Kapitel 1 - Neue Wege
Ein wütender Schrei hallte durch die Wohnung des grauen Plattenbaus.
»Mann
! Das kann doch wohl nicht wahr sein!«
Josh sah sich entsetzt in dem von Chaos dominierten Zimmer um und war kurz davor, sämtliche herumliegende Gegenstände aus dem Fenster zu werfen. Nach all den Jahren war sein Bruder immer noch nicht in der Lage, Ordnung zu halten.
Seit seinem Einzug ins Studentenwohnheim war es selten geworden, dass er ihn und seine Mutter besuchte. Trotzdem schockierte es ihn immer von Neuem, wenn er hier doch einmal nach dem Rechten sah. Rohan, welcher überraschenderweise sein Abitur bestanden hatte, sah bisher keinen Grund auszuziehen. Nach der elendig langen Schulzeit
bräuchte er erst mal ein wenig Freiraum
, wie er es nannte. Rumgammeln und Nichtstun
nannte es Josh und das schon seit drei Monaten.
Seine Laune war im Keller. Am liebsten hätte er seinen Bruder auf der Stelle erwürgt, und das, obwohl er ihm doch gerade eine Chinapfanne von seinem Lieblingsimbiss mitgebracht hatte.
Nur ein einziges Mal wollte er ihn beim Lernen für die Uni-Aufnahmetests antreffen, die zu absolvieren waren, bevor er ebenfalls mit einem Studium starten konnte, so, wie er es ihm versprochen hatte. Josh bezweifelte allerdings, dass dies je etwas werden würde, denn Ehrgeiz und Fleiß waren nun mal nicht gerade das, was Rohan auszeichnete. Ganz im Gegenteil. Die Realität war weit davon entfernt!
Genervt stand Josh nun in dem leeren, nach Räucherstäbchen stinkenden Raum und schob seine Füße wie ein Schneeschieber über den zugemüllten Boden bis zu dem alten, mit Arbeitsblättern und Notizen überfüllten Schreibtisch. Ganz oben lag ein auffälliger, gelber Zettel, auf dem in der kantigen Schreibschrift seines Bruders eine Nachricht für ihn stand:
Moin Josh!
Falls du mal zwischendurch da bist: Mum kommt wohl vor Mittwoch nicht wieder und ich hab keine Kohle mehr, also bin ich
zu Martin gefahren.
LG Roi.
Josh strich sich gefrustet seine aschblonden Haare zurück. Seinen neuen, hochgegelten, modischen Fassonschnitt zierte eine strahlend blaue Strähne, welche die sonst eher klassische Frisur etwas auflockerte. In der ausgewaschenen Bluejeans wirkten seine Beine schier endlos lang, nur das ordentliche, weiße Hemd durchbrach den sonst eher lässigen Stil. Seine stahlblauen Augen verliehen ihm noch immer einen fast nordischen Touch und bildeten einen tollen Kontrast zu seiner sommergebräunten Haut. Er hatte viel im Park gesessen und gelesen. Ja, man konnte durchaus sagen, dass aus ihm ein sehr gutaussehender Student geworden war, dem jedoch schon erste Falten das Gesicht verschandelten. Und wer war daran schuld? Natürlich sein missratener Halbbruder!
Rohans Entwicklung war leider gradlinig negativ geblieben: in seinem Verhalten und in seinen Ansichten. Er zog sich immer mehr in seine Musikszene zurück, schwänzte nach Belieben die Schule und ließ sich hauptsächlich von seinen Trieben leiten. Es war schlimmer als je zuvor. Einzig und allein seinem überragenden Intellekt hatte er es zu verdanken gehabt, dass er das Abitur mit Bravour bestand, obwohl er die Schule mit Füßen trat.
Zumindest war Josh inzwischen klar, dass er seinen Bruder nicht mehr zur Hete bekehren
konnte. Bei dem waren Hopfen und Malz verloren, wenn es um Frauen ging, also akzeptierte er schweren Herzens, dass sein Bruder auf Kerle stand. Zu allem Überfluss war Rohan im Laufe der letzten Jahre immer selbstsicherer und begehrter geworden. Bei einer Größe von einsachtundachtzig wurde sein Körper, ohne viel Zutun, von Muskeln definiert, von denen Josh nur träumen konnte. Wenn dieser Kerl auf die Jagd
ging, strahlte er etwas Raubtierartiges aus und Männer wie Jungs verloren reihenweise ihr Herz an den halbindianischen Adonis. Trotz seines jugendlichen Alters zeigte er sich jedoch kalt und abgebrüht, wenn es um die Liebe ging. Kurz gesagt: Er war ein ziemlicher Prolet geworden, der sich rücksichtslos mit jedem prügelte, der ihm blöd kam und der sich nahm, was er wollte. Doch genau dafür liebten ihn seine unzähligen Lover. Rohan hatte keine Skrupel mehr, der zu sein, der er sein wollte, und selbst einige Heten bewunderten ihn.
Nur Josh kannte die ruhige, verletzliche, melancholische Seite seines Bruders, die nichts mit dem Sexmonster zu tun hatte, zu dem er geworden war, und er hielt auch sein Versprechen über all die Jahre: Er war immer für ihn da, wenn es Probleme gab, doch er distanzierte sich gleichermaßen, um sein eigenes Leben im Griff zu behalten.
Josh zückte sein Handy und rief seinen Chaotenbruder an, während er wütend durch die Bude stampfte. Nach kurzem Klingeln hob sogar jemand ab, doch da stöhnte ihm nur eine bekannte Männerstimme ins Ohr: »Nein … haaah
… leg das verdammte … aaah haah
… Handy weg!« Gleich darauf war das monotone Piepen der belegten Leitung zu hören.
Wie eingefroren stand Josh geschockt im Wohnzimmer, dann pfefferte er sein Handy wütend aufs Sofa, trat gegen Selbiges, hüpfte eine Runde auf einem Bein und rieb sich danach den schmerzenden Fuß. Im Anschluss fummelte er sein Telefon zwischen den Chipskrümeln und ähnlichem Dreck aus der ausgeleierten Polsterritze und stapfte dann schnaubend aus der Wohnung zu seinem Auto. Er wusste, wo dieser Martin wohnte, denn er hatte Rohan schon öfter dort abgesetzt, und nun machte er sich stocksauer auf den Weg, ihm die Ohren lang zu ziehen.
