schlägt sie vor, die Initiierung des Geschlechtsakts nach dem Modell einer Einladung oder Gabe zu verstehen: Im Alltag sind Einladungen und Gaben Handlungen, die über die Sprache übermittelt werden und bestimmten Regeln entsprechen müssen, sowohl was die Art und Weise betrifft, in der sie erfolgen, als auch die Art und Weise, in der sie angenommen oder abgelehnt werden (wenn man beispielsweise jemanden einlädt, kann man enttäuscht sein, wenn die Person ablehnt, aber man kann nicht beleidigt sein, und es gibt höfliche Arten, eine Einladung abzulehnen). Sie zeigt überzeugend, dass es von Vorteil ist, die Initiierung des Geschlechtsverkehrs außerhalb einer festen Beziehung als Einladung und in einigen Fällen einer festen Beziehung als eine Form von Gabe zu verstehen.17 Sie zeigt auch, dass man das vom BDSM geerbte System der safe words nutzen kann, um Vorschläge und Praktiken während des Geschlechtsakts anzunehmen oder abzulehnen, und dass ein solches System sowohl erlaubt, möglichen Kommunikationsfehlern in Verbindung mit der Indirektheit der erotischen Sprache vorzubeugen, als auch Instrumente bereitzustellen, die das sexuelle Experimentieren positiv erleichtern. Schließlich stellt sie heraus, dass nur eine entwickelte Kollaboration und Kommunikation zwischen 268den Partnern erlauben kann, die sexuelle Unterwerfung zu erkunden, das heißt eine zeitweilige Nicht-Zustimmung zu akzeptieren oder zu wollen.

Diese Vorschläge sind äußerst nützlich, um sich vorzustellen, wie eine in dem Sinne moralische sexuelle Beziehung aussehen könnte, dass sie nicht nur die sexuelle Autonomie und Unversehrtheit der Personen schützt, sondern auch die Entfaltung ihrer Subjektivität und Autonomie ermöglicht. Denn es geht nicht darum, zu denken, dass zum Beispiel nur der Sex zwischen Menschen, die sich lieben, moralisch sein könnte. Im Gegenteil geht es darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein Maximum von sexuellen Praktiken möglich ist, da die Entfaltung der persönlichen Autonomie die Möglichkeit des Experimentierens erfordert. In dieser Hinsicht ist der Vorschlag, das System der safe words zu verwenden, besonders nützlich, weil diese Wörter als ein Werkzeug fungieren können, das erlaubt, Praktiken auszuprobieren, die uns interessieren, bei denen wir aber nicht sicher sind, ob wir sie goutieren, mit der Garantie, sie sofort beenden zu können, wenn sie uns nicht gefallen.

Doch sollte man diesen Austausch wahrscheinlich eher als ein Gespräch denn als eine Verhandlung betrachten. Denn der Begriff der Verhandlung verweist auf das Modell der Sexualität als Kampfplatz, auf dem jeder sein individuelles Vergnügen maximieren muss, auch auf Kosten des anderen. Von einem Gespräch zu sprechen, impliziert hingegen, die Notwendigkeit der Aufmerksamkeit für den anderen, seine Wünsche, seine Regungen, seine Situation sowie den zutiefst relationalen Charakter der sexuellen Praktik anzuerkennen. Wenn man sich als Individuum darauf einlässt, besteht eine der großen Freuden des Sexes zweifellos darin, dass eine Beziehung entsteht, 269selbst wenn sie nicht von Dauer ist und selbst wenn sie keine Liebesbeziehung im romantischen Sinne des Wortes ist. Sex als eine erotische Beziehung von Partnern zu verstehen, die wie ein echtes Gespräch funktionieren soll, entspricht zweifellos dem, was Sex ist, wenn er auf respektvolle Weise zwischen Gleichen stattfindet, aber vielleicht auch dem, was Sex sein sollte, wenn man dabei die Gleichheit praktizieren will, die wir in unseren Wünschen fordern. Sicher setzt ein solches Gespräch voraus, dass sich die Partner ausreichend respektieren, um sich als Subjekte des Begehrens und der Lüste anzuerkennen, die gemeinsam versuchen, sich Lust (und möglicherweise sogar Schmerz) zu bereiten und ihre Wünsche zu erkunden. Diese erotischen Gesprächspraktiken sind aber auch insofern emanzipatorisch, als sie darin bestehen, Gleichheit zu praktizieren und dadurch die Geschlechternormen zu erschüttern. Im Grunde erlauben sie das zu erlangen, was in den BDSM-Beziehungen als befreiend identifiziert wurde, und bekämpfen gleichzeitig die Verfestigung von Geschlechterhierarchien.

Ein Problem bleibt: Wie kann man dieses Verständnis der Zustimmung und sein emanzipatorisches Potenzial für den Sex, die Liebe und damit unser Leben überhaupt konkret fördern? Wie wir gesehen haben, liegt der Verwendung des Vokabulars der Zustimmung teilweise die Vorstellung zugrunde, dass die moralische Bewertung der Sexualität vom Rechtssystem unterstützt werden muss, und es ist verlockend, sich auf das Recht zu be270rufen, um eine neue egalitäre sexuelle Ordnung auf den Weg zu bringen. Indem man mit den beiden Bedeutungen des Begriffs spielt, der allgemeinen und der juristischen, will man glauben, dass die semantische Ambiguität einen einfachen Transfer des moralischen und politischen Problems in den juristischen Bereich gewährleistet. Doch dieser Transfer ist aus einer Reihe von Gründen nicht selbstverständlich.

Die Unzulänglichkeiten der rechtlichen Antwort

Die erste Unzulänglichkeit besteht darin, dass sozialpsychologische und juristische Studien zu diesem Thema zeigen, dass der Transfer nicht gut läuft: Die Rechtsphilosophin Roseanna Sommers stellt zum Beispiel anhand einer empirischen Untersuchung fest, dass sich die moralischen Intuitionen der Menschen in Bezug auf die Zustimmung völlig vom juristischen Verständnis (und vom philosophischen Konzept) der Zustimmung unterscheiden, so dass das Allgemeinverständnis systematisch daran scheitert, zu berücksichtigen, dass Täuschung die Zustimmung ungültig macht.18 Sie nimmt an, dass dieses Allgemeinverständnis zum Beispiel der Grund dafür ist, dass die Richter Schwierigkeiten haben, in Erwägung zu ziehen, dass Täuschung im sexuellen Bereich die Zustimmung ungültig machen kann19 und dass man also jemanden wegen Vergewaltigung verfolgen kann, der den Geschlechtsverkehr mit Lügen erwirkt hat.

Die zweite Unzulänglichkeit besteht darin, dass die Auffassung von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen im Strafrecht nicht alle Funktionen erfüllen kann, die man sich davon erhoffen könnte. Mehrere Juristen sind 271erstaunt, dass das Recht zur sexualisierten Gewalt eine Vermutung der Zustimmung zum Sex enthalten würde, und denken, dass diese Vermutung aufgehoben werden sollte. Sie stützen sich auf ein Urteil des Kassationsgerichtshofs von 1992, das zwischen 2006 und 2010 kurzzeitig in Artikel 222-22 des Strafgesetzbuchs einging, wonach »die Vermutung der Zustimmung der Ehegatten zu sexuellen Handlungen, die in der Intimität des Ehelebens vorgenommen werden, nur bis zum Beweis des Gegenteils gilt«. Dieses Urteil hatte ursprünglich die Aufgabe, klarzustellen, dass die Vermutung der Zustimmung der Ehegatten nur eine einfache Vermutung ist (das heißt, eine Partei kann den Gegenbeweis erbringen), während sie lange Zeit eine unwiderlegbare Vermutung war (das heißt, es war nicht möglich, sie zu widerlegen). Abgesehen von der Frage, ob es vernünftig ist, davon auszugehen, dass Ehegatten sexuellen Beziehungen zustimmen, besteht das Problem aus strafrechtlicher Sicht darin, dass es sehr schwer vorstellbar scheint, was es für das Strafrecht bedeuten würde, nicht von der Zustimmung der Sexualpartner auszugehen. Anzunehmen, dass die Zustimmung nicht unterstellt werden kann (durch eine einfache Vermutung), würde bedeuten, dass jeder Geschlechtsverkehr, sofern nicht das Gegenteil bewiesen wird, ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung ist. Das hätte zur Folge, dass jede Person, die mit einer anderen Person eine sexuelle Beziehung eingeht, in der Lage sein müsste, einen rechtlich zulässigen Beweis für die Zustimmung ihres Partners oder ihrer Partnerin zu erbringen, auf die Gefahr jahrelanger Gefängnisstrafen hin. Das ist zweifellos weder möglich noch wünschenswert.