Ja, er war tolerant, aber hier ging es ums Prinzip!
Dieser widerspenstige Mistkerl würde sich endlich für einen Studiengang entscheiden und für dessen Aufnahme pauken, und wenn er ihn dazu zwingen musste!
***
Josh brauchte eine knappe halbe Stunde über die Stadtautobahn, bis er an dem Neubaublock angekommen war, in dem Martin wohnte. Er bekam direkt davor einen Parkplatz, stieg aus und klingelte wie ein Wahnsinniger an der Hauseingangstür, bis sich das Erdgeschossfenster der Wohnung öffnete.
»Wer will was?« Martin strich seinen dunkelrot gefärbten, gewellten Irokesen von der Stirn, dessen Strähnen ihm noch etwas verschwitzt am nicht unattraktiven Gesicht klebten. »Hey, du da! Ich kaufe nichts und hasse alle Religionen, also verpiss dich! Ich bin beschäftigt, kapiert? Hau ab, bevor ich sauer werde!«
»Das will ich sehen!«, antwortete Josh provokant.
»Alter, was ist dein Problem, hä?« Martins Pupillen waren unnatürlich geweitet und seine Augen zierten dunkle Ringe, als hätte er nächtelang durchgemacht.
Kochend vor Wut baute Josh sich vor dem Fenster auf. »Mein
Problem
ist, dass sich mein kleiner Bruder da drinnen mit dir verwichstem Affen
amüsiert, obwohl er eigentlich pauken soll!!«
»Bitte was? Bruder?
« Martin zog die buschigen Brauen hoch. »Alter, hast du kein eigenes Leben? Kann dir doch schnurz sein, was Roi macht! Der ist ja wohl alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen!«
»Ja und immer noch blöd
genug, um so verlauste Typen wie dich
an sich ranzulassen!«
Bevor Martin dem ungebetenen Besucher seine Meinung vor die Füße schlotzen konnte, hörte man Rohan von hinten rufen: »Was ist denn los?«
Martin drehte sich um und antwortete: »Ach nichts. Dein beknackter Bruder steht nur hier vor meinem Fenster und blökt mich an, weil er was dagegen hat, dass du bei mir bist!«
Rohan dachte erst, er hätte sich verhört und ging zu seinem Kumpel, um sich selbst davon zu überzeugen. Als er Josh tatsächlich mit verschränkten Armen dastehen sah, den Fuß auf den Boden klopfend, entlockte ihm dessen Anblick ein höhnisches Grinsen. Er lehnte sich lasziv über den Sims und steckte sich eine Zigarette zwischen seine vollen Lippen, denn natürlich wusste er ganz genau, dass Josh es nach wie vor hasste, wenn er rauchte.
Rohans Heterochromie hatte sich in den letzten Jahren verstärkt: Sein linkes Auge war von sattem Grün zu einem stechenden Hellgrün mit gelblichen Einfärbungen geworden, sein rechtes blieb so gut wie schwarz. Seine langen, leicht verschwitzten Haare klebten ihm am nackten Oberkörper, sein Kajal war verschmiert und die sechs kleinen, silbernen Ohrringe funkelten in der schwindenden Sonne. Er sah Josh herablassend an, dann pustete er seinem Bruder den Rauch durch die warme Sommerabendluft mitten ins Gesicht.
»Was machst du hier schon wieder für ’nen Aufstand, hm?«
Josh ließ sich nichts anmerken, atmete einmal tief durch und ging näher ans Fenster heran, bis er direkt davor stand. Blitzschnell griff er nach oben, packte Rohans Pferdehaare und zog so ruckartig
daran, dass sein Bruder über die Brüstung rutschte und mit einem Aufschrei herausfiel. Mit dem blanken Hintern knallte er auf den immer noch heißen Bürgersteig und jaulte auf.
Als Josh bemerkte, dass sein Bruder splitterfasernackt war, stieg ihm augenblicklich die Schamesröte ins Gesicht. »Was ... Wieso hast du nichts
an???« Er hatte fest damit gerechnet, dass er zumindest eine Boxershorts trug. Nun sah er sich panisch um, doch die einzigen Menschen, die er sehen konnte, warum zum Glück weit weg.
Rohan jammerte leise und Martin starrte bloß völlig perplex aus dem Fenster auf seinen Sexpartner, der leicht benommen vom Boden aufstehen wollte. Da öffnete Josh kurzentschlossen sein Auto und beförderte ihn mit Schwung geradewegs auf die Rückbank.
»Schmeiß mir seine Klamotten runter!«, rief er Martin zu. »Sein Handy und den Rucksack auch!«
Mürrisch tat dieser, was von ihm verlangt wurde und schimpfte, als er die Sachen schließlich übergab. »Hier, du Spielverderber!«
Josh funkelte ihn feindlich an und zeigte ihm sogar noch seinen formschönen Mittelfinger, bevor er sich in sein Auto setzte. Dort warf er Rohan seine Kluft ins Gesicht und forderte barsch: »Zieh dich an!«
Wie ein übergroßer Nacktmull, der aus seinem Bau geplumpst war, realisierte Rohan nur langsam, was da eben geschehen war. Doch als es endlich Klick
machte, wurde er sauer.
»Sag mal, bist du bescheuert? Du hast mich da gerade voll zum Idioten gemacht!«
Josh grinste, während er mit quietschenden Reifen losfuhr und Richtung Stadtautobahn einbog. »Zum Glück waren alle Passanten zu weit weg, um was Genaueres zu sehen. Ich hoffe jedenfalls, dein Hintern tut von dem Sturz ordentlich weh!«
»Ja, tut er, danke
! Und was, wenn da gerade irgendwelche Glotzer an den Fenstern gestanden haben? Da waren doch überall Hochhäuser drumherum!«
»Na und? Du schämst dich sonst nie für irgendwas und frisch rasiert bist du auch, also kein Grund, sich zu genieren.« Josh zuckte nur mit den Achseln. »Und dein Stecher wird wohl inzwischen jeden Millimeter von dir kennen, oder?«
»Nein, mein Arschloch
kannte er nicht und er ist auch nicht mein Stecher
! Wir lutschen nur und zocken!«
»Wow. Welch sinnvoller Zeitvertreib.« Josh bereute es, gefragt zu haben, und hielt jetzt lieber den Mund, bevor er noch mehr Details aus dem Liebesleben seines Bruders erfahren musste. Rohan zog sich derweil mühsam seine Kleidung über und krabbelte dann nach vorn auf den Beifahrersitz.
»Würdest du mir freundlicherweise sagen, was das sollte? Du wusstest doch auch vorher schon, dass ich ab und zu mit dem Kerl schnorchle, verdammt! Wegen dir bekomme ich jetzt blaue Flecken am Arsch!«
Josh belächelte seinen empörten Bruder jedoch nur und antwortete gelassen: »Wärst du nicht so dreist gewesen, mir Rauch ins Gesicht zu blasen, hätte ich dich von alleine herauskommen lassen. Aber nein, der Herr musste mich ja provozieren und seine große Klappe aufreißen! Du weißt, ich kann es partout nicht ab, wenn du so -« Josh brach ab, als Rohans Hand plötzlich auf seinem Schritt landete. Er fummelte an seinem Reißverschluss herum und näherte sich seinem Schoß dann auch noch mit dem Mund. »Was zur Hölle tust du denn da schon wieder?«
»Halts Maul und guck auf die Straße!«, pflaumte ihn der Jüngere an. »Ich hab keinen Bock mehr auf deine andauernd schlechte Laune. Du musst einfach mal Druck ablassen.«
»Muss ich nicht!!!« Josh versuchte, sich gegen die Berührungen zu wehren, aber er konnte nur eine Hand benutzen und durfte den zunehmenden Verkehr nicht aus den Augen lassen, daher musste er die nächste Ausfahrt abwarten. Rohan biss schon ungeduldig in Joshs Hose und leckte durch die dünnen Boxershorts den immer härter werdenden Schwanz seiner Beute. »Roi, scheiße
, hör auf damit!!! Willst du, dass ich in die Leitplanke brettere?«
»Hör einfach auf dich zu wehren«, brummelte er von unten und massierte seine angespannten Eier.
Dann endlich kam eine Raststätte in Sicht. Josh bog keuchend ein und als das Auto stand, packte er Rohan am Kragen, zog ihn hoch und fauchte ihn an: »Hör sofort
auf!!!« Er bemerkte Rohans nicht unerhebliche Erektion unter dem dünnen Stoff seiner Hose, stieß ihn darauf ganz von sich und scheuerte ihm eine. »Was ist denn bloß in dich gefahren? Du kannst doch nicht einfach … mmmh
!!!«
Joshs Gezeter wurde durch einen Kuss auf seine vor Aufregung zitternden Lippen unterbrochen. Rohan hielt ihn am Nacken fest und begann, ihm seine Zunge in den Mund zu drücken. Josh war völlig geschockt und unfähig zu reagieren. Erneut spürte er Rohans Hand in seinem Schritt und hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden, sollte sich dies alles nicht als ein kleiner, böser Tagtraum herausstellen.
In den letzten Jahren hatte Rohan immer wieder versucht, ihn mit seiner sexuell lockeren Art zu vereinnahmen. Er wollte definitiv nicht, was er mit ihm tat, war aber gleichzeitig so untervögelt, dass es ihn immer mehr erregte. Schließlich war er auch nur ein Mensch und im Gegensatz zu Rohan lebte er enthaltsamer als ein Jungferngecko. Sein Körper reagierte einfach instinktiv und je intensiver er angeregt wurde, desto schneller schwanden seine Zweifel.
›Was ist schon dabei? So gesehen kenne ich ihn doch eh in- und auswendig.‹
Josh hatte Rohan als Kind die Nase geputzt, wenn er krank war, ihn mit Küssen getröstet, wenn er hinfiel und ihm die Haare gehalten, als er sich nach seinen ersten Alkoholgenüssen zu Hause halb tot gekotzt hatte. Was machte da schon so ein bisschen Blaserei?
Er steckte in einer Zwickmühle. Sollte er seinen Trieben und denen seines perversen
Halbbruders nachgeben oder versuchen, sich mit dem Wissen um die Tatsache, dass sie gerade so etwas wie Inzest betrieben, aus dieser beklemmenden Situation befreien?
Inzwischen hatte es Rohan geschafft, seine Zunge in Joshs Mund zu drücken, und bemerkte, dass dessen Widerstand langsam schwächer zu werden schien. In dem Moment, als er mit gierigen Lippen wieder nach unten wanderte, schaltete sich jedoch in Joshs Gehirn die Notbremse ein. Er packte Rohan mit beiden Händen an seinen langen, dicken Haaren und zog ihn mit aller Kraft von sich weg, kurz bevor sich dessen schlüpfrige Zunge doch noch unter seine Shorts verirren konnte.
»Es reicht jetzt!«, sagte er mit sehr strenger Stimme. »Hör auf, ich meine es ernst!«
»Ja ja, schon gut«, seufzte Rohan, gab sich geschlagen und ließ von ihm ab. »Du liebst mich halt nicht, hab’s verstanden.«
Josh verdrehte stöhnend die Augen und schloss dann erst mal
seinen vollgesabberten Reißverschluss. »Du weißt genau, dass ich dich liebe, aber nutz’ es nicht immer auf die
Art aus.«
Zuerst nickte Rohan scheinbar einsichtig, doch dann grinste er selbstgefällig und zwinkerte seinem Halbbruder zu. »Irgendwann wirst du mir nicht mehr widerstehen können, wart’s ab.«
»Du bist so ein selbstherrlicher Arsch!« Josh machte ein bedientes Gesicht und flüsterte dann wie zu sich selbst: »Echt unglaublich, was aus dir geworden ist. Dabei warst du -«
»So süß, als du noch klein warst. Bla bla bla
«, äffte ihn Rohan nach, denn den Satz kannte er bereits in- und auswendig. Josh pikste ihm in die Seite und trat dann die Kupplung, um weiterzufahren.
***
Bei ihrer Mutter angekommen, holte Josh das mitgebrachte Essen aus dem Kühlschrank, knallte die extra besorgten Infobroschüren sämtlicher Universitäten Berlins sowie einen fetten Ratgeber mit dem Titel Welches Studium passt zu mir? 19.000 Studiengänge auf einen Blick!
auf den Tisch und beschloss dann, wieder nach Hause zu fahren. Wenn dieser Wink mit dem Zaunpfahl nicht ausreichte, wusste er auch nicht mehr weiter, und eigentlich wollte er sich ja aus Rohans Zukunftsplänen gänzlich raushalten.