Das Problem ist in Wahrheit sehr viel komplexer, in dem Sinne, dass sich keine auf der Hand liegende Lösung 272bietet, wenn man versucht, eine stärkere Berücksichtigung der Zustimmung im strafrechtlichen Umgang mit dem Sex zu erreichen: Auf der einen Seite ist die Behandlung von sexualisierter Gewalt durch das Strafrecht problematisch. Die Zahlen sind eindeutig: 1 bis 2% der Vergewaltigungen führen zu einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Vergewaltigung, und das liegt zum Teil daran, dass die Opfer nicht gehört und nicht ernst genommen werden, dass ihr persönliches Leben während des Prozesses in Frage gestellt wird, so dass es unwahrscheinlich ist, dass ihr Angreifer verurteilt wird, wenn sie nicht dem Bild des »guten Opfers« entsprechen. All dies begründet für das Opfer das Risiko einer sekundären Viktimisierung durch den Strafprozess, das heißt das Risiko, dass die Opfer eine zweite Ungerechtigkeit erleiden, die diesmal vom Strafprozess selbst ausgeht. Und im weiteren Sinne stellt die Straffreiheit der Sexualstraftäter vor allem eine Ungerechtigkeit gegenüber den Opfern und der gesamten Gesellschaft dar, da sie die Aufrechterhaltung der Vergewaltigungskultur erlaubt. Auf der anderen Seite ist aber zum einen der Schutz der Verteidigungsrechte einer der zentralen Werte des Strafverfahrens, und zum anderen ist vor allem das Strafrecht äußerst strengen Normen für die Klarheit des Strafgesetzes verpflichtet. So gibt es zunächst das Problem mit dem Beweis der Zustimmung, dessen eindeutige Erbringung schwierig ist. Dekan Carbonnier schrieb so: »Man hat nicht alles über die Zustimmung gesagt, wenn man gesagt hat, dass sie Sympathie und Lächeln von einem Menschen gegenüber einem anderen ist. Das Lächeln ist nicht immer von Dauer, und die Schwierigkeiten bleiben dem Juristen überlassen.«20 Vor allem im Rahmen von intimen Beziehungen kann es schwierig sein, die Nicht-Zustimmung festzustellen. Sodann folgt 273aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Straftaten und Strafen, dass jedes Gesetz zur sexualisierten Gewalt äußerst präzise sein muss, da sonst die Gefahr der verfassungsrechtlichen Zensur besteht. Im amerikanischen Kontext wird jedoch deutlich, dass die Einführung der Zustimmung und insbesondere der affirmativen Zustimmung als Kriterium für die Definition sexueller Übergriffe mit einem Defizit an definitorischer Klarheit in Bezug auf die Zustimmung korreliert, das sich im Laufe der Zeit vergrößert hat.21 Im Namen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit von Straftaten und Strafen war der Gesetzgeber der Ansicht, dass die Nicht-Zustimmung bei der Vergewaltigung genau definiert werden müsse, was zur heutigen Definition von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen als Handlungen führte, die »mit Gewalt, Zwang, Drohung oder Überraschung« begangen werden, wobei der Zwang physisch oder moralisch sein kann (Art. 222-22-1), und die Nötigung wird nun unwiderlegbar für »Minderjährige von 15 Jahren«, das heißt unter 15 Jahren, festgestellt, sofern die Person, die diese Handlungen begeht, mindestens fünf Jahre älter ist als die minderjährige Person.