Mit den Worten »Schau dir die Sachen einfach mal durch und wenn du meinen Rat brauchst, ruf mich an!« verschwand er aus der Wohnung, doch schon als er an seinem Auto stand, übermannte ihn das lähmende Gefühl, dass sein Bruder mit all den Infos heillos überfordert sein würde.
›Wenn ich nicht dabeibleibe, wird er vermutlich nicht mal den Buchdeckel öffnen ... vielleicht fährt er sogar aus Frust wieder zu diesem Martin zurück! Er wird nichts gebacken bekommen, wenn ich nicht drängle! Rein gar nichts! Und irgendwann endet er als drogenabhängiger Stricher unter der Brücke, weil Ficken das Einzige ist, was er zu können glaubt!‹
Mit einem entschlossenen Schwung drehte er um, atmete tief durch und kehrte in sein ehemaliges Zuhause zurück.
›Nur kurz! Ein halbes Stündchen, mehr nicht! Ein winzig kleiner Arschtritt und dann gehe ich wieder!‹
Josh schloss die Tür auf und sah, obwohl sich Rohan erst wenige Minuten in der Wohnung befand, bereits ganz genau, wo er
langgelaufen war: schlammige Schuhabdrücke im Flur, die an den Stiefeln selbst endeten, dann folgten Mantel, Hemd und Hose - alles auf dem fleckigen PVC verteilt.
Josh stöhnte genervt, hob die Klamotten auf und knallte sie schließlich auf den Küchentisch, neben dem Rohan gerade sein Essen in der Mikrowelle warm zu machen versuchte.
»Wolltest du nicht gehen?«, fragte dieser beiläufig, ohne ihn anzusehen.
»Sei froh, dass ich wieder da bin! Ich war nur fünf Minuten weg und schon häutest du dich über den ganzen Fußboden wie eine Eidechse! Machst du das immer so? Du erkältest dich, wenn du den halben Tag nur in dünnen Shorts herumläufst!«
»Wir haben fast dreißig Grad draußen!« Rohan taxierte ihn kurz und zog die Augenbrauen hoch, während er weiter auf der piependen Mikrowelle herumtippte. »Außerdem kann ’s dir doch egal sein, wo ich meine Klamotten lasse, du wohnst doch jetzt eh in deinem schicken Studenten-WG-WohnheimDingsbums, was auch immer! Also: Hast du nichts Besseres zu tun?«
Josh achtete gar nicht auf seinen Bruder, sondern nur darauf, was dieser die ganze Zeit mit dem neuen Küchengerät ihrer Mutter anstellte. Rohan löschte immer wieder die Zeiteinstellung, drehte die Gradzahl auf Kohlebrikett und war beim nächsten Button irgendwie bei der Uhrzeit angelangt, die er auch noch verstellte. Außerdem hatte er das Programm auf das Symbol für Auftauen statt Erhitzen gestellt.
»Oh Mann, geh weg da
und lass mich das machen! Kann ja keiner mit ansehen!« Josh schob seinen Bruder unwirsch beiseite und wedelte ihn davon, ehe er das Gerät mit einem beherzten Zug am Stecker stilllegte, wieder anschloss und dann richtig einstellte. »Manchmal frage ich mich echt, wie du es überhaupt schaffst, dich morgens anzuziehen ... ach ja, meistens tust du es ja nicht!«
»Ha ha. Kann ich doch nichts für, wenn Mum sich dauernd irgendwelchen neuen Firlefanz aus dem Teleshopping bestellt, den kein Schwein versteht.« Rohan grummelte erst ein wenig trotzig, doch dann drehte er sich weg und holte etwas zu trinken aus dem Kühlschrank. »Willst du auch was?«
Josh nickte kurz und machte sich dann daran, Rohans Wäsche in
die Waschmaschine zu packen. Danach setzte er sich zu ihm aufs Sofa und trank einen Schluck von dem Wasser, das ihm sein Bruder reichte. Als er ihn ansah, bemerkte er diesen unterschwellig flehenden Blick, den er nur allzu gut von ihm kannte, und seufzte grinsend.
»Na los, komm schon her«, sagte er schließlich kapitulierend, hob den Arm und keine Sekunde später hatte sich Rohan seufzend an ihn gekuschelt. »Du bist wirklich ein Riesenbaby.« Josh kicherte, erhielt jedoch nur noch ein Brummeln zur Antwort und strich mit der Hand wie in Trance über Rohans Arm, bis dieser schwermütig seufzte.
»Wieso bist du nur noch so selten da? Ich vermisse dich echt ...«
»Ich dich auch, Zombie.« Die Worte seines Bruders schmerzten ihn mehr, als er zugeben wollte. »Es tut mir echt leid. Ich weiß, dass es mit Mum alleine schwer ist, aber ich muss eben sehr viel lernen.«
Rohan drückte sich enger an ihn. »Na ja. Es hat mich zwar überrascht, aber noch schlimmer ist es, wenn sie auch weg ist ... Erst dachte ich, es wäre cool, wegen sturmfreier Bude und so, aber in Wirklichkeit fühle ich mich einfach nur furchtbar alleingelassen.«
»Übernachtest du deswegen so oft irgendwo anders?« Josh sah ihn liebevoll an und Rohan nickte schließlich zögernd, weshalb er ihm einen Kuss auf die Stirn gab. »Hör zu, sobald die Semesterferien anfangen, bin ich wieder öfter bei dir, versprochen!« Rohan lächelte und schnurrte regelrecht, als Josh ihm den Nacken kraulte. »Sag mir doch einfach mal, was du dir für die Zukunft vorstellst. Wo willst du beruflich hin? Was würde dich interessieren?« Josh sah ihn bei dieser Frage neugierig an, doch Rohan zuckte nur mit den Schultern.
»Musik? ’Ne Band finden, die zu mir passt und -«
»Einen richtigen
Job meine ich!«, unterbrach ihn Josh stöhnend.
Rohan zog die Nase kraus und wurde bockig. »Keine Ahnung.«
»Oh Mann, dabei könntest du alles
machen!«
»Ach ja?«
»Ja und das weißt du auch genau!«, echauffierte sich der Ältere. »Du brauchtest dich doch noch nie lange hinzusetzen, um etwas Neues zu lernen! Dir fällt quasi alles in den Schoß, während andere sich die ganzen Ferien über mit dem Schulstoff herumplagen, wie die Ochsen büffeln und trotzdem ewig brauchen, bis sie die Dinge verstehen.«
»Beziehst du das auf dich?« Rohan grinste.
Josh zog ein leicht beleidigtes Gesicht und man erkannte sofort, dass diese Frage einen empfindlichen Nerv getroffen hatte. Von klein auf bekam er mit, wie sein drei Jahre jüngerer Bruder große, neue Komplexe in wenigen Minuten begriff, während er sich manchmal bis zu drei Stunden mit einem einzigen Gedicht hatte quälen müssen.
»Wie wäre es denn mit Medizin? Wir könnten zusammen eine Praxis aufmachen und -«
»Ja klar und die Erde ist eine Scheibe!« Rohan prustete los. »Mal ehrlich, ich und ein Medizinstudium? Bei meiner Spritzenphobie?«
»Dann überwindest du die eben endlich mal!!!« Er meinte es wirklich ernst, aber je länger er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien selbst ihm diese Option. »Wie wäre es mit Medieninformatik? Du könntest nach nur sechs Semestern deinen Abschluss machen und hättest in dem Bereich viele Möglichkeiten, die auch in deinem stark begrenzten
Interessengebiet liegen.«
»Ach ja? Und welche? Soll ich Fernsehmoderator
werden oder was? Guten Abend, hier kommt das Kackwetter für heute
...« Er lachte, aber zumindest blockte er es nicht völlig ab.
»Das nicht unbedingt, aber wie wär’s denn mit einem Job beim Radio? Da wärst du doch quasi an der Quelle der Musikverbreitung und könntest vielleicht auch deine Band ein bisschen pushen?«
Rohan hob nun doch interessiert den Kopf und überlegte. Diese Option schien ihm tatsächlich zuzusagen, aber dann zuckte er nur mit den Achseln. »Na ja, mal sehen.«
»Naargh!« Dieser Laut brachte Joshs Frustration auf den Punkt und er boxte ihm an die Schulter. »Könntest du bitte
endlich etwas gegen deinen inneren Schweinehund tun und den Arsch hochkriegen?! Du machst mich wahnsinnig!«
Rohan befreite sich ein Stück aus dem Arm seines Bruders und näherte sich dessen Gesicht bis auf wenige Zentimeter. Dann erwiderte er mit leicht verführerischem Blick: »Du könntest mir ja helfen, ihn zu überwinden!«
»Ach, ich geb’s auf!« Josh erhob sich seufzend, wand sich heraus und ging zur Küche, denn dort hatte vor Kurzem die Mikrowelle gepiept. Er stellte Rohan die dampfende Chinapfanne auf den
Wohnzimmertisch. »Hier, aber sei vorsichtig, sie ist ziemlich heiß.«
»Ist mir klar, Einstein!« Rohan grinste frech und schnappte sich die Gabel, die Josh neben den Teller gelegt hatte. »Mach dir mal keinen Kopp. Ich krieg das schon irgendwie hin.«
***
Josh übernachtete in der Wohnung ihrer gemeinsamen Mutter auf der Couch, nachdem er den Rest des Abends mit Putzen und Aufräumen verbracht hatte. Sein ehemaliges Zimmer war inzwischen eine Abstellkammer für Kartons und Zeug aus dem Keller, das zu feucht geworden war und dort trocknen sollte, weshalb der Raum keinen sehr angenehmen Geruch mehr verströmte. Nach dem Frühstück mit seinem Bruder ließ er sich von diesem versprechen, dass er sich die mitgebrachten Unterlagen anschauen würde, und erst dann fuhr er zurück in sein Studentenwohnheim. Dieses gehörte ebenfalls zur Universität und eine Unterkunft hier war deutlich bezahlbarer als eine vergleichbare Mietwohnung und somit begehrt.
Noch immer war sein regulärer Studienplan verkürzt, da bereits in dieser Woche einige Aufnahmeprüfungen für die Erstsemester verschiedener Studiengänge liefen. Sein bisheriger Mitbewohner Max war in diesem Jahr fertig geworden und so genoss er schon eine Weile die Ruhe des Alleinseins in seiner kleinen Zweier-WG.
Als er dort ankam, erledigte er nur einige Sachen, räumte den Geschirrspüler aus, ging dann in die Bibliothek zum Lernen und fuhr von da noch am späten Nachmittag zum Einkaufen. Zurück im Wohnheim schleppte er zwei volle Tüten in seine Unterkunft und schloss die Tür hinter sich, ehe er aufseufzte und seinen schmerzenden Rücken durchdrückte.
»Haaaah. Endlich geschafft! Jetzt nur noch einen Tee, ein schnelles Wurstbrot und dann ... ein bisschen lesen.«
Lauer Wind zog durch die weit geöffneten Fenster und die Sonne hüllte die Räume in ein warmes Licht. Die angenehme Stimmung wurde nur durch die wummernde Musik des Nachbarzimmers gestört, in dem zwei Partyhengste lebten, die permanent Besuch hatten. Josh hoffte inständig, dass sein zukünftiger Mitbewohner, der früher oder später ganz sicher kommen würde, kein Chaot ist, sondern ein ordentlicher, ruhiger, ausgeglichener Kerl, so wie Max es war. Vor allem sollte es jedoch kein Aufreißer sein, der dauernd
andere Leute mitbrachte oder ständig irgendwelche Sexorgien veranstaltete.
Josh betrat das kleine, gelb gestrichene Wohnzimmer, stellte die Einkaufstüten ab und wollte gerade seine Jacke ausziehen, als er ein Geräusch vernahm. Er schlich durch den Flur und hörte auf einmal deutliches Prasseln aus seiner Dusche.
»Oh ... sieh einer an. Das ging ja schneller als gedacht.« Anscheinend war sein neuer Mitbewohner bereits eingetroffen.
Ein wenig mulmig war Josh schon und natürlich war er auch aufgeregt, denjenigen kennenzulernen, schließlich war dies ja doch eine sehr persönliche, fast schon intime Angelegenheit. Vielleicht war es ja sogar ein hübsches Mädchen? Geschlechtertrennung gab es nicht und man konnte nahezu jeden zugeteilt bekommen, wenn man vorab keine Wünsche diesbezüglich geäußert hatte.