Somit werden zwei Formen der Nicht-Zustimmung unterschieden: eine statuarische Form der Nicht-Zustimmung, bei der es um die allgemeine Einwilligungsfähigkeit einer Person in Abhängigkeit von ihrem Autonomiegrad geht, und eine situative Form der Nicht-Zustimmung, bei der die Einwilligung in einer bestimmten Situation betrachtet wird.22 Man kann sich gut vorstellen, dass auf der einen Seite die statuarische Nicht-Zustimmung moralische Probleme aufwirft, da sie – wenn auch aus guten Gründen – bestimmte Personen von der Zustimmungsfähigkeit ausschließt. Idealerweise möchte man, dass eine 274Person mit stark verminderten geistigen Fähigkeiten sowohl vor möglicher Gewalt geschützt ist als auch gewisse Freuden erotischer Erfahrung genießen kann, wenn diese ihr zugänglich sind.23 Und man kann sich auch vorstellen, dass auf der anderen Seite die situative Auffassung der Zustimmung, wenn man davon ausgeht, dass eine Zustimmung vorliegt, wenn kein aktiver moralischer Zwang besteht (Zwang bedeutet in diesem Fall, dass man beweisen muss, dass das Opfer nicht anders konnte, als zu gehorchen), umgekehrt zu Ungerechtigkeiten führt, wenn Opfer einer Vergewaltigung oder von sexuellen Übergriffen von der Justiz als zustimmend angesehen werden, obwohl sie es nicht sind.

Es gibt einen prinzipiellen Punkt, bei dem das Gesetz ansetzen könnte und zweifellos auch sollte: die moralische Komponente der Vergewaltigung und des sexuellen Übergriffs. Wie im ersten Kapitel kurz erwähnt, wird eine Straftat durch eine rechtliche Komponente (die Tatsache, dass das Gesetz sie verbietet), eine materielle Komponente (den sichtbaren Teil der Straftat, der in der konkreten Ausführung der kriminellen Handlungen zum Ausdruck kommt) und eine moralische Komponente charakterisiert, die sich auf die psychologische Einstellung des Täters zu den Straftatbeständen bezieht. Damit ein Verbrechen oder Vergehen festgestellt werden kann, muss der Täter mit Vorsatz gehandelt haben. Eine beträchtliche Zahl von Verfahren wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung scheitert jedoch an der Frage des Vorsatzes, mit der Begründung, dass der Täter den Geschlechtsverkehr als einvernehmlich ansieht. Der Vorsatz wird im Recht nicht subjektiv festgestellt. Es reicht nicht, zu behaupten, man habe geglaubt, dass die Person zugestimmt hat, um freigesprochen zu werden. Das Gericht stellt den Vorsatz ob275jektiv fest, auf der Grundlage vorhandener Indizien und ihrer angemessenen Interpretation. Bei dieser Feststellung des Vorsatzes sind die Gerichte nun aber der Ansicht, dass es angemessen sein kann, die Zustimmung aus einer Situation abzuleiten, in der das Opfer keine positiven Zeichen seiner Zustimmung gegeben hat. Daher kann man der Meinung sein, dass hier eine politische und rechtliche Änderung möglich und wünschenswert ist. Denkbar wäre eine ähnliche legislative Entwicklung wie in Schweden. In Schweden kam es 2018 infolge eines starken politischen Willens zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt zu einer Gesetzesänderung: Einerseits stellt die neue Gesetzgebung klar, dass der Geschlechtsverkehr freiwillig sein muss, und definiert dies als aktive und freiwillige Beteiligung, die entweder durch Worte oder durch Taten vermittelt wird. Andererseits wurde der Straftatbestand der fahrlässigen Vergewaltigung eingeführt, der weniger schwerwiegend ist als der der Vergewaltigung, um Fälle zu bestrafen, bei denen ein Geschlechtsverkehr zustande kam, weil der Täter hinsichtlich der Einholung der Zustimmung des Opfers grob fahrlässig gehandelt hat. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn jemand eine sexuelle Handlung fortsetzt, obwohl ihm oder ihr bewusst ist, dass die Gefahr besteht, dass der andere Partner nicht freiwillig mitmacht, und sich, ohne deshalb die Absicht zu haben zu vergewaltigen, nicht vergewissert, dass dem so ist. Wie ein ausführlicher wissenschaftlicher Artikel zeigt, in dem die von schwedischen Gerichten verhandelten Fälle von fahrlässiger Vergewaltigung untersucht werden,24 geht es nicht darum, jede Person zu bestrafen, die einen Geschlechtsverkehr hatte, den das Opfer im Nachhinein als nicht einvernehmlich einstuft (entgegen der Aufschreie, die einige in Frankreich gegen dieses 276Gesetz vorbringen, das sie nicht verstehen), sondern darum, Fälle zu bestrafen, in denen nicht einvernehmlicher Sex stattgefunden hat, weil eine Person es versäumt hat, sich zu vergewissern, dass die Zustimmung des anderen Partners gilt. Diese doppelte Gesetzesänderung,25 die das Verbrechen der Vergewaltigung vom Vergehen der Fahrlässigkeit unterscheidet, könnte vielleicht ein Weg sein, um das Problem der Bedeutung des Vorsatzes bei der Charakterisierung der Vergewaltigung zu beheben und die Tatsache herauszustellen, die in diesem Buch ausgemacht wurde, dass viele nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen dies sind, weil die Männer in Bezug auf die Zustimmung ihrer Partnerinnen eine schuldhafte (durch patriarchale Überzeugungen gerechtfertigte) Fahrlässigkeit beweisen.

Eine solche Gesetzesänderung würde jedoch das folgende Problem nicht vollständig lösen: Die strafrechtliche Verfolgung von sexuellen Verstößen hat bislang keine zufriedenstellenden Ergebnisse erbracht. Dieses Problem ist ein zentraler Punkt der feministischen Literatur im Recht, in der Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft. Es kann hier nicht darum gehen, einen umfassenden Überblick zu geben, aber man kann die Grundzüge der Debatte folgendermaßen zusammenfassen. Auf der einen Seite steht, wie wir gesehen haben, fest, dass die Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt extrem häufig vorkommen und nicht nur den Opfern, sondern auch den Frauen allgemein schaden. Daher ist es erforderlich, ihnen ein Ende zu setzen, und es scheint sehr wichtig, dass die Opfer, wenn nicht eine Wiedergutmachung, so doch zumindest eine Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts erlangen können. Auf der anderen Seite scheint der Strafprozess nicht in der Lage zu sein, 277diese doppelte Anforderung zu erfüllen: Die Rechtsstatistiken zeigen, dass Anzeigen wegen Vergewaltigung sehr selten zu Verurteilungen führen,26 dass die wenigen Verurteilungen hauptsächlich arme, rassisierte oder aus der Kolonialgeschichte stammende Männer betreffen, während die Opferzahlen keine solche Verteilung der Vergewaltigungen nach Klasse oder Rasse zeigen,27 dass die Rückfallquoten von Sexualstraftätern durch einen Gefängnisaufenthalt offenbar nicht verringert werden,28 dass der Strafprozess für das Opfer das Risiko einer zweiten Viktimisierung mit sich bringt,29 dass die Umstufung eines Verbrechens in ein Vergehen (Korrektionalisierung),30 die als eine Form interpretiert werden kann, die Schwächen des Strafrechtssystems, insbesondere den Mangel an Mitteln und die sehr langen Verfahrenszeiten, auszugleichen, tendenziell als Zeichen dafür gesehen wird, dass die betreffenden Gewalttaten von geringer Bedeutung sind,31 und schließlich, dass sich die Geschlechterstereotypen, die die Gesellschaft durchziehen, im Strafprozess stark zu Ungunsten der Opfer auswirken.32 Darüber hinaus ist es aufgrund der zeitgenössischen Kritik am Gefängnis nicht nur unrealistisch, sondern auch nicht wünschenswert, alle Vergewaltiger ins Gefängnis zu schicken (nach den vorsichtigsten Schätzungen würde es sich in Frankreich um mehrere zehntausend Männer pro Jahr handeln, wobei man weiß, dass die derzeitige Gefängnispopulation etwa siebzigtausend Personen umfasst).