Auf die Beantwortung der Frage, mit wem er sich zukünftig seine Bude teilen würde, musste er jedoch noch etwas warten. Mit einem Blick in das ehemals leere Zimmer stellte er fest, dass dort unausgepackte Koffer standen, also schien der- oder diejenige erst kurz vor ihm angekommen zu sein. Um sich abzulenken und einen netten Empfang zu bereiten, machte er schließlich ein paar Schnittchen in der Küche, für sich und seinen neuen Wohngenossen ... oder Genossin. Je nachdem.
***
Als die Badtür endlich mit einem leisen Klicken aufging, platzte Josh beinahe vor Neugier. Es war bereits eine halbe Stunde vergangen, sodass er sich aufgrund dieser Tatsache inzwischen sicher war, eine Mitbewohnerin zu bekommen. Diese Annahme löste sich allerdings umgehend in Luft auf, als er einen muskulösen, eindeutig männlichen Körper erblickte, dessen schlanke Hüften sich beim Laufen ganz leicht hin und her bewegten. Ein viel zu kleines, weißes Handtuch bedeckte gerade so die Scham des Mannes, der nach unten sah, um sich den Stoff am Körper festzubinden. Außerdem hatte er ein zweites über den dunklen Haaren. Als er jedoch aufblickte, erfasste Josh ein zitterndes Beben.
Es war Rohan!
Seine nassen, langen Haare klebten ihm verführerisch an seinem makellosen Körper. Seine Beine, der muskulöse Oberkörper und sein
verflucht erotisches Gesicht glänzten nass. Josh war vollkommen überwältigt von diesem Anblick. Er hatte seinen Bruder ja früher oft nackt gesehen, aber meist huschte der dann nur schnell an ihm vorbei oder die Situation war, so wie am Vortag, nicht gerade entspannt. Jetzt allerdings stockte ihm beinahe der Atem und er starrte ihn völlig versunken an.
Der ihn umgebende Dampf, die kleinen Wasserperlen, unter denen sich eine leichte Gänsehaut bildete und dieser unglaublich verführerische Waschbrettbauch ...
Rohan war gerade dabei, sich seine Haare hinters Ohr zu klemmen, da erblickte er den perplex glotzenden Josh in der kleinen, offenen Küche und erschrak mit einem leichten Zusammenzucken. »Huch! Äh ... hi! Du bist ja schon da?«
Josh war viel zu verwirrt, um irgendetwas darauf zu erwidern oder zu fragen, wie Rohan überhaupt hereingekommen war und woher er wusste, in welcher WG er wohnte. Stattdessen ging er nur langsam, fast wie hypnotisiert, auf seinen Bruder zu, und ehe er realisierte, was er da tat, küsste er ihn.
Das Handtuch fiel zu Boden. Joshs Arme umschlangen den heißen Körper, der in diesem schwachen Moment so viel Begierde in ihm weckte. Er drückte Rohan an die Wand und presste sich gegen ihn. Seine Hose wurde von der nassen Haut durchweicht, doch in diesem Moment war ihm alles egal. Josh packte Rohans Arme und hob sie seitlich neben seinen Kopf, wo sich ihre Hände ineinander falteten. Seine Zunge tastete sich wie in Trance immer weiter in den Mund des so Überwältigten, während sein Unterleib gegen ihn drängte. Er spürte, wie sein Schwanz vor Verlangen pochte und sein ganzer Körper förmlich danach schrie, etwas Verbotenes zu tun, das er sicher bereuen würde.
Als er sich ganz kurz von Rohans weichem Mund löste, sah er in dessen einzigartige, leicht zusammengekniffene Augen und bemerkte, dass sein Gegenüber genauso erregt war wie er selbst. Natürlich. Immerhin rannte Josh mit seiner Begierde offene Türen ein und goss mit dieser Handlung eine ganze Tankladung Öl in Rohans Feuer.
»Ich liebe dich«, flüsterte dieser plötzlich und küsste ihn noch leidenschaftlicher zurück, sodass Josh die Träne nicht bemerkte, die
über Rohans Wange lief.
Gerade als sich die beiden zur Couch navigierten, hörten sie jedoch, wie jemand die Eingangstür öffnete. Schlagartig löste sich Rohan von seinem Bruder, schubste ihn auf das Sofa und band sich das Handtuch wieder um. Just in diesem Augenblick stand der kleine, pummelige Verwalter des Wohnheims vor ihnen.
»Schönen guten Tag, meine Herren! Entschuldigen Sie bitte, ich hatte geklopft, aber es schien niemand da zu sein, deshalb wollte ich die Unterlagen zumindest hier ablegen.«
»Guten Tag!« Josh und Rohan grüßten verlegen zurück und hofften inständig, dass er vom Geschehen nichts mitbekommen hatte.
»Wie es aussieht, haben Sie es sich schon ein wenig gemütlich gemacht!«, entgegnete der Störenfried und zeigte freudig auf Rohans nasse Haare. »Ich will Sie auch gar nicht allzu lange stören.« Nun sah er zu Josh hinüber, der geistesgegenwärtig über seinem feuchten, prallen Schoß eins seiner Bücher aufgeschlagen hatte, um ihn vor den Blicken des Mannes zu schützen. »Immer am Lernen, hm?«
»Ja, ja«, erwiderte Josh und beobachtete, wie der ihm bekannte Mann Rohan ein paar Blätter in die Hand drückte.
»Ich wollte Ihnen nur noch die versprochenen Kopien bringen. Die Erweiterung des Türschildes entfällt ja wegen des gemeinsamen Nachnamens. Das passt bei dem Geldmangel im Haushalt der Universität wunderbar.« Er lachte etwas kurzatmig. »Außerdem gibt es bei Ihnen beiden dann sicher weniger Sachbeschädigungen durch Streitereien, denn Brüder verstehen sich ja meist besser als Fremde, nicht wahr?«
Josh korrigierte hastig: »Halbbrüder!«, und der nette Herr lachte erneut.
»Ja, das dachte ich mir schon. Bis auf die Tatsache, dass Sie beide recht groß sind, sehen Sie sich ja nicht besonders ähnlich.« Sein Blick schwenkte wieder zu Rohan, dem er die Hand gab. »Na ja, also jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Und solange Sie sich an die Wohnheimregeln halten, kommen wir sicher alle gut miteinander klar.«
»Ja, ähm ... danke!«
Der Heimleiter schien zufrieden mit sich und der Welt und verließ die Unterkunft mit einer freundlichen Verabschiedung. Sobald er die
Tür hinter sich geschlossen hatte, wurde es still.