Außerdem ist unbestreitbar, dass die Agenda zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt in den letzten Jahrzehnten instrumentalisiert und in den Dienst einer Kriminalisierung von Sex überhaupt gestellt wurde.33 Diese Instrumentalisierung erfolgte nicht zuletzt über das Konzept der Zustimmung, das, wie Joseph Fischel gezeigt hat, 278beim Aufbau der Organisation von Registern zur Erfassung von Sexualverbrechern und bei der Unsichtbarmachung bestimmter Formen sexualisierter Gewalt, insbesondere der von Jugendlichen begangenen sexualisierten Gewalt, eine Schlüsselrolle hatte.34 Die Verwendung der Norm der Zustimmung, der affirmativen Zustimmung, insbesondere auf dem amerikanischen Campus war für mehrere Rechtstheoretikerinnen Anlass, auf die repressiven Auswüchse hinzuweisen, zu denen eine doch gut gemeinte Politik der Bekämpfung sexualisierter Gewalt mittels des Prismas der Zustimmung führen kann: Jacob Gersen und Jeannie Suk Gersen wiesen zum Beispiel auf den »Sexbürokratismus« hin, der von dem Willen hervorgerufen wird, jede Form von nicht eingewilligtem Sex auf dem Campus zu verbieten und zu bestrafen, und darauf, dass aus diesem Willen ein immer vageres Verständnis der Zustimmung folgt, so dass sie nicht mehr zur Trennung von erlaubtem und verbotenem Sex verwendet werden kann.35

Schließlich kommt an der Schnittstelle zwischen dem Anti-Gefängnis-Aktivismus und dem feministischen Aktivismus, insbesondere von farbigen Feministinnen wie Angela Davis,36 seit einigen Jahren, vor allem seit #MeToo, eine Kritik an dem auf, was nunmehr als »Gefängnisfeminismus« bezeichnet wird. Diese Aktivistinnen kritisieren die Tendenz, die sie bei einer bestimmten feministischen Bewegung erkennen, die Inhaftierung von gewalttätigen Männern und speziell von Vergewaltigern anzustreben, ohne sich offenbar um die ungerechten Folgen dieser Inhaftierung (für die Inhaftierten, aber auch für deren Angehörige und vor allem für die anderen Frauen)37 und ihren Beitrag zu der Ungerechtigkeit zu kümmern, die in der massenhaften Inhaftierung armer und/oder rassi279sierter Männer besteht.38 Sie schlagen zum Beispiel vor, Formen der transformativen und reparativen Justiz zu bevorzugen,39 die dazu bestimmt sind, reparative Lösungen außerhalb des Strafsystems zu finden, um vor allem Probleme bei der Zugänglichkeit des Strafsystems für Personen zu vermeiden, die nicht dem Bild des »guten Opfers« entsprechen oder die ihre Angreifer nicht einem Rechtssystem aussetzen wollen, das sie in Gefahr bringen könnte.

Vor diesem Hintergrund, zu dem noch die systematische finanzielle – und damit auch personelle – Unterausstattung der Justiz in Frankreich hinzukommt, ist es schwierig zu bestimmen, welchen Stellenwert das Strafverfahren und allgemeiner das Recht bei der Bekämpfung sexualisierter Gewalt haben soll. Zweifellos kann man vom Gesetzgeber zumindest erwarten, dass er die »eheliche Pflicht«40 (das heißt die Verpflichtung zum Geschlechtsverkehr bei einem verheirateten Paar) abschafft, und von den Richtern vor Ort, dass sie die Tendenz der Rechtsprechung bestätigen, bei der Definition der Vergewaltigung Drohung und Zwang nicht nur als physische Drohung und Zwang zu betrachten, sondern auch alle Formen nicht physischer Drohung und des Zwangs einzubeziehen, die die Zustimmung ungültig machen können, selbst wenn sie, wie oben dargelegt, gegeben wurde. Ansonsten aber scheint die Ineffizienz der Bekämpfung sexualisierter Gewalt auf der gerichtlichen Ebene eher an den fehlenden Mitteln der Justiz und möglicherweise an den sexistischen Auffassungen der Richter und Geschworenen vor Ort zu liegen als an unzureichenden Gesetzestexten.

280Gesellschaftlicher Wandel und nicht ideale Sexualität

Die bescheidene, aber wirkliche Veränderung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen, aber auch gegen andere Männer und gegen Kinder durch die #MeToo-Bewegung lässt in der Tat vermuten, dass auf die Frage »Was muss man tun, damit Männer aufhören zu vergewaltigen?« die Antwort seitens der Gerichte nur eine mögliche Antwort und vielleicht nicht die wichtigste ist. Wenn Sex und Vergewaltigung, wie dieses Buch zu zeigen versucht hat, ein politisches Problem ist, das alle Männer, alle Frauen und alle nicht binären Menschen betrifft, ist es wahrscheinlich, dass dieses Problem eher durch eine Veränderung der sozialen Normen und damit der Gesellschaft gelöst wird als durch das Recht allein.

Außerdem sind, egal was man von einem Rückgriff auf das Strafsystem hält, zwei Dinge klar: Zum einen können die Ungerechtigkeiten der Grauzone niemals durch das Strafsystem aufgelöst werden, und zum anderen wird uns das Recht nicht die Art von sexuellem Gespräch erlauben, die für ein nicht nur moralisches, sondern auch freudvolles und erfülltes Sexualleben notwendig ist.

Eine der zentralen Baustellen ist die Sexualerziehung: Junge Menschen müssen nicht nur zur Geschlechtergleichheit erzogen werden, sondern speziell auch zur Sexualität.41 Wie Jennifer Hirsch und Shamus Khan zeigen, ist noch vor den Fragen des Geschlechts das erste Hindernis für eine emanzipierte Sexualität der von ihnen so genannten »Sexbürger« die Tatsache, dass junge Leute keine Erziehung erhalten haben, die ihnen erlaubt, über ihr »sexuelles Projekt« nachzudenken:

281Kaum jemand berichtete von einer Erfahrung, bei der ein Erwachsener mit ihnen gesprochen und ihnen erklärt hätte, dass Sexualität ein wichtiger und potenziell freudvoller Teil ihres Lebens sei, und dass sie deshalb darüber nachdenken sollten, was sie vom Sex erwarten und wie sie ihn auf respektvolle Weise mit anderen haben könnten.42

Welche Formen eine Sexualerziehung annehmen muss, die zielführend ist, ohne in die peinlichen Lektionen des Biologieunterrichts der vierten Klasse und vor allem ohne in den Sexismus und die Homophobie der Sexualerziehung im Schulkontext zu verfallen,43 ist Gegenstand von Debatten und Arbeiten,44 auch militanter Bücher,45 doch scheint klar, dass ohne eine Sexualerziehung von jungen und zweifellos auch weniger jungen Menschen dieses erotische Gespräch nicht zustande kommen wird.