Josh blieb auf dem Sofa sitzen und verkrampfte sich zunehmend. Mal abgesehen davon, dass er immer noch nicht ganz verstand, wie Rohan aus dem Nichts bei ihm einziehen konnte, wurde ihm die Situation aufgrund seiner vorherigen Aktion so peinlich, dass er einfach aufstand und in sein Schlafzimmer verschwand.
Rohan lief ihm hinterher. Das Handtuch hatte er schon wieder abgeworfen, denn im Gegensatz zu Josh gab es bei ihm keine Gedankenreinigung
während dieser kurzen Unterbrechung, die ihn von ihrem eigentlichen Vorhaben abhielt. Er stand nackt an den Türrahmen gelehnt und betrachtete den auf seinem Bett sitzenden Josh, der das Gesicht in die Hände stützte.
»Machen wir jetzt weiter und weihen die Bude ein?«
Josh sah auf und sein Blick blieb auf Rohans Genitalien haften. Ja, er war ein Mann, ganz eindeutig, doch in der jetzigen Situation fand er den Anblick so abstoßend wie kaum etwas anderes.
Josh seufzte. Was war bloß in ihn gefahren? Natürlich liebte er seinen Bruder, aber die sexuelle Seite hatte er bisher fast vollständig ausgeblendet. Zumindest, solange er nüchtern war. Vielleicht lag es an dessen Annäherungsversuch vom Vortag? Jedenfalls war es falsch!
Rohan spürte die Unsicherheit seines Gegenübers, ließ jedoch nicht locker und trat auf ihn zu, ehe er sich mit den Händen auf Joshs Schenkeln abstützte und ihn langsam nach hinten drücken wollte. »Leg dich einfach hin ... und überlass alles mir, okay?«
Da fing Josh plötzlich an zu kichern. »Sorry Zombie, … aber du bist … total ... ungeil
!«
Rohan sah ihn empört an und verschränkte die Arme. »Wie jetzt? Das hast du eben aber noch ganz anders gesehen!«
Josh schob seinen Bruder von sich und stand auf, bevor er dessen Kopf tätschelte, als sei er ein kleiner Hund.
»Tut mir leid Roi, es war mein Fehler. Ich bin in letzter Zeit einfach sehr einsam gewesen und ... ach keine Ahnung. Du weißt doch selbst, dass du ein attraktiver Kerl bist, aber ich stehe halt nicht auf Männer! Außerdem bist du mein Bruder! Wenn wir es miteinander treiben würden ... stell dir das doch mal vor! Das wär total krank!« Er seufzte und ahnte nicht, wie sehr er Rohan gerade verletzte. »Es gibt
da so ein Mädchen in einem meiner Kurse, die macht mir schon lange und ziemlich auffällig schöne Augen. Vielleicht sollte ich einfach mal mit ihr ausgehen und schauen, wohin das führt. Das würde mich auch davon abhalten, auf so dämliche Ideen zu kommen.«
Rohan senkte den Blick. Brüsk schob er Joshs Hand von sich, die noch immer an seinem Gesicht ruhte, und wandte sich mit einem »Wenn du meinst« von ihm ab.
Josh taten diese abweisenden Worte selbst weh, doch er konnte nicht anders. Seine Gewissensbisse brachten ihn beinahe um, aber er durfte nicht zulassen, was gesellschaftlich so verpönt war. Schnell versuchte er, das Thema zu wechseln. »Wie hast du es eigentlich geschafft, dass dich der Verwalter hier hat einziehen lassen? Normalerweise dürfen doch nur Studenten -«
»Ich hab mich heute früh spontan für den scheiß Medieninformatik-Studiengang beworben, genau, wie du es wolltest«, fiel ihm Rohan ins Wort und streifte sich eine Boxershorts über. »Tja ... hab das Aufnahmeverfahren gemacht und dann gesagt, dass ich mit dir zusammenwohnen will. Bums aus. Keine Hexerei.«
Völlig verblüfft glotzte Josh ihn an. »Ernsthaft? Äh ... wow ... das ... hab ich nicht erwartet.« Zögernd trat er auf ihn zu und im selben Moment mischte sich etwas Neid in seine Freude, doch Letztere überwog. »Freut mich echt, dass du es geschafft hast ... aber ich verstehe irgendwie nicht, wie du einfach so die Aufnahmeprüfungen bestehen konntest, ohne dich darauf vorzubereiten?!«
»Informatik ist nicht Medizin, Josh! Die Aufnahme war rein formell! Ich hab in deinem komischen Buch ein paar Sachen darüber gelesen, während ich in der Bahn saß. Dann bin ich zur Uni und hab mich immatrikulieren lassen. Fertig.«
Ein wenig schockiert wusste Josh erst nicht, was er sagen sollte. Wie typisch für seinen Bruder, dass er eine so wichtige Entscheidung, die bestimmte, was er den Rest seines Lebens beruflich machen würde, einfach mal so zwischen Tür und Angel traf, während er sich beinahe sein ganzes Leben darauf vorbereitet hatte.
»Na gut, dann ... trotzdem
herzlichen Glückwunsch!«
»Ja, ja. Geschenkt!«, kam die frostige Antwort.
»Willst du was essen? Ich hab ein paar Brote geschmiert.«
»Nein!«
»Okay, dann ... soll ich dir beim restlichen Auspacken helfen?«
»Nein
! Ich bin kein Kind mehr, verdammt! Lass mich in Ruhe!« Sichtlich genervt verschwand Rohan in sein neues Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Josh stand da wie ein begossener Pudel. Sein Bruder war ja schon immer schnell beleidigt und dann so abweisend wie eben, doch es versetzte ihm jedes Mal aufs Neue einen Stich ins Herz. Gerade als er sich in Gedanken darüber verlor, klopfte es an der Tür und er wischte sich kurz übers Gesicht, ehe er sie öffnen ging.
Davor stand Dana, eine Kommilitonin und ausgerechnet das Mädchen, von dem er eben gesprochen hatte. Sie war eine hübsche, neunzehnjährige Studentin mit hellbraunen, langen Haaren. Sie trug ein weißes Sommerkleid und strich sich schüchtern eine Strähne hinters Ohr, ehe sie die Hand hob.