Eher als eine stärkere Kriminalisierung der Nicht-Zustimmung, die auf erhebliche Beweisprobleme zu stoßen droht, könnte man sich vorstellen, dass der Staat sich in großem Umfang für die Förderung einer positiven Norm der sexuellen Zustimmung mit Kampagnen zur Volksbildung und Prävention von sexualisierter Gewalt einsetzt. Diese Kampagnen könnten sich zum Beispiel auf die Populärkultur und vor allem auf Fernsehserien wie Sex Education, Normal People oder auch Grey’s Anatomy stützen, die die positive Zustimmung normalisieren und ihr erotisches Potenzial veranschaulichen.

Im Bereich der Erziehung zur Zustimmung scheint vor allem eine weitere Ressource der französischen Überlegungen zur Sexualerziehung nicht ausreichend genutzt zu werden, nämlich die der Praktiken, die im Bereich der Bioethik eingeführt wurden. Die Reflexionen der Bioethik zur Zustimmung sind für diejenigen, die sich für 282die sexuelle Zustimmung interessieren, nützlich, da sie nach Lösungen suchen, um die Autonomie der Patienten in der Situation eines starken Ungleichgewichts (die Ärzte haben sowohl Macht als auch Wissen, was die Patienten nicht haben) bestmöglich zu gewährleisten. Und sie versuchen auch zu berücksichtigen, dass es selbst für wohlwollende Ärzte schwierig ist, in Situationen, in denen sie müde und möglicherweise überarbeitet sind, oder jedenfalls in Situationen, in denen sie keine Zeit haben, ruhig nachzudenken und sich in die Lage des Patienten und seiner Familie zu versetzen, moralisch und gleichzeitig effizient zu reagieren.46 Dies hat zu Initiativen wie Vital Talks47 oder The Conversation Project48 geführt, deren Ziel es ist, Fragen vorzuschlagen, die man in schwierigen medizinischen Gesprächen oder zur Vorbereitung solcher Gespräche stellen oder sich selbst stellen kann, oder sogar Skripte für Gespräche, um zum Beispiel zu gewährleisten, dass ein Patient die Patientenverfügung, die er gerade erteilt, wirklich versteht, in dem Sinne, dass er sich der verschiedenen Möglichkeiten bewusst ist, die ihm zur Verfügung stehen, und dass ein Arzt versteht, was der Patient wirklich sagen möchte, wenn er seine Zustimmung gibt. Solche Skripte zur Sexualität zu schreiben könnte eine nützliche Initiative sein, sei es, dass man sie als Unterstützung der Sexualerziehung oder als veritable Skripte begreift, die in Momenten verwendet werden können, in denen es möglicherweise nicht leicht ist, die richtigen Worte zu finden, um über die Zustimmung zu sprechen.

Das Hindernis für eine gewählte, moralische und freudvolle Sexualität, das gesellschaftliche Normen und das Patriarchat im Allgemeinen darstellen, deutet darauf hin, dass die wahre Lösung in einem weitreichenden sozialen Wandel und in der Infragestellung der gesellschaftlichen 283Herrschaft der Männer über die Frauen zu suchen ist. Wie die Philosophin Sally Haslanger zeigt,49 neigt der rechtliche Aktivismus dazu, seine Wirkung zu verfehlen, wenn er nicht auf einem entsprechenden kulturellen Wandel beruht, und ein solcher Wandel erfordert ein kollektives Handeln, das durch soziale Bewegungen und politischen Aktivismus ermöglicht wird. Es ist zum Beispiel klar, dass die jüngste Gesetzesänderung zum Zustimmungsalter in Frankreich das Ergebnis einer kollektiven Mobilisierung von Feministinnen und Aktivisten gegen die an Kindern verübte Gewalt ist. Die erste Antwort auf den Kampf für bessere Sexualitäten findet sich zweifellos in der Frauenbewegung. So kann man, wie seinerzeit Beauvoir, davon ausgehen, dass keine individuelle Befreiung möglich sein wird ohne eine soziale Transformation, die von umfangreichen sozialen Bewegungen erzeugt wird, und dabei gleichzeitig das unvollkommene, aber tatsächliche emanzipatorische Potenzial der Zustimmung als Einladung zu einem neuen erotischen Gespräch unter Gleichen anerkennen.