»Hi Joshua«, sagte sie zögerlich und reichte ihm ein paar Unterlagen. »Ich wollte dir nur die Kursplanänderungen bringen. Du hast sie gestern nach der Studentenratsbesprechung liegen lassen.«
»Oh, danke dir. Ich bin so ein Schussel.« Josh nahm die Papiere, von der plötzlich sehr glücklich lächelnden Mitstudentin. Noch nicht lange im Amt, vergaß er immer wieder, dass er alle Aufzeichnungen vom Studentenrat in Kopie bekam. »Ähm ... willst du kurz reinkommen? Auf eine Tasse Tee oder so.«
»Gern.« Dana nickte, ging an ihm vorbei und setzte sich auf die beigefarbene Couch.
Josh mochte sie. Die junge Frau war ruhig, zurückhaltend und intelligent, ja sogar eine der Besten in ihren gemeinsamen Kursen. Außerdem war sie eine wirklich niedliche, zarte Person, die sich nie arrogant aufführte.
Die beiden plauderten ein wenig, wobei Josh gleich erwähnte, dass er nun zukünftig mit seinem Bruder in der WG zusammenwohnen würde, und in diesem Moment kam Rohan auch wie bestellt aus seinem neuen Zimmer.
Zum Glück hatte er sich inzwischen vollständig angezogen, wenn auch recht liederlich: schwarze Lederhose, halb offenes Hemd, eine zerrissene Lederweste. Es fehlten nur noch seine Stahlkappenstiefel, die er im Flur abgestellt hatte. Bevor er dorthin verschwinden
konnte, sprang Josh auf und hielt ihn kurz am Hemdärmel fest, um die beiden einander vorzustellen.
»Dana, das ist mein jüngerer Bruder, Roi. Roi, das ist Dana. Wir kennen uns aus einigen meiner Kurse. Sie studiert ebenfalls Humanmedizin.«
»Hallo! Freut mich!« Sie erhob sich und reichte Rohan die Hand, der aber sah sie nicht mal an.
»Sorry, ich steh’ nicht auf Frauen!«, raunte er ihr zu, ehe er sich losriss und zur Tür weiterging.
»Äh ... entschuldige bitte!« Josh ließ das verdutzte Mädchen ebenfalls zurück und lief ihm hinterher. »Was sollte das denn gerade? Kannst du ihr nicht einfach normal die Hand geben und freundlich sein? Außerdem muss doch nicht gleich jeder wissen, dass du -«
Rohan unterbrach ihn: »Dass ich mit Männern ficke
, was du ja so krank und verwerflich findest?«
Geschockt starrte Josh ihn an. »Nein ich ... so hab ich das doch gar nicht gemeint!« Aber sein Bruder schubste ihn nur weg.
»Halt einfach die Klappe und verzieh dich zu deiner Tussi, du Heuchler!«, zischte er leise, schlüpfte rasch in seine Stiefel, nahm seinen Mantel und knallte die Wohnungstür hinter sich zu.
Josh schluckte schwer und ging dann verstört zu Dana zurück. »Ähm ... ich ... tut mir leid, dass du das mitbekommen hast«, entschuldigte er sich gleich, doch sie lächelte nur und strich mit der Hand über seinen Rücken.
»Ihr versteht euch wohl gerade nicht so gut?«, fragte sie verständnisvoll und Josh seufzte. Die Situation war ihm unangenehm, doch er fühlte sich in ihrer Nähe irgendwie wohl.
»Na ja, er war schon immer sehr schwierig.«
Da lachte sie. »Das glaub ich dir sofort! Und obwohl ihr Brüder seid, unterscheidet ihr euch offenbar wirklich sehr, nicht nur im Äußeren.«
Josh lächelte gequält. »Ja, wir haben verschiedene Väter, die wir beide nicht kennen, aber ich denke, seiner wird doch etwas spezieller gewesen sein.«
»Wahrscheinlich«, gab sie grinsend zurück und errötete plötzlich, während sie seine Hand nahm. »Dafür war deiner offenbar ein sehr attraktiver, intelligenter Mann ...«
***
Dana blieb noch mehrere Stunden und ging auch dann nur schweren Herzens, als ihre Mitbewohnerin sie verzweifelt anrief, weil sie ihren Schlüssel vergessen hatte. Josh hatte sich noch niemals im Leben so lange mit einem Mädchen unterhalten, doch ihre Gespräche waren angenehm und locker, weshalb er es spürbar genoss, mit ihr zu reden, auch wenn er ständig an seinen Bruder denken musste.
Bis zum späten Abend ließ sich Rohan nicht mehr blicken. Der Kerl stellte noch immer Dinge an, die nicht dem IQ eines Volljährigen entsprachen, weshalb sich Josh große Sorgen machte. Er versuchte einige Male, ihn anzurufen, aber Rohan ging nicht ans Handy, und so legte er sich ins Bett, wenn auch mit einem sehr unguten Gefühl.
Irgendwann, mitten in der Nacht, hörte er das Klicken der Tür. Es polterte jemand herein, Sachen raschelten und fielen zu Boden. Das konnte nur Rohan, die sich häutende Eidechse sein. Kurz darauf schmiegte sich ein kühler Körper zitternd an ihn. Josh atmete auf, ertastete erleichtert das Gesicht seines geliebten Chaoten hinter seiner Schulter und bemerkte, dass die Kleidung, die er noch trug, völlig durchnässt war.
»Roi, du bist ja klatschnass?«, hauchte er ihm zu.
»Bin draußen rumgelaufen«, grollte es von hinten. »Hat geregnet.«
»Ach Zombie.« Josh kicherte leise und patschte ihm auf die Wange. »Du bist und bleibst unmöglich!«
Rohan schnaufte nur ein brummiges »Hrmpf«, sonst schwieg er.
Josh drehte sich um und stupste mit seiner Nase an die seines Bruders. »Zieh dich aus, du erkältest dich sonst«, forderte er ihn fürsorglich auf.
Wortlos erhob sich Rohan, folgte brav der Anweisung und drückte sich dann, nur mit seiner Unterhose bekleidet, wieder an seinen Halbbruder. Er hielt ihn so fest, als hätte er Angst, von einer Klippe zu stürzen, doch das machte Josh nichts aus. Im Gegenteil. Eine unendliche Ruhe stieg in ihm auf und innerhalb von Sekunden konnte er einschlafen.
Alles war wie früher. Zumindest glaubte er das.